Читать книгу Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold - Страница 9
ОглавлениеAuf den Frühling folgt der Herbst
In der Bibliothek begann eine neue Zeit für sie. Sie hatte jetzt ein Geheimnis, das sie vor den Kollegen hüten würde. Das erwartete auch Johannes von ihr. Er begründete es mit seinen noch ungeklärten Verhältnissen, die er aber so bald wie möglich regeln wollte. Es entsprach auch ihrem Interesse, die Sache vorerst für sich zu behalten. Sie fürchtete die spitze Zunge von Edith, deren Augen nichts entging, wenn sie hinter der Theke der Bücherausgabe thronte. Auch die mokanten Bemerkungen von Frau Pietsch waren Gisela unangenehm. Sie ließen erkennen, dass sie das junge Mädchen für eine dumme Gans hielt. Aber von Johannes schien sie einiges zu halten. Worin das gründete, erfuhr Gisela nicht. Vom Chef hatte sie in dieser Beziehung nichts zu befürchten. Ihn interessierten derlei Geschichten nicht, das hatte er mehrfach betont; auch bemerkte er wenig. Gern hätte sie sich Irene anvertraut, hatte mehrmals angesetzt, ihr zu erzählen, dass Johannes Selber sie in die Oper eingeladen habe und er ihr gefiele. „Der gefällt dir?“, meinte Irene gedehnt und schloss nach einer kurzen Pause die Prophezeiung an: „Wenn du das anfängst, kommst du hier nie wieder raus.“ Gisela bemerkte, dass der Mann bei Irene für mehr stand, sie aber nicht aussprach, was sie meinte. Offenbar war wieder ihr Achim im Hintergrund. Seitdem hatte Gisela mit der Freundin nicht mehr darüber gesprochen. Der freundlichen Anni hätte sie sich anvertrauen mögen, aber sie fürchtete, dass die es nicht für sich behalten würde. Es ging ja auch nur sie und ihren Johannes an, sagte sie sich und schwieg. Ohnehin fürchtete sie, sich zu verraten. Denn sie spürte ihre eigene Aufregung am ganzen Körper, wenn er in den Lesesaal kam und kurz das Wort an sie richtete.
Nach dem „Gajaneh“-Abend hatte Gisela Johannes nur wenige Male gesehen. Jetzt kam er, um ihr zu sagen, dass er für drei Wochen an den Gold-strand nach Bulgarien fahren würde. Er hätte sie gern mitgenommen, aber leider, es ginge nicht. Die Reise sei schon vor Monaten gebucht worden. Viel würde er an sie denken, ihr etwas Schönes mitbringen, er hätte diesen Urlaub bitter nötig, er hoffe sie unverändert vorzufinden. Ende August wäre er wie-der ganz und gar in Berlin, er müsse nach der Reise sechs Wochen lang einen Reserveoffiziersdienst ableisten, wann er den genau antreten müsse, wisse er noch nicht, man würde sich vielleicht vorher noch sehen können. Nachdem er gegangen war, legte sich ihr ein Ring um die Brust. Das Atmen war plötzlich mühseliger. Der Sommer hatte so verheißungsvoll begonnen. Jetzt, Anfang Juli, schien er für sie schon zu Ende. Sie sollte nach Lauterbach fahren, an den Greifswalder Bodden, denn die Vorstellung, ihren Urlaub auf dem Gelände von „Gemütlichkeit” zu verbringen, erschien ihr schrecklicher denn je. Mit der FDJ-Gruppe nach Lauterbach, das war plötzlich eine Aussicht für den Sommer, an der sie ihre Gedanken festmachen konnte. Im Bodden baden war immerhin besser als in ihrem Kanal.
Tage und Wochen vergingen und sie bemerkte, dass es leichter war, Zeit zum Vergehen zu bringen, wenn sie die Gedanken auf den alltäglichen Gang der Dinge richtete. Trotzdem suchte sie den bulgarischen Goldstrand im Atlas und dachte sehnsuchtsvoll an Johannes’ Rückkehr. In solchen Momenten schmerzte ihr Herz, der Ring war dann sehr fest. Manchmal überfiel sie auch Zorn. Sie fand, man nahm ihr etwas. Wenn sie an ihn dachte, merkte sie, es war nicht viel, woran sie sich festhalten konnte. Aber sie erinnerte sich ihrer Empfindungen, die in seiner Gegenwart entstanden waren. Manchmal auch an die Ernüchterung, die kam, nachdem sie sich ihm einen Moment lang ganz überlassen hatte. Wenn sie den großen, gutaussehenden Mann vor ihrem inneren Auge sah, empfand sie Stolz auf ihn und auf sich, weil er sie erwählt hatte. Bei diesem Auf und Ab ihrer Gefühle wurde sie gewahr, wie schnell die Tage um waren. Auch die neue Arbeit trug dazu bei, verlangte Konzentration und half, die Zeit vergehen zu lassen. Es entstand eine gleichmütige Zufriedenheit in ihr, die nur selten vom Erschrecken unterbrochen wurde. Dann bestürzte sie die Tatsache, wie schnell alles verging und dass sie durch ihr heftiges Warten auf das Ende des Sommers zu diesem Vergehen beitrug. In diesen Tagen ahnte sie, dass sie selbst es war, die für das lautlose Kommen und Gehen der Tage und Wochen verantwortlich war. Ihre Zeit war es, die hier verging. Aber sie ertrug es klaglos, war selig in ihren Empfindungen, die sie dem Ende des Sommers zutrugen.
An einem der letzten Augusttage stand er vor ihr im Lesesaal, war sonnen-gebräunt und übergab ihr eine lange Kette. Sie war entzückt über die kleinen, aufgefädelten Muscheln, trug die Kette über einem rot gemusterten, ausgeschnittenen Kleid. An Spätsommerwochenenden radelten sie von Königs Wusterhausen zu einem der umliegenden Seen. Dort stellten sie ein kleines graues Zelt auf, das er aus der ehelichen Wohnung geholt hatte. Auch sein Fahrrad musste Johannes erst fahrtüchtig machen, es hatte Jahre herumgestanden und Rost angesetzt. Man war Auto gefahren in den letzten Jahren, aber das behielt jetzt die Frau und er wollte gern an die Radtouren seiner Jugend anknüpfen, die er ins Erzgebirge und in die Sächsische Schweiz unternommen hatte. Der Umstieg aufs Fahrrad erschien ihm als Rückkehr zur Jugend, für die er ihr, Gisela zu danken habe. Bei solchen Worten blickte sie zu ihm auf und war stolz. Längst hatte sie es aufgegeben, irgendeine innere Reserve gegen ihn aufzubauen. In den langen Wochen der Trennung hatte sie sich vorgenommen, ihn ihre Enttäuschung spüren zu lassen. Als er von seiner Sehnsucht sprach und sich nach ihrer erkundigte, sagte sie spitz: „Manchmal hab ich an dich gedacht; aber ich wusste nicht, wie ich an dich denken sollte.” Sogleich schoss ihr das Blut ins Gesicht, sie bereute ihre Worte, fürchtete, ihn zurückzustoßen. Sie wollte ihn treffen und ihm doch nah sein, aber es war klar, dass sie ihrer Absicht nicht gewachsen war. Er machte es ihr durch viele Worte leicht, ihren eigenen eine andere Bedeutung zu geben. Die untauglichen Versuche, sich gegen ihn zu wappnen, unterließ sie dann.
Im Herbst fuhr er mit ihr nach Dresden, zeigte ihr Schloss Pillnitz, die Alten Meister im Semperbau und das Grüne Gewölbe. Sie wohnten in einem richtigen Hotel. Es war alles sehr neu für Gisela, die beglückt, wie auf Wolken an seiner Seite lief. Als sie zurückkamen, meinte die Mutter, dass es wohl an der Zeit wäre, den Freund vorzustellen, den sie so hartnäckig geheim hielt. Gisela bemerkte die Verärgerung der Mutter. Es war ihr peinlich, sie wusste selbst nicht genau, warum sie es hinauszögerte. Sie hoffte wohl auf den baldigen Umzug in die neue Wohnung, die der Vater angekündigt hatte. Johannes müsste sich dann nicht wegen der niedrigen Verandatür bücken, um einzutreten. Eine solche Szene hatte Gisela stets vor sich, wenn sie an die Begegnung dachte. Verlegenheit verursachte ihr auch der Umstand, dass Johannes noch verheiratet war. Besonders die Mutter würde mit Fragen bohren, auf die sie selbst keine Antwort wusste. Sie würde aufwühlen, was sie bei sich gerade ruhig gestellt hatte.
”Ich stell euch Johannes vor, wenn wir in der Wohnung wohnen“, sagte sie leichthin. Auffahrend entgegnete die Mutter: „Dann braucht der Herr auch nicht mehr zu kommen.“ Dabei riss die kleine rundliche Frau ihre braunen Augen weit auf und starrte der Tochter ins Gesicht. Da begriff die, dass die Mutter ihrem Johannes die Schuld an der Heimlichtuerei gab. Sie vermutete wohl, dass ihm ein Besuch in der Laube als Zumutung erscheinen würde. Gisela beeilte sich, das Gegenteil zu versichern und kündigte an, dass sie ihn bald kennenlernen würden.
Johannes kam mit einem großen gelben Herbstasternstrauß für die Mutter. Die kleine Frau verschwand fast dahinter, wirkte verlegen, als sie ihn entgegennahm. Sie stand in der Verandatür, von der es in die schmale Wohnküche ging. Dahinter lag das kleine Wohnzimmer, in dem es behaglich warm war von einem braunen Kachelofen. Der Kaffeetisch war gedeckt, die Mutter hatte ihren Mohnkuchen gebacken und man saß um den ausziehbaren Tisch herum. Johannes lobte die Behausung, war überrascht, dass alles selbst gebaut war, fand es praktisch und sauber bei ihnen. Die Eltern erzählten vom Umbau vor einigen Jahren, der durch Kriegseinwirkungen notwendig geworden war. Die 1926 für den Sommer erbaute Laube, hatte der Vater in seinen Arbeitslosenjahren mit Brettern umkleidet, sie notdürftig für den Winter hergerichtet. Infolge der Erschütterungen durch niedergehende Bomben war die gemauerte Wand zwischen innerer und äußerer Bretterwand eingefallen, man konnte es an Ausbuchtungen erkennen. Der Umbau ging unter großen Schwierigkeiten vonstatten, es fehlte an Material und am Geld. Jeden Stein putzten die Eltern selber, holten ihn mit dem Handwagen aus Adlershof heran. Nur einmal hatten sie zum Transport für Abrissholz einen Pferdewagen bekommen. Johannes hörte zu, sagte, dass ihn vieles an das Leben der Eltern in einer Freitaler Arbeitersiedlung erinnere. Er hatte dem Vater schnell das Du angetragen, weil man ja wohl der gleichen Partei angehöre, wie er von Gisela wisse. Der Vater stimmte zu, stellte Fragen nach Johannes’ Ausbildung und seinen beruflichen Perspektiven. Johannes gab freimütig Auskunft. Ja, er würde eine Dissertation zu einem philosophischen Thema schreiben, würde die philosophischen Probleme der friedlichen Koexistenz klären. Der Vater, stets begierig hinzuzulernen und belesen zwischen Haeckel, Nietzsche und Lenin, fand, das wäre doch eine politische und keine philosophische Frage. Unter Philosophie stelle er sich anderes vor, meinte er trocken. Nun holte Johannes weit aus und bewies dem Älteren eine falsche Sicht auf die Dinge. Der schwieg und zog den Mund ganz eng zusammen, während er vor sich hin schaute. Irgendwann sagte er dann noch, dass es in den Betrieben ganz anders aussähe, als man sich dort, wo Johannes studierte, einbildete. Jedenfalls in seinem Johannisthaler Betrieb sei von sozialistischer Gemeinschaftsarbeit und ehrlichem Wettbewerb nichts zu spüren. Die primitivsten Organisationsfragen seien nicht geregelt. Johannes bestätigte, dass er von seinem Vater, aus dem Freitaler Stahlwerk, Ähnliches gesagt bekomme. Aber man müsse größere Zusammenhänge sehen. Die führte er dann wortreich aus. Der Vater, durch die vielen Worte stumm geworden, entgegnete, das mit den größeren Zusammenhängen stimme schon, nur bezweifle er, dass die von denen oben gesehen würden, wenn er an manche Anordnung denke. Außerdem fehlten immer mehr Arbeitskräfte, die gingen über den Teltow-Kanal nach Britz, wo die Firma das andere Standbein habe.
Johannes wandte sich an die Mutter, lobte den Kuchen, erzählte von seiner Mutter, den drei Schwestern, die ihn alle, ihren einzigen Bruder, sehr liebten. Bei solcherlei Unterhaltung verging der Nachmittag schnell. Zwar bemerkte Gisela eine leicht kontroverse Stimmung bei den Diskussionen der Männer, aber das fand sie nicht ungewöhnlich. Immer gab es politische Diskussionen in ihrer Familie. Meistens zwischen dem Vater und den Westberlinern aus Neukölln und Kreuzberg. Währungsreform, Schiebermarkt, Grenzgängertum, Polizeikontrollen, alles kam bis ins Wohnzimmer, wenn sie bei den Familienfeiern stritten. Jetzt hatten sich die Fronten verkehrt. Während sonst die Westberliner, Mitglieder oder Sympathisanten der SPD, ihre Fragen an den Vater richteten und der nach Antworten und Erklärungen suchte, war jetzt er derjenige, der fragte. Er schien von Johannes Antworten zu erwarten und schwieg, weil sie offensichtlich unbefriedigend für ihn ausfielen.
Als sie ihren Johannes noch bis zum eisernen Tor brachte und den schmalen Laubenweg zurücklief, war sie erleichtert, dass alles so gut und freundlich verlaufen war. Nun erst fiel ihr auf, dass die Mutter, die immer an Familiärem interessiert war, weder nach Johannes Kindern, noch nach seinem Familienstand gefragt hatte. Es war einfach übergangen worden. Als sie zurückkam, hantierte die Mutter in der Wohnküche, stellte das Abendbrot auf den Küchentisch, während der Vater hinter der Zeitung saß. Sie schaute der Tochter gleichmütig und freundlich ins Gesicht und sagte: „Setz dich man und iss“, als müsste sie sie beruhigen. Der Vater legte die Zeitung aus der Hand, setzte sich zum Essen zurecht und sagte knapp: „Der Johannes ist ein ganz Schlauer.“ Gisela wartete wie auf ein Urteil, aber es fiel kein weiteres Wort. Die Eltern blieben zurückhaltend.
Bald sollten sie in eine Wohnung umziehen. Sie gehörte zu einem Quartier, das zum 10. Jahrestag der DDR fertiggestellt worden war, auf einem Gelände am Plänterwald, wo zuvor Lauben gestanden hatten. Der Vater hatte während des Umbaus der Laube, als ihnen das Ganze über den Kopf zu wachsen drohte, einen Wohnungsantrag gestellt. Acht Jahre waren seitdem vergangen. Und nun zögerten die Eltern den Umzug hinaus, es fiel ihnen schwer, sich von ihrem selbstgebauten Domizil zu trennen, in dem sie drei Jahrzehnte gelebt hatten. Man freute sich zwar auf Bad und warmes Wasser, das mit einem Durchlauferhitzer erzeugt wurde. Frische Luft und Garten würden ihnen fehlen, meinte die Mutter. Niemals würde in Geld aufgewogen werden können, was sie an Mitteln und Kraft in den Bau der Laube gesteckt hatten, kommentierte der Vater die Verhandlungen mit dem Vereinsvorstand um den Verkauf. Den Schätzpreis von dreitausend Mark nannte er einen Gefälligkeitspreis für den Sohn des Vereinsvorsitzenden, der auf die Laube reflektierte. Er hatte es geahnt, man würde ihn über die Löffel barbieren, sagte er bitter. Es schien ihn in seiner Meinung über die korrupte Vereinsclique zu bestätigen.
Endlich war der Umzugstermin festgesetzt. Gisela und Johannes nahmen die Wohnung schon einige Wochen vor den Eltern in Besitz. Von ihrem gerade verdienten Geld kaufte sie Möbel für das kleine Zimmer. Johannes begleitete sie bei diesen Erwerbungen, achtete darauf, dass die Möbel auch ihm gefielen. Er riet zu einer breiten Liege, die die ganze Stirnseite des Zimmers einnahm und den Zugang zum Fenster verstellte. Zwar hatte Gisela eher an etwas Kombiniertes zum Sitzen und Schlafen gedacht, aber sie wollte schließlich immer nur das, was er wollte. Er bewohnte das Internatszimmer nur selten, schlief mit ihr jetzt hier.
Sie gewöhnte sich schnell an das nächtliche Beieinandersein. Still lag sie in seinen Armen, überließ sich ihm ohne eigenen Willen. Gemeinsam gingen sie früh zur Arbeit, tagsüber saß er meist in ihrem Lesesaal, las und schrieb und kam zu ihr, wenn sie sich allein wähnten, um sie zu küssen und sich zu er-kundigen, was dieser oder jener von ihr gewollt hatte. Sie fühlte sich immer etwas müde, ein leichtes Schwirren im Kopf, eine leise Benommenheit veränderten alles Wirkliche um sie herum. Sie nahm ihre Umwelt wie durch einen Schleier wahr. Aus dieser Empfindung schreckten sie Unmutsäußerungen der Eltern, bei denen sie erst gegen Mittag erschienen, um beim Umzug zu helfen. Sie hatten auf Johannes gerechnet, der beim Aufladen der Möbel helfen wollte. Jetzt hatten sie es zum großen Teil schon allein erledigt. Während Gisela die Sache peinlich war, schien Johannes nichts zu bemerken.
Auch die Unmutsäußerungen von Giselas Kolleginnen interessierten ihn nicht. Sie schienen Anstoß daran zu nehmen, dass Johannes den ganzen Tag bei ihr im Lesesaal saß. Gisela hörte sie tuscheln, schnappte spitze Worte auch von der freundlichen Anni auf, die sie aufscheuchten. Die war jetzt viel seltener gesprächsbereit. Gisela bemerkte, dass sie sich von den Kolleginnen isolierte. Als sie mit Johannes darüber sprach, bestärkte der sie darin, dass es die anderen nichts anginge, was sie miteinander taten. Nur ihre Arbeit, die solle sie auf keinen Fall schleifen lassen, riet er ihr nachdrücklich. Ein leises Unbehagen blieb bei ihr. Aber sie wollte mit Johannes übereinstimmen, ihm nah sein und war bereit, dafür einen Preis zu zahlen.
In der ersten Woche des neuen Jahres 1960 verbrachten sie einen kleinen Urlaub im Erzgebirge. Er wollte ihr ein weiteres Stück seiner sächsischen Heimat zeigen. Nach kurzer Station in Freital, bei seinen Eltern, fuhren sie nach Altenberg. Sie sah das erste Mal diese hügelige, weiße Landschaft und empfand die Ruhe, die sie ausstrahlte. Johannes war ihr bei den Skitouren stets um Meter voraus. Er fuhr mit eigenen Brettern, die er seit früher Jugend unter den Füßen hatte und gab Anweisungen, wie Schneepflüge und Bögen zu fahren waren. Die schnellen Abwärtsfahrten machten ihr Angst, sie lag oft im Schnee. Johannes, der zuerst das Tal erreichte, schaute ihr entgegen, kommentierte die Fehler. Er hatte als Neulehrer auch seinen Schülern die Grundlagen dieses Sports erklärt, mit Erfolg, wie er betonte. Sie sei ein ziemlich schwieriger Fall, aber es würde schon werden. Gisela litt unter ihrer Schwerfälligkeit, die sie bisher an sich nicht bemerkt hatte, spürte, wie die sich unter seinen kritischen Blicken verhedderte. Als sie ihn bat, nicht auf alles zu achten, unterließ er seine Unterweisungen. Er fuhr jetzt weit voraus, ohne sich umzuschauen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie bereits in andere Umstände gekommen war. Es wurde ihr erst einige Wochen später klar, als sie schon wieder im Lesesaal arbeitete. Johannes drang auf eine schnelle, jeden Zweifel ausschließende Untersuchung. Als sich bestätigte, was sie schon wusste, sagte er kurz: „Da hab ich nicht aufgepasst!” Diese Worte lösten Er-staunen bei ihr aus, hatten sie doch mehrmals über ein Kind gesprochen. Ein solcher Wunsch war ihr ganz plötzlich gekommen. Sie wollte, dass ihre Umarmung, ihre Lust nicht ohne Folgen blieb. Sie erhoffte sich einen Anker in ihm, wenn sie etwas von ihm in sich trug. Seine Worte jetzt verrieten ihr, dass ihr Wünschen doch irgendwie verschieden war.
Er freue sich auf die Tochter, meinte er, und nach kurzem Besinnen fügte er hinzu oder den Sohn.
Die Mutter bekam ein stilles Lächeln um den Mund, als sie von Giselas Schwangerschaft erfuhr. „Wird schon gut gehen“, sagte sie in ihrer lakonischen Art und erklärte den Junge-oder-Mädchen-Streit für überflüssig. „Hauptsache, es wird keen Affe nicht“, fügte sie lachend hinzu. Gisela gab dem werdenden Wesen den Namen Schlabumster, männlich wie weiblich zu gebrauchen. Sie wusste nicht, woher er ihr gekommen war, er verschwand mit der Geburt des Kindes. Während der Zeit der Schwangerschaft bürgerte er sich zwischen ihnen ein.
So begann das Jahr 1960 für sie mit einer großen Erwartung auf Kommen-des. Sie lebte in dem Gefühl, das wirkliche Leben vor sich zu haben. Sie wusste damals nicht, dass dieses Jahr später zum „Jahr der afrikanischen Unabhängigkeit” erklärt werden würde, weil 16 afrikanische Staaten die Ketten ihrer kolonialen Abhängigkeit zerbrachen. Wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie ihre hoffnungsvolle Erwartung auch mit diesem antikolonialen Aufbruch in Beziehung gebracht. Denn so, wie in Afrika die Völker die Geschicke in die eigenen Hände nahmen, war auch sie dabei, ihr Leben zu gestalten.