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Niederkommen

Als Gisela 12 Wochen nach der Geburt ihres Sohnes an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war Herr Kobus dabei, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er würde gehen, hieß es. „Er muss“, erklärte Anni an Gisela gewandt. Nähere Erklärungen gab sie nicht, bestätigte nur, dass es mit den geschwärzten Stellen zu tun habe. Auch um den neuen Band hatte es Kontroversen gegeben. Trotz eingehender Kontrolle durch obere Stellen enthielt er Namen, die wiederum bei leitenden Genossen Anstoß erregten. Es hatte während Giselas Abwesenheit noch eine zweite Schwärzung gegeben, dennoch musste sich Herr Kobus erneut rechtfertigen. Die Arbeit an den noch ausstehenden Bänden war nun endgültig eingestellt worden. In den wenigen Wochen, in denen der Chef noch in der Bibliothek war, richtete er nur selten das Wort an Gisela, er war schweigsam und in sich gekehrt. Sie wagte von sich aus nicht, ihn zu fragen, wo er hingehen würde.

Später erinnerte sie sich manchmal seiner ungeschickten Art, ihr seinen Beistand anzubieten. Aber damals war sie ganz und gar auf ihren neuen Alltag konzentriert.

Die Erlebnisse der letzten Monate erfüllten sie vollkommen. In der Zeit, als sie die Bücher schwärzten, spürte sie die ersten Bewegungen in ihrem Leib. Langsam wölbte er sich und sie verlor ihre mädchenhafte Figur. In den ersten Monaten der Schwangerschaft nahm sie die Veränderungen mit Beklommenheit wahr. Sie fürchtete sich vor den Reaktionen der Kolleginnen, für die ihre Verlassenheit dann offen zutage liegen würde. Es erleichterte sie, dass alle behutsam mit ihr umgingen, teilnehmend waren, die Männer ihr Komplimente über ihre neue Fraulichkeit machten. So konzentrierte sie sich auf ihr Inneres, registrierte jede Bewegung, die an verschiedenen Stellen ihres Bauches deutlich wahrnehmbar war. Gab es Ausbuchtungen, stellte sie sich vor, dass ihr Schlabumster jetzt mit den Füßen strampelte oder mit den Fäusten gegen die Hülle trommelt. Morgens und abends machte Gisela Gymnastik, mit der sie sich auf eine schmerzarme Geburt vorbereitete. Sie hatte dazu einen Kursus besucht, las Anleitungen und übte die Bauchatmung, mit der sie auf dem Boden liegend den Geburtsvorgang beeinflussen würde. Sie lernte zu hecheln, um die für sie noch ungekannten Presswehen hinauszuzögern, den Geburtsvorgang nicht zu unrechter Zeit einzuleiten. So hatte man es ihr beigebracht und sie war entschlossen, sich danach zu richten, wollte alles richtig machen. Auch auf die Babypflege bereitete sie sich vor und nähte sich einen Rock und zwei Umstandskleider. Die Erwartung des kommenden Ereignisses brachte ihr das Gefühl fürs Gegenwärtige zurück. Tage und Wochen waren gezählt, mussten für das Bevorstehende genutzt werden. Manchmal nur überkam sie das Gefühl verlassen zu sein. Die Sehnsucht nach Johannes war längst dieser anderen Sehnsucht in ihr gewichen.

In den Tagen nach seiner Abreise galt ihr erster Blick am Abend der Anrichte, auf die die Mutter Johannes’ Briefe legte. Dort fand sie beinahe täglich einen. Es waren kleine Kunstwerke, sieben bis zehn Seiten waren nicht ungewöhnlich. Drei Zeilen nahmen schon die Anreden ein, die zärtlichen und mutwilligen Namen, die er für sie erfand. Auf immer neue Weise beteuerte er ihr seine Liebe, beschrieb ihr seine große Sehnsucht, schwärmte von ihrem süßen Leib. Auch widmete er sich dem Thema Treue, schrieb mit großer Ernsthaftigkeit, ja Pathos über solche Dinge. Daneben gab er Berichte über seine Arbeit, den Fortschritt seiner Russischkenntnisse, über Moskau und seinen tadschikischen Zimmergenossen. Nachdem sie mehrere Monate hindurch solche Briefe gelesen hatte, gewöhnte sie sich an sie. Die Worte begannen sich zu wiederholen, sie las sie jetzt flüchtiger. Auch hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, jeden Brief zu beantworten. Sie wusste nicht, was sie ihm täglich berichten sollte, ließ mehrere Tage vergehen, bis sie ihn über die neuesten Regungen ihres Schlabumster, über Einzelheiten ihrer Vorbereitungen für das Kind unterrichtete. Er beschwerte sich, beschrieb, welche Bedeutung für ihn der abendliche Brief an sie hatte, ließ sie an seinen Träumen von Liebesnächten teilhaben.

Ihre Träume richteten sich auf das zu erwartende Kind. Manchmal waren es Alpträume. Sie stürzte auf ihren vorspringenden Bauch oder man verfolgte sie. Ein Traum, der sie in Variationen seit ihrer Kindheit heimsuchte. Einmal sah sie in einen Kinderwagen, in ihren eigenen und der war leer. Über diesen Schreck wurde sie wach. Wie häufig, wenn sie über einem schlimmen Traum erwachte, drückte ihre Leibesfrucht auf die Blase oder lag so ungünstig auf einem Nerv, dass sie nur schwer aus dem Bett kam. Nach einigen Bewegungen verging das. Wenn sie Johannes über solche Beschwernisse berichtete, dramatisierte er solche Dinge, bedauerte sie heftig und gab ihr so das Gefühl, dass sie sich bemitleiden lassen oder unangemessen aufspielen wolle. Wenn er in seinen Briefen aus der Sadovo Kudrinskaja darauf reagierte, war die Sache für sie schon vergessen, unter die Normalitäten des Alltags abgebucht.

Deshalb besprach sie solche Dinge lieber mit der Mutter, die von ihnen kein besonderes Aufheben machte. Gisela ging an den Sommerwochenenden mit den Eltern in den Garten, den sie noch immer hatten, obwohl er längst verkauft sein sollte. Der Verkauf war durch den Einspruch des Vaters gegen den Schätzpreis verzögert worden. Natürlich hatte er sich damit den Unmut der Vereinsoberen zugezogen. Es machte ihm wenig aus, er war einfach nicht gewillt, sich von denen über die Löffel barbieren zu lassen. Die Mutter schien über die Verzögerung nicht unfroh zu sein, weil sie noch die Beete bestellen konnte, den beginnenden Sommer im Garten verbringen. Nur schwer trennte sie sich davon.

Gisela ging durch den kleinen Garten, sammelte erste reife Erdbeeren, roch an den Lilien und sprach mit früheren Spielgefährtinnen, wenn die eine oder andere vorbeikam. Es hatten auch andere Familien eine Neubauwohnung bekommen und man sah sie nur noch an den Wochenenden. Sie erfuhr bei solchen Gesprächen, welche ihrer Kinderfreundinnen schon verheiratet war oder ein Kind erwartete wie sie. An einem dieser warmen Sommersonntage begann die Mutter unvermittelt ein Gespräch, auf das Gisela so gar nicht gefasst war. Während sie im Liegestuhl saß, an einem Umstandsrock die letzten Handarbeiten erledigte, saßen Vater und Mutter ihr gegenüber auf Gartenstühlen. Während die Mutter heranrückte, sagte sie zur Tochter hin: „Was ich dir schon lange sagen wollte! Wenn du nicht heiraten willst, musst du dir auch keine Sorgen machen. Dein Kind wird auch so groß.“ Der Vater ließ die Zeitung sinken, schaute auf die Frau, dann auf die Tochter, nickte bestätigend mit dem Kopf, hatte offensichtlich nicht die Absicht, sich in das Gespräch einzuschalten. Als Gisela zur Mutter hinsah, bemerkte sie, dass es der schwerfiel, über dieses Thema zu sprechen. In den ersten Wochen nach Johannes’ Abreise hatte sie die Tochter bei der Schulter genommen, ihr Mut zugesprochen. „Freu dich auf das Kind, gräme dich nicht. Das bekommt deinem Baby nicht.“ Durch Fürsorge und Aufmerksamkeit stützte sie die Tochter, die das aber erst bemerkte, nachdem sie wieder offene Augen für ihre Umgebung hatte. Trotz dieser wohltuenden Fürsorglichkeit hatte Gisela nicht den Wunsch, mit der Mutter über ihre innersten Regungen zu sprechen. Sie fürchtete die Lakonie, ja den Sarkasmus, mit dem die Mutter auf Gefühlsdinge reagierte. Gereimte Sprüche, wie „Liebe macht blind, frisst Rotz und Grind“, verrieten ihr, dass es ratsam war, ihren Schmerz zu verbergen. Auch sprach die Mutter niemals über eigene Gefühle. Wenn sie auf die Abtreibungen zu sprechen kam, die sie ohne zureichenden medizinischen Beistand an sich vorgenommen hatte, klang Bitterkeit und Schrecken aus ihren Berichten. Gisela hatte schon öfter daran gedacht, dass sie ihre Geburt wohl dem strikten Abtreibungsverbot der Nazi-Zeit verdankte. Es fand sich kein Arzt mehr, der solche illegalen Eingriffe vornahm. Ihre Berichte beendete die Mutter mit kurzen herben Sprüchen, die die Tochter mit leichtem Erschrecken anhörte. „Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang“, war einer dieser Kernsätze.

Nach einer Weile des Schweigens sagte die Mutter zu Gisela: „Ich sage dir das, damit du weißt, du kannst mit deinem Kind bei uns wohnen, so lange du willst und du musst nicht eine Ehe schließen, die du vielleicht bereust.” Gisela nickte dazu nur, sie konnte nichts erwidern. Wollte die Mutter über ihre Beziehung zu Johannes mit ihr sprechen? Wollte sie sie auf kommende Enttäuschungen vorbereiten? Sie wartete angespannt, aber es kam nichts weiter, weder vom Vater, der genickt hatte, noch von der Mutter. Sie schien keine Antwort zu erwarten, ließ sich vom Vater ein Stück der „Wochenpost“ geben, in deren Gerichtsbericht sie sich vertiefte.

Es tat Gisela gut zu wissen, dass sie auf die Hilfe der Eltern rechnen konnte. Eigentlich hatte sie es auch nicht anders erwartet. Konventionelle Bedenken gegen eine ledige Mutter waren in ihrer Familie niemals laut geworden. Die Mutter hatte den um zehn Jahre älteren Bruder von Gisela unverheiratet zur Welt gebracht. Sie selbst hatte keine Eltern mehr, die sich kümmern konnten, sondern stand ganz allein. Über die Rolle, die der Vater damals gespielt hatte, äußerte sie sich nicht so genau. Einmal ließ sie Gisela wissen, dass der noch ein richtiger Kindskopp gewesen, es zum Teil auch geblieben sei. Den Bruder hatte sie in einer Hebammenlehranstalt in Neukölln zur Welt gebracht. Dort musste sie die Entbindungskosten als Hausmädchen abarbeiten, blieb dort vom siebten Schwangerschaftsmonat bis das Baby ein viertel Jahr alt war. Wöchnerinnen betreuen und die Station säubern, gehörte zu ihren Aufgaben, bis sie selber ihr Kind bekam. Ein paar Pfennige, die sie für die Muttermilch bekam, die ihr Kind nicht brauchte, war das Kapital, mit dem sie dann zu Schwester Lucie in die Kellerwohnung des Vaters zog, der inzwischen gestorben war. Abwechselnd trugen die Schwestern die „Berliner Morgenpost“ aus, versorgten nebenbei das Baby. Dessen Vater war auf der Walze, fand Arbeit im Ruhrgebiet. Dort musste er sich ein Bett mit einem Kumpel teilen, der die entgegengesetzte Schicht wie er selbst hatte. Nach einem halben Jahr kam er zurück, wollte nun mit der Mutter ein Nest bauen. So stand es jedenfalls in einem Brief, den Gisela irgendwann gefunden und in ihrer Neugierde gelesen hatte. Aber in Berlin fand der Vater keine Arbeit, auch in die Kellerwohnung konnte er nicht ziehen. Da hörten sie durch Zufall von der Laube. Das Geld für den Kauf borgten sie von Vaters Eltern, die streng auf Rückgabe sahen, denn auch sie hatten nicht viel. Wenn Gisela an das Leben der Mutter dachte, an die Erzählungen über die winterlichen Zustände in der Sommerlaube, an Kälte und Wanzen, konnte sie nicht umhin, ihre eigenen Sorgen für gering zu halten. Daher ließ sie das Selbstmitleid, das sie manchmal spürte, nicht aus sich heraus.

Die Mutter gab ihr mit wenigen Worten die Gewissheit, dass sie ein normales Leben führen, ihr Kind in aller Ruhe zur Welt bringen konnte.

So verging die Zeit. Im August kam Johannes für drei Wochen, sie stand auf dem Bahnsteig, als er aus dem Zug stieg. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Glücklich lehnte sie sich an ihn.

Für einige Tage fuhren sie mit dem Zelt an einen See. Es erinnerte sie an vergangene Tage, deren Stimmung sich allerdings nicht mehr herstellte. Das Schlafen auf dem flachen Boden bereitete ihr jetzt Beschwerden. Die Augustnächte waren kühl, aber Johannes bestand darauf, ihre Nacktheit zu spüren. Sie verhüllte sich, kroch in sich hinein, nahm seine Hand, damit er die Bewegungen in ihr spüren konnte. So ruhig nebeneinander lagen sie nicht lange, weil Johannes zu ihr drängte, er wolle die sehnsüchtig leeren Moskauer Nächte nachholen, sagte er ihr.

Tagsüber rang er schwer mit der Aufgabe, einen Artikel für die „Zeitschrift für Philosophie” über die philosophischen Grundlagen der friedlichen Koexistenz zu schreiben. Den wollte er dem Redakteur am Ende seines Urlaubs übergeben. Er saß vor einer Kiste, auf der sein Schreibpapier lag und notierte Gedanken, die er Gisela zuvor referiert hatte. Kurze Zeit saß er so, dann sprang er auf, lief über die Wiese bis zum Waldsaum, kam zurück, lief wieder dorthin. Sie durfte ihn nicht ansprechen, wenn er so mit Gedanken rang. Sie ging in den Wald, suchte Pilze, säuberte sie, bereitete das Mittagessen. Hatte er eine neue Nuance in seine Gedanken gebracht, teilte er ihr die mit. Sie hörte ihm zu. Einmal widersprach sie, da gab er lange und wortreiche Erklärungen ab. Daraufhin wurde sie vorsichtiger, hielt sich zurück, denn sie wollte zu ihrer Lektüre kommen, die sie mit sich selbst verband. Sie las Rollands „Verzauberte Seele”. Dann ging sie ins Wasser, schwamm weit in den See hinaus, trotz ihres dicken Bauches. Diesen Urlaub hatte sie sich anders vorgestellt.

Nach zwei völlig verregneten Tagen brachen sie ihr Zeltleben ab. Johannes beschuldigte die Kiste, dass er nicht das aufs Papier bringen konnte, was er dachte. Er verbrachte die restlichen Tage des Urlaubs in ihrem Lesesaal, schrieb dort an seinem Artikel. Es erleichterte sie, in ihrem bequemen Bett zu liegen, in der Nähe der Babysachen zu sein. Kurz bevor er wieder abfuhr, kauften sie noch das Kinderbett, vervollständigten die Babyausstattung, für die sie auf einen Stempel hin 500 Mark bekam.

Als die Wehen begannen, saß sie beim Friseur. Sie wollte sich ihre blonden Haare noch einmal kurz schneiden lassen, um längere Zeit Ruhe zu haben. Plötzlich spürte sie ein Ziehen im Unterleib, es erinnerte an die Schmerzen, mit denen sich die Mensis ankündigte. Es hielt einige Zeit an, kam nach einer Pause wieder. Da saß sie schon unter der Trockenhaube, konnte gleich nach Hause gehen. Den Abend und die Nacht hindurch verbrachte sie mit diesem halbstündigen Rhythmus. Zwischendurch schlief sie ein, bis gegen Morgen das Ziehen kräftiger wurde, der Abstand hatte sich auf zwanzig Minuten verkürzt. Jetzt sagte sie der Mutter Bescheid, die Gisela nicht zu früh beunruhigen wollte. Als sie in den Vormittagsstunden in den roten Backsteinbau des Oskar-Ziethen-Krankenhauses kam, gab es viertelstündige Intervalle. Bei der Untersuchung stellte die Hebamme eine markstückgroße Öffnung der Gebärmutter fest, bereitete sie auf eine lange Wartezeit vor. Sie äußerte sich skeptisch über die schmerzarme Geburt, von der Gisela ihr erzählte, aber lobte die Technik der Bauchatmung, mit der die junge Frau der nächsten Wehe standhielt. Dabei ging Gisela auf dem Flur hin und her, hielt sich die Hüften und ließ die Luft in den Bauch. Die Schmerzen wurden heftiger, die Abstände der Attacken kürzer. Sie hatte das Gefühl, es würde ihr den Unterleib auseinandertreiben. Am späten Abend ergab die Untersuchung eine handtellergroße Öffnung, man rasierte ihr die Schamhaare. Zwischen den Schmerzattacken spürte sie eine unendliche Müdigkeit. So lange wie es gedauert habe, würde es nun nicht mehr dauern, verkündete ihr die neue Schwester, die nun ihren Dienst angetreten hatte. Endlich begann das Pressen, sie durfte jetzt in den Kreißsaal, auf ein hochgelegenes Bett. Auch jetzt vergaß sie nicht, was sie in den letzten Monaten gelernt hatte, hechelte, hielt den Pressdrang so stark wie möglich zurück. Endlich gab die Hebamme das Zeichen, dem, was mit ungeheurer Intensität aus ihrem Körper drängte, nachzugeben. „Pressen, pressen”, hießen jetzt die Kommandos. Giselas gesamte Existenz konzentrierte sich in ihrem Schoß, von dem sie annahm, dass er zerreißen würde. Dann kam Erleichterung, ein den ganzen Körper durchflutendes Glücksgefühl. Sie hörte ein Quäken, dachte, da ist es nun! Nach wenigen Augenblicken legte man ihr ein schleimiges, zerknautschtes Wesen auf die Brust. Später zeigte man ihr ihren Jungen noch einmal. Nun schon eingebündelt. Alle diese Augenblicke flossen später in ihrem Gefühlsgedächtnis mit dem erleichternden Glücksgefühl zusammen, das sie unter der Geburt erlebt hatte.

Das Kindbett verlief ohne besondere Vorkommnisse. Damals achtete man auf einen strikten zeitlichen Rhythmus, in dem die Mütter mit ihren Sprösslingen zusammenkamen. Gisela machte sich darüber keine Gedanken, nahm es, wie es war, hatte keine Sorgen mit ihrem Sohn, den sie Ingolf nannte. Er trank, schlief nach wenigen Minuten an ihrer Brust ein, hatte zu sich genommen, was er brauchte.

Beklommen wurde ihr, wenn die drei Frauen in ihrem Zimmer Besuch von ihren Männern bekamen. Obwohl die Eltern sie besuchten, wartete sie auf Johannes. Sie wollte zeigen, dass auch sie einen Vater zu ihrem Kind hatte. Ihr entgingen nicht die misstrauischen Blicke der Frauen, als sie von ihrem Mann in Moskau sprach. So nannte sie Johannes jetzt. Die Mutter meinte in ihrer lakonischen Art: „Es gibt dir sowieso niemand was dazu.” Gisela nickte, aber die innere Spannung wich nicht.

Einen Tag vor ihrer Entlassung erschien er. Sie sah ihn erst kaum hinter dem riesigen Strauß von Chrysanthemen, den er vor sich hielt. Ein solches Bukett, das war echt ihr Johannes! Sicherlich hatte er manches in Bewegung gesetzt dafür. Wahrscheinlich hatte er die Erlaubnis eingeholt, im Blumenladen der Regierung in der Kronenstraße seine Bestellung aufzugeben. Möglicherweise hatte er daran schon im Sommer gedacht. Er legte die Blumen aufs Bett, kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, die sich aufgerichtet hatte und schloss ihren Oberkörper völlig ein. Am nächsten Tag schon holte er sie mit dem Baby aus der Klinik.

In ihrem kleinen Zimmer wurde es jetzt eng für sie drei. Dem Kinderbett musste der kleine Tisch weichen. Die Anrichte musste nun auch die Babysachen aufnehmen. Gewickelt wurde auf dem Kinderbett, an dem sich das vordere Gitter herunterklappen ließ. Johannes ließ seine Sachen im Koffer, der im Schlafzimmer der Eltern stand. Er schlief neben Gisela auf der Liege, sprach über die Qual, die es ihm bereitete, sie so dicht zu spüren und den-noch nicht berühren zu dürfen. Sie war stets schläfrig, wurde nur munter, wenn Ingolf sich meldete, wartete auf die Stunde, ihn an die Brust zu legen.

Johannes wollte, dass sie heirateten. Davon war zwischen ihnen vorher nicht die Rede. Deshalb überraschte sie sein Vorschlag, aber er leuchtete ihr ein. Sie bekamen dann Geld für die Familientrennung, konnten sich für eine gemeinsame Wohnung anmelden, die sie in zwei Jahren vielleicht bekämen, wenn er zurückkam. Er drang jetzt auf einen möglichst schnellen Termin. Die Mutter wunderte sich über die plötzliche Eile, der Vater meinte Gisela gegenüber, ob es die richtigen Gründe für eine Ehe seien, die Gisela ins Feld geführt hatte. „Dass wir uns lieben, ist sowieso klar“, trumpfte sie dem Vater gegenüber auf, der erwiderte nichts mehr. Die Mutter sah mit dem frühen Termin vor allem praktische Probleme. Sie wollte der einzigen Tochter eine richtige Feier ausstatten, aber das ginge nicht, solange Gisela in den Wochen sei, noch stillte, gab sie zu bedenken.

Johannes setzte sich durch, erwirkte auf dem Standesamt einen Termin, kurz vor seiner Rückkehr nach Moskau. Gisela war es recht so. Sie wollte verheiratet sein, es gehörte in ihrer Vorstellung zu einem wirklichen Erwachsenenleben.

Sie feierten drei Tage lang. „Fast wie eine Bauernhochzeit“, meinte die Mutter ironisch. Denn die drei Tage waren mehr Last als Lust. Man hatte die Gäste aufgeteilt in der engen Wohnung, ihre Verwandten und Freundinnen, seine Genossen, Eltern und Geschwister, es kamen viele Menschen zusammen und man musste sie auf mehrere Tage verteilen. Die Mutter hatte deren Bewirtung allein in der Hand, Gisela nahm Glückwünsche und Geschenke entgegen, stillte ihr Baby, das sie in diesen Tagen schon am Morgen badete. Sie ging dann ins kleine Zimmer, zog sich ihr cremefarbenes Kleid über den Kopf und legte das Kind an die Brust. Danach lag sie einige Augenblicke neben ihm auf der Liege, fühlte sich erschöpft, hätte am liebsten geschlafen. Johannes unterhielt die Gäste, vor allem wandte er sich seiner Familie und seinen Genossen zu. Er würde ein aufmerksamer und guter Ehemann werden, versicherte er denen und die lachten, meinten, sie hätten nichts anderes erwartet. Er bemühte sich auch um Giselas Verwandte, lobte die vielen praktischen Dinge, die sie aus Westberlin mitgebracht hatten.

”Du hast dich verkühlt“, meinte die Mutter, als Gisela wenige Tage danach über Stiche in der Brust klagte. Sie hatte die Tochter vor dem ausgeschnittenen Kleid gewarnt, in dem die sich unbedingt zeigen wollte. Zum Abend hin wurde der Schmerz heftiger, zog den Arm hinunter, Gisela fieberte. Es war der Beginn einer langwierigen Brustentzündung, die mit auf- und abklingenden Fieberanfällen verbunden war. Das Stillen war die Tage zuvor schon schwieriger geworden, Ingolfs zahnloser Gaumen hatte die Brustwarzen blutig durchgebissen. Wenn er den ersten Appetit gestillt hatte, schlief er an ihrer Brust ein, fühlte sich offensichtlich wohl. Wollte sie ihm die entziehen, wurde er wach, sog wieder und Gisela brachte es nicht fertig, ein Ende zu machen. So waren ihre Brustwarzen immer wunder geworden. Aber der neue Schmerz rührte von versetzter Milch her, bestätigte ihr ein alter Hausarzt, zu dem sie ging. Er empfahl weiter zu stillen, die wunde Brust sollte sie einstweilen auslassen. Das Kind brauche Muttermilch, meinte er und bestätigte damit, was Gisela auch von der Mutter wusste.

Als der Arzt die Stelle mit der versetzten Milch aufschnitt, war Johannes längst schon wieder in Moskau. Er musste seine Termine dort einhalten, die Krankheit seiner Frau würde man dabei nicht gelten lassen. Sie lag fiebernd im Bett, als er sich über sie beugte, um sich zu verabschieden. „Ich kann dir ja hierbei ohnehin nicht helfen“, meinte er und sie bestätigte durch Kopfnicken seinen Entschluss. Eine schwache Erinnerung an das, was sie schon vor Monaten erlebt hatte, stieg in ihr auf. Sie wich sofort der Mattigkeit, in der sie für Wochen zurückblieb.

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