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Die Mauer

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Am 13. August 1961 wurde ich am frühen Morgen von meiner Pflegemutter geweckt.

»Kind, steh auf und fahr mit Reni ins Heim, die Grenzen werden zugemacht!«

Wir hatten bei einer Verwandten meiner Pflegemutter übernachtet, um den Geburtstag der Tante zu feiern. Reni, die Tochter der Tante, packte einige Sachen, nahm mich an der Hand und zog mich durch die Straßen zur S-Bahn. Überall sah ich viele Menschen, auf dem Bahnhof standen Polizeibeamte.

Die Polizisten hielten uns an. »Wo wollt ihr hin?«

»Die Kleine ist aus einem Heim in Ost-Berlin«, sagte Reni. Sie ließen uns gehen. Reni erklärte mir, ab welchem Bahnhof ich allein weiterfahren musste. Ich bekam Angst, dass ich mich verfahren könnte, und fing an zu weinen. Reni fand eine Frau im Zug, die bis Schöneweide fuhr und sich bereit erklärte, mich zu begleiten. Im Abteil redeten die Leute aufgeregt durcheinander, es fiel immer das Wort »Mauer«.

Ich verstand nicht, um was es ging, ich wollte nur schnell ins Heim zurück. Reni verabschiedete sich, die alte Dame versuchte, mich zu trösten. Dabei bemerkte ich, dass sie nur wissen wollte, weshalb ich im Heim war. Gespannt sahen nun die Leute im Abteil auf mich, für einen Moment schien ich wichtiger zu sein als die Mauer. Als sie jedoch merkten, dass ich nicht antwortete, redeten sie weiter. Ich schämte mich schrecklich, wenn mich Leute so mitleidig ansahen, und hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als den Fremden eine Antwort zu geben.

Die Alte tätschelte meine Wangen und sagte: »Armes Kindchen, Zeiten sind das! Wo soll das nur alles hinführen!«

Ich war erleichtert, als wir in den Bahnhof Schöneweide einfuhren, und verließ schnell den Zug.

Im Heim herrschte die gleiche Aufregung wie auf den Straßen. Die Erzieherinnen sahen verheult aus, größere Kinder mussten auf uns aufpassen. In den folgenden Tagen trafen viele neue Kinder ein. Eines Nachts wachte ich auf und hörte in der Dunkelheit ein Mädchen weinen. Leise stand ich auf und ging zu ihr ans Bett. Ich streichelte sie und redete tröstend auf sie ein. Ihre Eltern waren übers Dach nach West-Berlin abgehauen, als sie in der Schule war. Durch lustige Geschichten aus dem Heim versuchte ich sie aufzuheitern, sie beruhigte sich ein bisschen und schlief ein. Ich ging in mein Bett zurück und überlegte, was es so für Eltern gab, die ihre Kinder einfach im Stich ließen. Die Neuen kamen aus Familien, sie erzählten von Mutter und Vater, das fand ich interessant.

Ein Mädchen hatte ein Kofferradio, damit hörten wir den Suchdienst vom Deutschen Roten Kreuz. Ein anderes Mädchen hielt Wache an der Tür und warnte uns, wenn ein Erzieher kam. Dicht zusammengedrängt hockten wir um das kleine Radio und versuchten, trotz der schnarrenden Töne etwas zu verstehen. Aber wir lauschten vergeblich, denn es wurden nur Kinder gesucht, die während des Krieges verlorengegangen waren. Trotzdem hoffte jede, ihren Namen zu hören; auch ich glaubte, dass mich meine Mutter suchen ließ. Ich galt zwar als Waisenkind, wusste aber, dass meine Mutter lebte. Deswegen konnte ich nicht adoptiert werden und hatte nur Pflegeeltern. Mein Bruder sagte es mir einmal; woher er es hatte, wusste ich leider nicht mehr.

Bis 1961 waren im Heim Kinder, die ihre Eltern im Krieg oder auf der Flucht verloren hatten, also wirkliche Waisen, und außerdem Flüchtlingskinder vom Volksaufstand 1953. Danach füllten sich die Gruppen mit Kindern, deren Eltern in den Westen gegangen waren und sie einfach zurückgelassen hatten. In meiner Gruppe und der gesamten Klasse kannte kaum ein Kind seine Eltern.

Tina, die Neue, die nachts weinte, war sehr nett. Erst wollte sie ohne ihre Eltern nicht mehr leben, das machte mich sehr traurig. So schlimm fand ich es im Heim gar nicht. Oft saßen wir zusammen und redeten miteinander über ihre Familie. Dabei sah sie so glücklich und traurig zugleich aus, sie liebte ihre Eltern sehr. Aber ob es sich umgekehrt genauso verhielt, bezweifelte ich. Hätten sie sonst Tina verlassen? Meine Gedanken behielt ich für mich. Wenn ich Tina beim Erzählen zuhörte, wünschte ich mir auch ein richtiges Zuhause mit Vater und Mutter. Weil ich nicht wollte, dass sie länger traurig war, machte ich ihr den Vorschlag, zusammen mit ihr zu ihrem Bruder zu fahren.

Er war schon erwachsen und wohnte in der Gleimstraße, im letzten Hauseingang direkt an der Mauer. Hier sah ich die Schicksalsmauer, von der ich so viel gehört hatte, zum ersten Mal richtig. Sie trennte Berlin in zwei Stadtteile und damit ganze Familien, Freunde und Bekannte und auch Kinder von ihren Eltern. Weshalb und warum, ich wusste es nicht.

In der Schule bemühten sich die Lehrer, auf unsere Fragen eine Antwort zu finden. Sie erzählten immer wieder, dass sich im Westen alte Nazis versteckt hielten und dass die Menschen dort Feinde unseres Landes seien. Die Kapitalisten wollten uns nur ausbeuten und uns alles wegnehmen. Wir Zehnjährigen glaubten daran.

Die Mauer war noch nicht sehr hoch. Sie trennte einfach die Straße und zog sich durch einen Park mit einem Spielplatz. Wir gingen oft zum Schaukeln dorthin. Soweit ich sehen konnte, nahm die Mauer auch hier kein Ende.

Ich sagte gerade zu Tina: »Pass mal auf, deine Eltern werden dich bestimmt rüberholen«, als es plötzlich einen lauten Knall gab und sich stark beißender Rauch bildete. Wir sahen, wie Männer auf einen Baum kletterten und sich von den Ästen, die über die Mauer hingen, in den Westteil fallen ließen. Der Lärm wurde schlimmer, ebenso der Rauch. Ich dachte: Jetzt ist Krieg!

So schnell wir konnten, rannten wir zur Wohnung des Bruders. Auf der Straße begegneten uns Lastwagen, vollbesetzt mit Soldaten. Leute, die vorher noch friedlich an der Mauer gestanden und sich Grüße zugerufen oder mit Taschentüchern gewinkt hatten, liefen wie gehetzt davon. Dabei schrien oder heulten sie, jeder versuchte, sich in einen Hausgang zu retten.

Ich zitterte am ganzen Körper und weinte vor Angst. Von Haustür zu Haustür rannten wir längs der Mauer, wir wollten uns bei Tinas Bruder in Sicherheit bringen. Mir liefen die Tränen, ich konnte fast nichts mehr sehen.

Im Treppenhaus kam uns der Bruder entgegen. »Wo seid ihr gewesen?«, fragte er besorgt und erregt.

Unter Tränen erzählten wir, was auf der Straße los war. Er schob uns in die Wohnung.

An der Tür hielt ihn seine Frau mit den Worten zurück: »Bist du verrückt, geh nicht runter, die nehmen dich doch gleich mit.«

Der Krach ließ nach, wir beruhigten uns und hörten, wie der Bruder mit dem Nachbarn auf der Treppe darüber sprach, dass Leute von drüben Tränengas geschossen hätten, um den Ost-Berlinern das Abhauen zu erleichtern.

Als ich im Heim davon erzählte, fanden es die Mädchen aufregend und spannend.

Die nächsten Wochen durfte allerdings kein Kind das Heim verlassen. Der Wald war wegen der Grenznähe mit Soldaten besetzt. Regelmäßig versorgten sie sich im Heim mit Wasser, das sie in riesigen Kübelwagen holten. Am Heimtor hielten ältere Schüler in FDJ-Kleidung Wache. Ohne Kontrolle kam keiner herein und schon gar nicht hinaus. Die Begründung lautete: In dieser schweren Zeit ist unser Land in Gefahr, der Feind ist überall. Unser Spruch bei der Aufnahme in die Pionierorganisation, »Immer bereit«, fand in diesen Tagen seine Anwendung. Wir waren »immer bereit« für unseren Staat. Wachsamkeit war nun das höchste Gebot, jeder fremde Besucher konnte ein Feind sein.

Der Radiosender R IA S war plötzlich ein »Hetzsender« und genauso streng verboten wie der »Groschenroman«. Dass uns der Westen über das Fernsehen keinen »Schaden« zufügen konnte, verdankten wir dem schlauen Einfall eines Erziehers. Er überklebte am Gerät den Umschaltknopf mit Heftpflaster, und die Antenne verschwand.

Tina veränderte sich von Tag zu Tag. Meistens lag sie weinend auf ihrem Bett. Weder durch tröstende Worte noch durch Faxen konnte ich ihr helfen. Vergeblich wartete sie auf ein Lebenszeichen ihrer Eltern. Kein Brief, keine Karte; auch ihr Bruder wusste nichts Neues über ihren Verbleib.

»Ich will zu meiner Mami«, seufzte sie oft unter Tränen. Über Tinas Kummer sprach ich mit der Erzieherin, aber sie sagte nur: »Wenn Tina lange genug hier ist, wird sie sich schon einleben.«

Das hörte sich nicht gerade ermutigend an, und ich schloss daraus, dass Tina wohl noch lange Zeit im Heim bleiben musste. Ich sagte ihr lieber nichts davon. Tina lebte sich nicht ein.

Einmal kam ich dazu, wie sie sich einen Strumpf um den Hals band.

»Tina, was machst du da?«, schrie ich.

Meine Bemühungen, ihr den Strumpf abzunehmen, wehrte sie mit aller Kraft ab. Wie eine Wahnsinnige rief ich um Hilfe. Mädchen, die ins Zimmer stürzten, holten sofort die Erzieherin. Mit Gewalt hielten wir Tina fest und entfernten den Strumpf.

Sie kam ins Krankenhaus. Lange, bis in die Nacht hinein, dachte ich an Tina und was wohl mit ihr werden würde.

Tina kam nie mehr ins Heim zurück.

Weinen in der Dunkelheit

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