Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 32
»Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird«
ОглавлениеWenn auch Frisch jede Politik aus der Literatur fernhielt, so beschäftigten ihn doch die höchst dramatischen Zeitereignisse. Im Frühjahr 1940 überrannte die deutsche Wehrmacht Dänemark, Holland, Norwegen, im Juni kapitulierte Frankreich. Die Schweiz war nun ganz von faschistisch beherrschten Ländern umgeben, und Frisch rechnete, wie so viele andere auch, mit dem Sieg des Faschismus in ganz Europa. Am 17. Juni schrieb er unter dem Eindruck der französischen Kapitulation an Käte: »Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird. Das Denken an Frankreich, so unbekannt es mir ja ist, erfüllt mich mit Schmerz. England – England ist märchenhaft. Jetzt, wo man weiß, wie sie diesen Krieg in Sachen Mannschaft u. Ausrüstung begonnen haben, ist das deutsche Vorrücken kein Wunder; es ist, um sportlich zu reden, verdient. Warum hat man den Deutschen nicht geglaubt? Weil es unbequem war; weil es Geld gekostet hätte. England – England, das Reich des Geldes! Jetzt ist es zu spät, und es ist um ein solches Land nicht schade – im Gegensatz zu Frankreich – Wie aber wird das deutsche Europa aussehen? Ich verbrauche ganze Morgen, ganze Abende, um zu denken und nichts zu sehen. Wir, noch immer unheimlich verschont – von Italiens Gnade und Bedürfnis lebend – hängen nun überhaupt in der Luft. Wir werden, das ist das Bitterste, überhaupt nicht mehr zum Kampf kommen; unser Schicksal, so oder so, vollzieht sich über uns hinweg –«.186
Der deutsche Sieg ist »verdient«, um England ist es »nicht schade«, und »unser Schicksal vollzieht sich über uns hinweg«. Frisch war weder deutschfreundlich noch defätistisch; er sprach in diesem Brief bloß aus, was viele dachten: Der Einmarsch der Deutschen kommt bestimmt, und damit wird die Frage nach »Anpassung oder Widerstand« zur Existenzfrage. Die Landesregierung zwang die Presse zu höchster Zurückhaltung, um jeden Konflikt – und damit jeden Vorwand zum Einmarsch – zu vermeiden.187 Grenzübertritte und der Aufenthalt von Flüchtlingen in der Schweiz – ein Dauerstreit mit dem deutschen Reich – wurden weiter erschwert. Staatssekretär von Weizsäcker, Vater des nachmaligen deutschen Bundespräsidenten, forderte unverblümt, die Schweiz möge sich verhalten wie das Edelweiß am Felsen, »das in die Welt hinausstrahlt, ohne andere zu behelligen«.188
Anpasserisch bis zur Subordination reagierte auch die politische Führung. Drei Tage nach Frankreichs Kapitulation hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz seine berüchtigte Radioansprache, in der er sich zur faschistischen Neuordnung Europas bekannte. Für die bisherige Politik der Neutralität gegenüber allen kriegführenden Staaten gebe es jetzt keinen Grund mehr. »Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen.«189 Im September empfing er eine Delegation wichtiger Schweizer Faschisten, im November erfolgte die berüchtigte »Eingabe der Zweihundert«: Zweihundert führende Schweizer aus Wirtschaft, Bildung und Politik verlangten offen eine Angleichung an die Achsenmächte. Die Armeeführung war bis in die Spitze gespalten. Deutschfreundliche Generalstabsoffiziere versuchten den antideutsch eingestellten General Guisan zu entmachten und die Schweizer Armee zu demobilisieren. Guisan konterte mit einer neuen Verteidigungsstrategie, dem Réduit190 , und dem legendären Rütlirapport. Gleichzeitig verstärkte man die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Achsenmächten. De facto war die Schweiz ab Ende 1940 ein Teil des deutschen Wirtschaftsraums. Sie wurde der wichtigste Umschlagplatz des Reichs für Devisen und Gold – auch von Raubgold.191 »Sechs Tage in der Woche arbeiten die Schweizer für Hitler, und am Sonntag beten sie für seinen Untergang«, hieß der Witz der Zeit.
Der Anpassungsdruck erzeugte allerdings auch Gegendruck. Humanitäre Organisationen und Gewerkschaften mobilisierten zum Widerstand und gründeten antifaschistische Bewegungen. Zahlreiche Flüchtlingsorganisationen traten in Erscheinung. »Der große Teil der Bevölkerung, auch der Politiker, war in jener Zeit eindeutig antifaschistisch eingestellt. Zweifelhaft war die Haltung verschiedener Herren in den Chefetagen der Industrie, der Banken, der Politik und auch der Armeeführung«, so Hans Mayer, der in jener Zeit als Flüchtling in der Schweiz lebte.192