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Meine erste Ohrfeige

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Frau Ratzi kündigte, und wieder kam eine neue Erzieherin, Frau Stiefel. Sie wirkte unscheinbar und recht hilflos und besaß keine Autorität. Wir machten, was wir wollten; sie hatte nicht die Kraft, sich durchzusetzen. Wenn am Abend das Licht gelöscht wurde, hieß es: »Sie ist weg, jetzt geht’s los!«

Kopfkissen flogen durch die Luft, es wurde erzählt, gelacht und gespielt und Unsinn getrieben. Ein Mädchen musste sich freiwillig melden und rausgehen. Schnell entfernten wir ein paar Metallhaken aus der Sprungfedermatratze des Bettes, setzten eine Schüssel mit Wasser hinein, legten das Laken darüber und anschließend das Kissen ans obere Ende und die Decke ans Fußende. So wirkte das Bett ganz normal. Wir holten das Mädchen herein, dann stellten wir uns alle an die Tür, denn nun sollten wir ohne Licht in unsere Betten springen. Das Mädchen sprang auch, ahnte aber etwas und hopste nur ganz vorsichtig. Dann schrie sie: »I pfui!«

Wir mussten lachen, denn sie war trotzdem in der Schüssel gelandet und nass geworden.

Um 21 Uhr begann die erste Runde der Nachtwache. Gerade als der Krach am größten war, wurden wir erwischt, aber nicht von der Nachtwache, sondern vom Hausleiter selber, der seine Wohnung im Parterre unseres Hauses hatte. Er hielt sich nicht mit langen Reden auf: »Los, raus! Alle!«

Wir mussten uns vor seinem Büro um einen Tisch stellen und so lange stehen, bis wir uns vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Unser Hausleiter, Herr Böhle, war sonst in Ordnung, er lebte schon immer mit seiner Familie bei uns. Mit seiner Tochter war ich befreundet. Er tat sehr viel für uns. Ihm verdankten wir unseren ersten Hausfernseher. Dafür sparten die Großen von ihren drei Mark Taschengeld monatlich. Er besaß für uns die notwendige Autorität, ohne sich dabei Mühe geben zu müssen. Er hatte immer Zeit für uns, hörte unsere Sorgen an und verstand es, kameradschaftlich mit uns über Probleme zu diskutieren.

An diesem Abend müssen wir den Bogen wohl überspannt haben. Denn kaum hatte er uns ins Bett geschickt, ging der Krach erneut los. Die Müdigkeit vom langen Stehen war wie weggeblasen. Gegen Mitternacht stellte uns die Nachtwache wieder auf den Flur – an jede Zimmertür ein Mädchen im Nachthemd und mit Hausschuhen –, da bog Herr Böhle nichts ahnend um die Flurecke. Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, dachte ich an ein Donnerwetter, aber er tat etwas völlig anderes. Beim ersten Mädchen fing er an: Schelle, Arschtritt.

»Ins Bett!« Er schritt den Flur entlang. Schelle, Arschtritt. »Ins Bett!«

Die Ohrfeige steckte ich gerade noch ein, beim Arschtritt war ich schon in meinem Zimmer verschwunden.

Am nächsten Tag erzählten wir unser nächtliches Erlebnis der neuen Erzieherin, aber sie sagte nur: »Die Schuhspitze hätte euch im Arsch stecken bleiben müssen!«

Nach dieser Äußerung war sie bei uns unten durch. Wir befolgten ihre Anordnungen überhaupt nicht mehr, und mit der Disziplin war es endgültig vorbei, bis eine neue Erzieherin kam.

Es war die einzige Ohrfeige in meinem Leben von einem Erzieher. Wir mochten Herrn Böhle trotz der Schelle weiterhin; er tat, als sei nichts geschehen, und die alte Kameradschaft hielt bis zu seinem Weggang.

Weinen in der Dunkelheit

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