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»Ich habe versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«

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Im Sommer 1940 erwarb Frisch während eines Diensturlaubs sein Diplom als Architekt. Das erste Ziel, der bürgerliche Beruf, war erreicht. In einem Architekturbüro in Baden, später bei seinem Lehrer William Dunkel, fand er erste Anstellungen. Mit dreißig Jahren verließ er 1941 erstmals den mütterlichen Herd und bezog eine eigene Wohnung. »Ich bin dreißig und habe endlich einen Brotberuf, ein Diplom, ich bin dankbar, daß ich eine Stelle habe: acht bis zwölf und eins bis fünf. Ich kann heiraten … Ich bin nicht mehr Student und nicht mehr Schriftsteller, ich gehöre zur Mehrheit.«193

Die Frau, die Frisch 1942 heiratete, war »eine junge Architektin, die mir am Reißbrett half und das Mittagessen richtete«,194 so Frischs recht nüchterne Beschreibung seiner Frau sechs Jahre nach der Hochzeit. Sie hieß Gertrude Anna Constance von Meyenburg, genannt Trudy, und war eine erstklassige Partie für den sozialen Aufsteiger. Die von Meyenburgs, ein reiches und adliges Schaffhauser Geschlecht mit weitverzweigten verwandtschaftlichen Verbindungen zum Berner und Zürcher Patriziat, seit 1706 Reichsritter des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, besaßen außer Fabrikbeteiligungen, Immobilien und Bauland unter anderem das Gut »Schipfe« in Herrliberg mit eigenem Clevner Weinbau. Goethe hatte im September 1797 dort ebenso zu Gast geweilt wie Winston Churchill nach seiner berühmten Zürcher Universitätsrede im Jahr 1946. Während des Krieges dirigierten, musizierten und sangen internationale Berühmtheiten im großen Festsaal.195 Man hatte Geld und Kultur. Constances Großvater, Victor von Meyenburg, war als Bildhauer selber künstlerisch tätig gewesen. Sein Minnesänger Hadlaub ziert noch heute den Zürcher Platzspitz. Das jüngste seiner elf Kinder, Hanns von Meyenburg, der Vater der Braut, hatte als Pathologe Karriere gemacht, wurde Professor und Institutsdirektor an der Universität Zürich und amtete dort zwei Jahre lang als Rektor. Das neue pathologische Institutsgebäude ist im wesentlichen sein Werk. Seine Zugehörigkeit zum Corps Tigurinia und zur Münchner Franconia trug ihm die Standeszierde eines backenbreiten Schmisses ein. Er hatte eine Frau aus der Textilindustriellenfamilie Weber geheiratet und während des Kriegs billiges Gutsland erworben, welches, in Bauland umgewandelt, ihm beim Verkauf ein Vermögen abwarf. Die Legende, er habe sich von seinen Kindern siezen lassen, ist, so Trudy von Meyenburg, erfunden.196

Am 30. Juli 1942 heirateten Max und Gertrude Anna Constance. Die Hochzeit war aristokratisch mit Frack, Schleppe und weißen Handschuhen. Die Zürcher Gesellschaft gab sich die Ehre. Werner Coninx und Rolf Hässig, ein Architekturkollege, waren die Trauzeugen. Das junge Paar bezog an der Zollikerstraße 265, in einem guten Quartier am unteren Zürichberg, eine bescheidene, doch standesgemäße Wohnung. »Ich habe damals versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«, erinnerte sich Frisch Jahrzehnte später.197


Hochzeit mit Gertrude Anna Constance von Meyenburg am 30. Juli 1942.

Frisch hat sich vehement gegen den Vorwurf gewehrt, er habe seine Frau aus Berechnung, nicht aus Liebe geheiratet.198 Aber er gestand auch einem Freund und Kollegen: »Beim ersten Kuß wußte ich, daß das nicht die richtige Frau für mich war. Aber ich habe sie geheiratet. Drei Kinder haben wir gemacht und zwanzig Jahre zusammengelebt.«199 Liebe und Berechnung sind zwar unterschiedliche, nicht aber notwendigerweise gegensätzliche Empfindungen. Hannes Trösch, Frischs engster Mitarbeiter von 1947 bis 1955, und auch Käte Rubensohn beurteilten die Ehe übereinstimmend als eine große Liebe von seiten der Frau, weniger von seiten des Mannes.200 Frisch hatte während der Ehe zahlreiche Freundinnen. »Er hat es in der Ehe und der Bürgerlichkeit anders gar nicht ausgehalten«, so Hannes Trösch. An diesem Verhalten sei schließlich die Ehe gescheitert.201 Trudy Frisch-von Meyenburg hingegen vermutete eine Charakterprägung: Die prickelnde Lust, unbelastet von Vergangenheit und Folgen neue Frauen kennenzulernen, habe ihn immer wieder zu neuen Liebschaften getrieben, eine Lust, die ja auch in Santa Cruz und in Bin beschrieben sei. Er habe es genossen und gebraucht, daß ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil wurde, sie als Mutter habe sich um die Kinder kümmern müssen und daher nicht unbeschränkt für ihn da sein können.202 Entgegen seinen Selbstaussagen sei Frisch nicht wirklich bemüht gewesen, als Bürger »eifrig« zu sein, sondern habe – innerlich voll Skepsis und Fluchtbereitschaft – mit der gutbürgerlichen Hochzeit eine Lebensform übernommen, die nie wirklich die seine geworden sei. Dazu gehörte auch, daß er sich weder in der Kleidung noch im Auftreten um einen bürgerlichen Habitus bemühte, sondern sich weiterhin primär als Künstler verstand, der einen Großteil seiner Zeit mit Schreiben verbrachte. Trösch berichtete, Frisch habe in seiner Architektenzeit mehr mit Schreiben als mit Bauen verdient; was nicht bedeute, daß die Schriftstellerei ihm viel eingebracht habe, eher: die Architektur sehr wenig. »Wir hatten damals alle kein Geld, auch Frisch nicht.«203 Die literarische Produktion der Jahre 1941 und 1942 ist nicht umfangreich: Frisch leistete Aktivdienst und baute zusammen mit Trudy ein Einfamilienhaus für seinen Bruder Franz Bruno in Arlesheim (siehe S.214). Nebenbei verfaßte er weiterhin Zeitungsbeiträge und schrieb an einem neuen Roman.

Zwei Rezensionen sind besonders interessant, denn sie zeigen den Beginn einer poetischen Umorientierung. Im ersten Text begreift Frisch Dichtung noch ganz traditionell als Selbstevokation der Dinge durch Sprache: »Echt dichterisch« sei es, die Dinge nicht zu schildern, sondern selber zum Sprechen zu bringen: »Worte wölken sich auf, schwebende Gebirge«, man spüre die »Wäßrigkeit des Wassers« usw. Im zweiten Text hingegen wurde der Ansatz differenziert und leicht verschoben. Dichtung, so hieß es nun, sei das »Schaubarwerden des Unsäglichen«,204 das Unsägliche aber könne nur durch Gestaltung schaubar gemacht werden.205 Hier erschien in nuce erstmals der Gedanke, daß die Wahrheit der Dinge unsagbar sei und also durch Sprache nicht direkt evoziert werden könne. Einige Jahre später dachte Frisch diesen Gedanken zu Ende und faßte ihn in die bekannte Formel: »Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.«206 Sprache bringt das Wesen der Dinge nicht mehr zum Klingen, sondern umstellt es, bis es als Aussparung spürbar wird.207

Im Oktober 1941 wanderten Frisch und Constance über den Pfannenstiel. Sie sollte die Landschaft Zollingers kennenlernen. In einem Wirtshaus kam es beim Sauser zufällig zu einer ersten Begegnung mit dem verehrten Dichter. »Ich zögerte lange, ihn anzusprechen, in der Angst, man hätte sich nichts zu sagen. Die Herzlichkeit seiner Begrüßung, auch seinerseits ein Gefühl von der Liebenswürdigkeit des Zufalles, daß man sich gerade hier zum ersten Mal begegnet, ergibt alles weitere.«208 Die beiden verabredeten sich auf bald, doch kurz darauf starb Zollinger, erst 46 Jahre alt. Frisch schrieb ihm in der Neuen Schweizer Rundschau vom November 1941 einen Nachruf, worin er vor allem Zollingers poetische Fähigkeiten herausstrich. Interessanter als dieser Nekrolog war der Text Albin Zollinger als Erzähler, den Frisch zum ersten Todestag Zollingers für die Neue Schweizer Rundschau verfaßte.209 Noch einmal versammelte er alle Kernsätze früherer Zollinger-Rezensionen, dann aber schlug er neue, politisch radikale Töne an: »Albin Zollinger ist … Sohn eines Volkes, das er gefährdet sieht, in der Überschätzung seines äußeren Friedens geistig zu vergrasen«, und Zollinger sei eines der wenigen Ereignisse, die »unseren Frieden einmal im Geistigen aufzuwiegen haben, während das Abendland sich in Schlachten verblutet«.210

In größter Verkürzung wird hier ein Gedanke angesprochen, der zum Propagandainventar der Aggressoren gehörte: Wer das Leben im Frieden zu hoch bewertet, läuft Gefahr, geistig zu verkümmern (wie das grasende Vieh). Solche Sätze mögen als politische Geschmacklosigkeiten passieren. Wenn aber Frisch kurz vor der Stalingradwende – die deutschen Truppen sind noch im Vormarsch – die national-sozialistische Aggression als »Durchbruch in die Befreiung des lebendigen Triebes und der Tat«211 beschrieb, so legt das zumindest den Verdacht der politischen Desorientiertheit eines Intellektuellen nahe, der seit der Kapitulation Frankreichs mit dem faschistischen Endsieg rechnete.

Dazu passen Desorientierungen auch auf anderen Gebieten: »Ein großer Wurf«, urteilte Frisch über A.J. Weltis Roman Wenn Puritaner jung sind und erzählte die Geschichte: Sie handelt von Erna, einer »Lehrerin und Suffragette, die aus Verklemmung und Dünkel ihre Jugend verpaßte, um schließlich und endlich einem Jazzsänger, einem Nigger, anheimzufallen«.212 Im Klartext: Eine intellektuelle Frau ist verklemmt, das heißt sie klemmt die Beine zusammen, wenn ein Mann sie ›entklemmen‹ will, bis sie schließlich verblüht ist und zur Strafe von einem Night-Club-Nigger aufs Kreuz gelegt wird. Ein »einfallsreiches Buch«, befand Frisch.213

Frischs Erinnerung an Zollinger erschien, wie erwähnt, in der Neuen Schweizer Rundschau. In der NZZ wäre der Text mit dieser offen prodeutschen Äußerung in dieser Zeit kaum mehr angenommen worden. Korrodi legte Wert auf Dezenz, und Bretscher wie Müller, der Chefredaktor wie der Leiter »Ausland« hatten ein genaues Auge auf die politische Tendenz der Texte. Alfred Cattani berichtete, Albert Müller habe ab und zu Sätze aus Frisch-Beiträgen gestrichen, weil sie ihm zu deutschfreundlich waren.214

Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991

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