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Einübung in ungewohnte Lebenslagen

Eigentlich liebte sie diese Hochsommertage im Juli, besonders morgens war es angenehm kühl auf dem Balkon, vor dem hohe, dichtbelaubte Linden-bäume standen. Sie sorgten dafür, dass das vordere Zimmer eine erträgliche Temperatur behielt. Sie besah sich ihre Geranien und Malven, goss sie hingebungsvoll, noch vor dem Frühstück. Sie würde ihr tägliches Schreibpensum heute erst am Nachmittag erledigen und jetzt, solange es noch kühl war, ihren Spaziergang machen. Spaziergänge an der Spree als alltäglicher Rahmen für ein Leben, das eigentlich schon hinter ihr lag. Erinnerung, Arbeit des Lebens, die sie jetzt leisten musste.

Natürlich musste sie nicht, aber sie konnte, weil sie unendlich Zeit hatte, eine wirklich neue Situation für sie. Zeit, immer knapp bemessen in ihrem Leben, wo war sie geblieben, die vergangene und die heutige, die schon vergangen war, wenn sie nach ihr fragte. Festhalten wollte sie die flüchtigen Stunden und Tage, bevor alles zerrann. Ja, sie wollte, sie musste!

Es gefiel ihr, wenn sie solchen Drang in sich spürte. Dieses Empfinden verlieh ihr noch immer das Gefühl eines Gewichts, das sie brauchte, um Leben erträglich zu machen für sich.

Von der Vielfunktionalität ihres weiblichen Daseins war nichts als der Status der Rentnerin geblieben. BfA-Ost gesichert, mit auskömmlichen Beträgen, bei nicht sehr entwickelten Bedürfnissen freilich. DDR-Bürgerin einst. Ihren Staat, die DDR, gab es seit zehn Jahren nicht mehr, aber sie gab es noch.

Ehefrau war sie einst, lange her, Geliebte, Genossin der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 25 Jahre lang, auch vergangen, Wissenschaftlerin, Trägerin von Preisen und Auszeichnungen. Sollte sie vielleicht lieber für sich behalten, heute. Mutter zweier Kinder, einst mit erheblichen Erziehungsproblemen. Inzwischen erwachsen, Sohn und Tochter brauchen die Mutter nicht mehr. Man freut sich, wenn man sich sieht. Großmutter von vier Enkeln, immerhin, aber ziemlich verstreut die Nachkommenschaft, keine ordentlich, bürgerliche Familie. Nicht alternativ, sondern nur verunglückt, alles. So wie das Jahrhundert, das zu Ende geht. Das schrie nach Bilanzen, allerorten und nun verfiel auch sie auf die Idee, ihr Leben zu resümieren. Natürlich hielt sie es für nicht bedeutsam. Aber irgendwie doch, als studiertes Arbeiterkind des verflossenen, damals so genannten Arbeiter- und Bauernstaates. Vollkommen ohne Tradition, historisch gesehen, eine wirkliche Eintagsfliege. Auch wenn sie sich ihren Nachwuchs anschaute. Denen erscheint sie als Fossil aus vergangener Zeit. Vielleicht hatten sie recht, sie wollte es herausfinden. Um ihretwillen. Ehe sie erstickt an ihren asthmatischen Beschwerden, an ihrer Luftnot. Beschäftigung mit sich selbst, eine gewiss beschränkte Tätigkeit. Aber was blieb ihr noch? Ehrenämter für das neue Deutschland, von denen der Bundespräsident sprach? Aber wer wollte eine solche stalinistische Altlast?

Klüger werden durch Erinnern? Erinnerung war doch so beliebig, eine launige Dame nur. Mal ließ sie dieses, mal anderes durchblicken, bot sich feil für beruhigende Sichten, gab Erklärungen, wo und wie immer es Bedarf danach gab. Rechtfertigungen für dies und das, was immer sie brauchte.

Aber sie wollte keine Rechtfertigungen, keine Alibis, sie wollte die Wahrheit.

Sie schaut jetzt überrascht auf diesen letzten Halbsatz und erschrickt. Schon wieder diese Vermessenheit. „Wahrheit“? Sie konnte es nicht lassen. Sie begann bei ihrem unmaßgeblichen kleinen Ich und schon war sie bei der Menschheit.

Die Maße ihres Ichs sind schnell vermessen. Sie lebt heute wieder dort, wo sie ihr Leben begonnen hat und wo sie es aller Voraussicht nach beenden wird. Im Berliner Südosten, zwischen Baumschulenweg, Treptow und Neukölln. Eine mufflige, unzeitgemäße Mobilitätsverweigerin.

Leben an der Grenze, die die Berliner Landschaft bestimmt hat. Die Eltern kamen aus Neukölln, wie viele der Laubenpieper, die sich auf dem ausgedehnten Pachtland am Kanal nach und nach ihre notdürftige Unterkunft geschaffen hatten. Dort verlief dann die Grenze, erst nur durch Holztafeln markiert, auf denen schwarz auf weißem Grund in verschiedenen Sprachen zu lesen stand: „Sie betreten den amerikanischen Sektor von Berlin.“ Das Schild stand kurz hinter der schmalen Holzbrücke, die den Teltower Zweigkanal überquerte und die an Stelle der im April 1945 gesprengten Betonbrücke hinüber führte. Als Kind wunderte sie sich immer, dass dieser Satz im Deutschen nur eine Zeile ausmachte, während er in französischer, russischer und englischer Sprache den Raum von zwei Zeilen brauchte. Sie vermutete deshalb, dass die Wörter in fremder Sprache anderes bedeuteten. Aber der Vater bestritt das. Die Grenze hinderte sie nicht, auch die Ortschaften des väterlichen Lebens in Neukölln zu besuchen.

Der Großvater wohnte dort und schenkte ihr die erste Bluse ihres Lebens. Er bekam seine Rente in Westgeld für jahrzehntelange Arbeit in der Neuköllner Gasanstalt. Dafür durfte er nicht mehr auf sein Grundstück nach Klosterfelde, was er weinerlich bedauerte. Mit den Eltern war sie manchmal ins Stadtbad in die Ganghofer Straße gegangen, aber nach dem Krieg nur noch selten. Früher, hörte sie erzählen, war der Vater Stammgast dort, auch im Fichtesportverein nebenan. Bei ihr hatten diese Neuköllner Ortschaften nur flüchtige Eindrücke hinterlassen, mehr Erzähltes, als Gesehenes. Wer interessiert sich schon in der Jugend für die väterliche Lebenslandschaft? Sie kannte die Neuköllner Ortschaften aus der Nachkriegszeit, da zog sie vor allem das bunte Treiben auf der Karl-Marx-Straße mit ihren Buden und Ständen an, mit den gefüllten Schaufenstern, in denen Waren lagen, die sie ihren kindlichen Lebtag hindurch nicht gesehen hatte.

Jetzt, in ihr Alter hinein, rücken diese Ortschaften wieder ganz nahe. Sie nimmt sie in Augenschein, sucht nach Vertrautem im Fremdgewordenen. In zehn Minuten Radfahrt ist sie am Neuköllner Nachweis, wie der Vater den viergeschossigen rostroten Klinkerbau an der Sonnenallee nannte, in dem er einen Großteil seiner Jugend verbracht haben wollte. Nicht, dass sie das bezweifeln will, aber es verblüfft sie doch im Nachhinein, wenn sie an seine Er-zählungen denkt. Von fünf Jahren Arbeitslosigkeit musste er ab 1931 zwei-mal die Woche hier erscheinen. In dieser Zeit wurde das Gebäude fertig, um das Arbeitslosenheer der späten Weimarer Republik ordentlich verwalten zu können. Der Vater brauchte seinen Stempel, um die 14 RM Unterstützung zu bekommen. Davon musste die dreiköpfige Familie leben. Aber er schien nicht ungern dort gewesen zu sein. Er traf Freunde, Leidensgenossen, Fichtesportler, und man diskutierte, hielt große und kleine Palaver. Auf den Gängen war das verboten, aber draußen standen die Diskussionsgruppen zusammen. „Alle in Erwartung der Weltrevolution“, wie die Mutter sarkastisch die väterlichen Erzählungen kommentierte. „Doch die kam nicht, dafür kam Hitler“, pflichtete er ihr bei.

Immer, wenn Gisela an dem viergeschossigen Bau vorbeifährt, denkt sie an den Vater, auch an den Namen „Brüning-Palast“, an diesen Notverordnungskanzler, dem der Bau zu danken war. Sie weiß nicht, ob dieser Name heute noch geläufig ist. In ihrer kindlichen Erinnerung überragt das Gebäude alle anderen Bauten dort rund um die Sonnenallee. Heute verschwindet es fast, die entstandenen Hochhäuser, Wohnsilos aus den siebziger Jahren, die sie schon über die Mauer hinweg vom Bahnhof Plänterwald aus hatte sehen können, und ein erst jüngst errichtetes Hotel überragen längst den denkwürdigen Bau. Sie bedauert, dass sie den Brüning-Palast nicht von innen kennt. Obwohl sie sicherlich nichts versäumt dabei, was sollte ein Gebäude, in dem die Neuköllner Arbeitslosen verwaltet werden, schon Denkwürdiges enthalten. Sie musste für ihren Arbeitslosenstempel nach Adlershof fahren. Als Arbeitslose Ost hatte sie dort ihrer Meldepflicht nachzukommen. Der Vater würde staunen, wie jetzt alles so modern gehandhabt wurde. Nur noch vierteljährliche Meldepflicht. Für Vorrentner wie sie, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen wollten, so umschrieb man die ihr auferlegte Nötigung, entfiel auch das, und Geld, kam verlässlich aufs Konto. Sie schaute mit innerer Befriedigung auf die im Kontoauszug angegebene Summe. Nur einmal kroch in ihr die Ahnung hoch, dass es vielleicht nicht immer so weitergehen musste mit den Zahlungen. Als man das Geld nicht mehr vierzehntägig überwies, sondern erst am Monatsende, für den schon gelebten Monat, stieg ihr die Angst in den Hals, würgte kurz. Nun war sie Rentnerin geworden, brauchte nicht zu fürchten, ausgesteuert zu werden. Sie wusste nicht einmal, ob das heute auch noch so hieß. Aber der Vater hatte jedenfalls irgendwann diesen Status. Während dieser Zeit verdiente die Mutter aushilfsweise durch Arbeit in der Batteriefabrik Sachs in Schöneweide. Erstaunt wäre der Vater, fassungslos, dass vieles wiederzukehren schien. Geschichte wiederholt sich nicht, war einer seiner unverrückbaren Leitsätze, den auch sie übernommen hatte. Aber er war gut heraus, er musste es nicht mehr erleben, dass es anders war.

Nur sie musste noch, wollte auch wohl, war noch neugierig. Sie hatte noch immer Hoffnungen, freilich wusste sie nicht zu sagen worauf. Und was viel-leicht noch kam? Immer noch oder wieder lebt sie im Grenzland, in ihrer Wohnung am Plänterwald, die zu den ersten Plattenbauten vom Typ Q 3 A gehört, die der Arbeiter- und Bauernstaat gebaut hat. Erstbezogen wurde die von den Eltern zum 10. Jahrestag der jungen Republik. Damals verließen sie die Laube, bezogen die erste Wohnung ihres seit Jahrzehnten gemeinsamen Lebens. Und sie ist in das bescheidene Quartier zurückgekehrt, auch, weil die Mutter sie brauchte in ihrer Hinfälligkeit. Es war eine naheliegende Möglichkeit, nachdem der Grünauer Hauswirt Eigenbedarf für ihre komfortable Dreizimmerwohnung angemeldet hatte. An dieser Behausung hing sie sehr. Sie schien ihr der Beweis ihres sozialen Aufstiegs in der DDR. Der nun längst hinter ihr liegt. Jetzt lebt sie wieder dort, wo sie herkommt. In bescheidenen Verhältnissen. So kam sie dem Gang der Dinge entgegen, begriff sofort, dass sie ihren Abstieg planmäßig organisieren musste, um nicht ins Stolpern zu geraten. Das entsprach der herkömmlichen Ordnung, die nach der Wende nun vorerst endgültig wieder hergestellt ist. Ordnungen erheben immer diesen Anspruch. Sie kannte es auch von der vorletzten, nun vorerst endgültig verschwundenen sozialistischen Ordnung der Verhältnisse.

Wenn sie zehn Minuten den Dammweg entlang fährt, zu den väterlichen Ortschaften Richtung Süden, kommt sie über die Grenze, die am Heidekamp-graben entlang führte, zwischen zwei verschiedenen Arealen von Kleingartenanlagen mit gleichen Namenstypen. „Drosselgarten“, „Vogelsang“ und „Kuckucksheim“, signalisieren vergleichbare Glückserwartungen, Wohlbehagen im beschaulichen Winkel, diesseits und jenseits der zwischenzeitlich scharf bewachten Grenze. Die Gartenkolonien mit ihren Lauben und Bepflanzungen bilden an dieser Stelle das Verbindungsstück zwischen den Berliner Stadtbezirken Treptow und Neukölln, die, je weiter man in ihren Kern vordringt, ihren unterschiedlichen Charakter offenbaren. Jedenfalls für Gisela, die Spazierfahrerin, die die Grenze noch in sich trägt, wenn sie den mit Goldrute und Brennnessel bewachsenen Streifen quert, ein Grün, das notdürftig den Müll bedeckt, der hier abgelegt wurde. Sie fährt durchs Planetenviertel, das sich südlich und nördlich der Sonnenallee erstreckt. Hier tragen alle Straßen Sternbildnamen. Dabei fällt ihr auf, dass es auch in ihrer Nähe eine Orionstraße gibt. Aber diese Namengebung hatte mit der nahegelegenen Sternwarte zu tun. Sie denkt nicht, dass die östlichen Stadtväter in den Sechzigerjahren, als diese Straßen benannt wurden, eine Verbindung zum Neuköllner Planetenviertel schaffen wollten. Das Planetenviertel kennt sie aus ihrer Kindheit, gegenüber der Jupiterstraße, wo es jetzt einen Aldi-Markt gibt, war sie manchmal ins Kino gegangen. Das hieß auch Orion. Für 25 Pfennige, West, versteht sich, die sie nicht immer hatte. Aber man nahm auch ihr Geld, wenn sie 1:4 zahlte, ließ man sie hinein. Allerdings ging sie nur selten in diese Klitsche, wie der Vater das Kino nannte. Die Wildwestfilme dort waren ihr zu albern. Sie stellte höhere Ansprüche, ging schließlich auf die Oberschule, suchte anderes.

Fährt sie heute in diese Richtung, trifft sie Leute, an die damals nicht zu denken war. Mit ihrem nicht sehr ausgeprägten Unterscheidungsvermögen hält sie die Leute für Türken, Südosteuropäer jedenfalls, Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des einstigen Jugoslawien vielleicht. Die bewohnen jetzt die Häuser im Planetenviertel, die aus dem Wohnungsbauprogramm der Weimarer Zeit und der ersten Jahre von Hitlers Macht stammen. Mit kleinen Zimmern und großen Küchen waren sie vor allem für kinderreiche Familien vor-gesehen. Kanonenfutter für den künftigen Krieg wuchs in diesen Sozialwohnungen heran. Heute hat man den dreigeschossigen Häusern noch eine Etage aufgesetzt. Die Fassaden verraten, dass sie vor nicht allzu langer Zeit renoviert wurden, es gibt erst wenige Graffitis an Wänden und Türen. Die Häuser und Wohnanlagen mit ihren hohen runden Durchgängen zu begrünten Höfen und Gartenanlagen, ähneln den Bauten jenseits der Grenze in ihrem Stadtbezirk. Nur die Belegung ist eine andere. Ost-Rentner überwiegend hier, nicht-deutsche Familienverbände dort. Gisela würde gern sehen, wie sie wohnen dort. Sie beobachtet Familien, die in den kleinen Vorgärten auf Decken zusammensitzen, vor den Hauseingängen ihre Teppiche reinigen. Deren Leben spielt sich anders als auf der anderen Seite ab. Sommers in den von Büschen und Bäumen begrünten Höfen. Menschengruppen sitzen zusammen, die Kinder auf dem Spielplatz daneben. Außerhalb der Familien gesellen sich die Männer, rauchend, laut palavernd, die Frauen mit Kopftüchern und knöchellangen Kleidern, strickend, miteinander redend. Gisela wüsste gern, worüber sie sprechen. Nein, sie hat keine Ahnung, welches Leben sich jetzt hier abspielt. Nur in den Reihenhäusern mit den kleinen Gärten hinter dem Haus in der Widder- oder Steinbockstraße, da ahnt sie, wie es zugeht. Dort in einem der genossenschaftseigenen Häuser wohnt auch ihr Cousin, ein wohlbestallter Senatsbeamter mit Frau und zwei erwachsenen Töchtern. Deren Ansprüche überforderten bisweilen den gewiss nicht armen Mann. Die Wohnsiedlung der Genossenschaft „Ideal“ war nach den wohnungsbaulichen Reformvorstellungen seit Beginn der 1920er Jahre gebaut worden. Sie verdankte ihre Realisierung einem rührigen sozialdemokratischen Bürgermeister in Neukölln. Heute hat der Senat die Wohnungen an die Mieter verkauft. Natürlich nur an die, die solche mehrgeschossige Reihenhaushälfte bezahlen können.

Vollkommen fremd sind ihr dagegen die Wohnsilos, die während der Grenz-zeit gebaut wurden. Die lernt sie erst jetzt kennen. In ihrer Kindheit gab es, sowohl im Gebiet zwischen Sonnenallee und Neuköllnischer Allee, als auch in dem zwischen Sonnenallee und Kiefholzstraße, ausgedehnte Laubenareale. Über die Neuköllnische Allee hat ihr Schulweg geführt, bei dem sie zweimal über die Grenze musste. Einmal, wenn sie über die Brücke im Verlaufe der Britzer Allee ging. Das zweite Mal, wenn sie nach einem weiten Weg über die Neuköllnische Allee, den Schwarzen Weg entlang über die Sonnenallee, den Heidekampgraben erreicht hatte. Dort betrat sie dann wieder den sowjetischen Sektor, in dem ihre Schule stand. In der Kiefholzstraße, wo sie heute noch steht, weithin sichtbar.

Den Schwarzen Weg gibt es heute überhaupt nicht mehr. Sie könnte, auf der Sonnenallee stehend, nicht einmal mehr die Stelle angeben, wo der einst verlief. Zwischen Jupiterstraße und Grenze setzte man in den Sechzigerjahren einem ausgedehnten Häuserkomplex, der ihren Schulweg verschwinden ließ. Auf der anderen Seite der Grenze baute die DDR Wohnhäuser nach dem damaligen Standard. Später geborene, die die Häuser bewohnten, mögen die Sonnenallee immer nur als dieses kurze Ende bis zur Grenze gekannt haben. Ihre Sonnenallee ging immer bis zum Hermannplatz. Denn oft genug war sie mit der Straßenbahnlinie 95 bis nach Neukölln oder Tempelhof gefahren. Später freilich war die Fahrt zwischen der Haltestelle Schwarze Weg und Baumschulenstraße unterbrochen, man musste aus der 95 West aussteigen und an der Ecke Baumschulenstraße in die 95 Ost einsteigen, die dann bis zum Krankenhaus Köpenick fuhr. Erst konnte man noch den gleichen Fahrschein benutzen. Das änderte sich bald, man brauchte Westgeld und so wurden ihre Straßenbahnfahrten nach Neukölln hinein immer weniger.

Später, nach dem Mauerbau, war sie nur noch selten hier vorbeigekommen. Flüchtig nur schaute sie dann aus dem Busfenster auf das Ende ihrer Welt. Längst hatte sie sich angewöhnt, den Schlagbaum und die Sichtblenden über der Baumschulenbrücke als politische Unabdingbarkeiten hinzunehmen. Sie wollte die Szenerie gar nicht so genau sehen, war froh, wenn sie schnell vorbeifuhr. Die Situation war ihr das Ergebnis einer politischen Entwicklung, die sie nicht beeinflussen konnte, nur akzeptieren. Dabei fühlte sie sich auf der Seite derer, die diese Spaltung nicht gewollt hatten.

Sie trägt diese Trennung als Phantomschmerz immer noch in sich. Sie begegnet ihr auf Schritt und Tritt in ihrem vertraut, fremden Gelände. So, wenn sie die Wohnsiedlungen durchstreift, denen die Laubenareale ihrer Kindheit weichen mussten.

Der Häuserkomplex auf der Neuköllner Seite galt bei seinem Bau als Nonplusultra moderner Architektur. Nicht ganz zu Unrecht, wie sie sich bei ihren Radfahrten durchs bebaute Gelände überzeugen kann. Ein Operettenviertel, denkt sie, wenn sie von der Neuköllnischen Allee kommend, die nach Opern-, Lied- und Operettensängern benannten Straßen durchfährt. Heinrich Schlusnus, Leo Slezak, Fritzi Massary, Joseph Schmidt, Michael Bohnen haben hier ihre Straßen. Sie sind nun jetzt alle Trabanten der Sonne, die der breiten Allee ihren Namen gibt und die sich darüber nur wundern kann.

Das Viertel mit ihrem alten Diamant-Damenrad vermessend, sieht sie das Bemühen der Planer, durch Gesamtgliederung der Anlage, durch Fassaden-gestaltung und unterschiedliche Höhe die übliche Monotonie zu vermeiden, einen bewohnbaren Raum zu schaffen. Ob das wirklich gelungen ist, wagt sie zu bezweifeln. Ihr als Kleingärtnerkind fehlt natürlich der Maßstab, moderne Architektur zu beurteilen. Ihr Urteil zählt nicht, wenn sie zugibt, dass es für ihr Wohlgefühl hier zu viel Beton gibt. Dabei gibt es Grün: Bepflanzungen zwischen den Häusern, Kletterpflanzen an den Fassaden, transportables Grün in Kübeln, Hochbeete. Der dominierende Eindruck der Betonstadt entsteht durch eine zusammenhängende Ebene, die für Autos da ist. Sie sind mit Zubringerstraßen zur Sonnenallee verbunden, die nahe den Häusern zu über-dachten Autostellplätzen führen. Die Straßenzüge haben in Abständen Über-gänge, die die eine Seite der Häuserfront mit der anderen verbinden. Sicherlich wollten die Planer, dass die Leute gefahrlos die Straße überqueren können. Aber sie sieht dort oben niemanden. Bäume stehen mit den Wurzeln im kleinen Erdgeviert inmitten von Beton. Ihre Stämme dürfen nicht dicker werden, sonst müssten sie die Mauern sprengen, die sie umgeben. Die Kronen können sie erst auf den hoch gelegenen Übergängen ins Licht recken, alles andere bleibt im Dunkel. Auch hoch über der Sonnenallee führt ein Übergang von der einen Seite der breiten Straße zur anderen. Er ist zugebaut, besitzt Fenster. Die Autos und Busse fahren durch diese Straßenüberbrückung. Als sie das erste Mal nach der Grenzöffnung mit dem Bus darauf losfuhr, zog sie unwillkürlich den Kopf ein.

Sie war nicht überrascht, als sie in der Berliner Abendschau erfuhr, dass diese Wohnsiedlung als Notstandsgebiet gilt. Viele Wohnungen stehen leer, auch war längst der erste Glanz von den Fassaden.

Sie vermisst den weiten Blick über die Gärten, den sie auf ihrem Schulweg hier hatte. Dort, wo die Sonnenallee vom Schwarzen Weg gekreuzt wurde, gab es damals einen aus Brettern gezimmerten Laden, der ein Kioskfenster zur Straßenseite hin offenhielt. Dort hingen bunte Zeitungen, Kaugummis und Bonbons gab es dort. Manchmal konnte sie sich einen Schokoladenriegel kaufen. Die zehn Pfennige (West) hatte sie, wer weiß woher, bekommen.

Aber die Sonnenallee war jetzt wirklich eine andere geworden, Betonallee fand Gisela passender. Nur am Heidekampgraben entlang, der die Grenze bildete und die beiden Wohnareale Ost und West voneinander trennt, hat sich auf der westlichen Seite am trüben Wasser des schmalen Grabens ein Streifen breiten Buschwerks erhalten, das den Spazierweg wie eine Kuppel überwölbt. Auf der östlichen Seite gibt es die übliche Busch- und Goldrutenvegetation, die den ehemaligen Mauerstreifen inzwischen begrünt hat. Dahinter beginnen die DDR-Plattenbauten in ihrer schlichten Monotonie. Die Blöcke stehen so zueinander, dass sie offene und geschlossene Quadrate bilden. Sie stehen großzügig im Gelände, lassen viel Raum für Grün, die herangewachsenen Bäume und Sträucher geben ihnen menschliche Maße. Sie sind jetzt, nachdem sie, großzügig durch Senatsfördermittel unterstützt, saniert und modernisiert sind, kein schlechtes Quartier. Aber natürlich nur für solche Modernitätsverweigerer wie diese Spaziergängerin hier. Die das westliche Wohnareal nicht nur der Straßennamen wegen operettenhaft findet.

Dagegen hatte man die schnurgeraden Straßen auf der gegenüberliegenden Seite der Neuköllnischen Allee zum Teltower Stichkanal hin, wo sie ihren Schulweg heimwärts fortsetzen musste, nach Wissenschaftlern und Industriellen benannt. Das Laubenareal auf dieser Seite war hier Industrie- und Gewerbeansiedlungen gewichen. Bosch hat hier seine Straße, Haber, auch Alfred Nobel, der den Sprengstoff entwickelt hat, mit dem man ihre Brücke am Ende des Krieges in die Luft sprengte. Sie saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals wie in einer Falle. Alle Brücken waren kaputt.

Sie sitzt in ihrer Q3A-Wohnung, sortiert die Erinnerungen an die Brücken ihrer Kindheit. Aber eigentlich will sie den Zumutungen nachfragen, zu denen sie sich bereitgefunden hat in ihrem Staat, der DDR. Dem Zusammenhang nachgehen, der zwischen beidem besteht, oder gibt es ihn nicht?

Und wieder gibt es neue Zumutungen, die sie erträgt, fraglos.

Längst schon hat sich herausgestellt, dass die DDR Bevölkerung nicht nur aus Tätern und Opfern bestand. Auch sie ist weder noch, jedenfalls scheint es ihr so. Um als Täter in Frage zu kommen, war ihre Reichweite wohl zu gering. Sie hatte meistens mit den Kindern zu tun, wenn es um Wesentliches ging in ihrem Land. Da sie auf Harmonie aus war, unterließ sie Widerspruch. Als Opfer kommt sie deshalb auch nicht in Frage. Sie will jetzt keine nachgetragene Dissidenz liefern, auch bloße Mitläuferschaft wollte sie für sich nicht veranschlagen. Sie kennt solche Mitläufer zur Genüge, die jetzt angeben, sich nur aus Angst oder Anpassungszwang ins Unrechtsregime geschickt zu haben. Manche hatten die Faust des Widerstands in der Tasche geballt. Prominente Leute unter ihnen heute, einige hat sie sogar in ihrer unmittelbaren Umgebung erlebt. Natürlich blieb deren Opposition damals verborgen. Aber auch zu diesen Leuten will sie sich nicht gesellen. Sie kann schwer ausmachen, wozu und wohin sie gehört und wem sie sich zugesellen möchte. Mitläuferin nicht, eher Mitmacherin mit beschränkter Befugnis. Sie besaß durchaus eine Vorstellung von Verantwortung mit der sie in ihrem Staatswesen gelebt hat. Sie will die jetzt nicht auf die Führung abwälzen. Gisela wollte und wusste, was sie dachte und tat. Großenteils jedenfalls. Spät erst nahm sie an sich selbst die Beschwichtigungen wahr, mit denen sie sich erträglich gemacht hatte, was sie eigentlich nicht hätte ertragen wollen. Der Sozialismus, eine durch die Praxis für lange Zeit diskreditierte Idee. Daran hatte sie ihren Anteil. Dabei standen nun all die Widersprüche wieder dringend im Raum, um derentwillen nicht nur der Vater auf die Idee einer anderen Gesellschaft verfallen war.

Die Gegend zwischen Teltower Stichkanal und Spree, zwischen Plänterwald und Späthsfelde war nicht die einzige Ortschaft ihres Lebens. Ihre Werktage hat sie im Zentrum Berlins verbracht. Adressen in bester Lage, wie es heute heißt, zwischen Gendarmenmarkt, Hausvogteiplatz, Jägerstraße, Tauben-straße und der Staatsbibliothek Unter den Linden. Hier, wo heute wieder Bankhäuser, Galerien, Akademien ihr Domizil haben, ging sie ein und aus. Jetzt hat sie dort nichts mehr zu suchen. Das verbucht sie unter die Wechsel-fälle des Lebens, von denen sie sich damals freilich nichts hatte träumen las-sen.

Schwindende Gewissheiten

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