Читать книгу Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold - Страница 8
ОглавлениеGajaneh
Er stand vor der Eingangstür zu den Rheinterrassen, als sie sich, vom Bahn-hof Friedrichstraße kommend, näherte. Freudig kam er ihr entgegen, nahm ihre Rechte in beide Hände. Große Hände waren es, ihre verschwand darin vollständig. Mit selbstbewusster Gewandtheit hielt er ihr die Tür zum Restaurant auf, um dann als erster hindurchzugehen, führte sie zur Garderobe, nahm ihr den dünnen Mantel ab. Er hatte zwei Plätze bestellt, an die ein befrackter Kellner sie führte, zum Sitzen aufforderte. Dann bestellte er für sie beide den Aperitif, den der Kellner anbot, nahm die Karte zur Hand und sagte, er hoffe, es sei ihr so recht. Ihr war es so und auch anders recht. Sie bewunderte die Gewandtheit, mit der sich Johannes bewegte. So nannte sie ihn für sich jetzt.
Später erinnerte sie sich nicht mehr an die Einzelheiten dieses Abendessen. Nur ein Vorfall blieb ihr im Gedächtnis und die Aufregung, die er ihr bereitete, und das Gefühl, der Zielpunkt aller Blicke im Lokal zu sein. Auch ihr Begleiter schien die Sache fatal zu finden, obwohl er unausgesetzt das Gegenteil behauptete, als er ihr mit einem Taschentuch die Soße vom Jäckchen putzte, das sie über dem ausgeschnittenen Kleid trug. Sie hätte das lieber schnell und unauffällig selbst gemacht, aber er ließ es nicht zu, putzte ausdauernd, zog ein Fläschchen Fleckenwasser aus der Innentasche seines Jacketts und rieb weiter. Sie fürchtete, dass der Stoff litt, und suchte sich ihm zu entziehen. Aber es dauerte noch eine Weile, bis er abließ, von ihrem Kleid.
Das blieb der einzige negative Eindruck dieses Abends. Auch das Bezahlen ging reibungslos. Anders als sie es mit Rainer, ihrem Jugendfreund, erlebt hatte. Bei dem hatte das Geld nicht gereicht, sie mussten die Groschen müh-sam zusammenkratzen. Dann langte es noch nicht. Da entdeckte Rainer einen Bekannten, stürzte auf den zu und endlich war das Geld zusammen, auf das der Kellner die ganze Zeit über gewartet hatte. Solche Peinlichkeit nahm ihr die Lust zu weiteren Unternehmungen. Das war jetzt hier anders. Der Mann konnte sich bewegen, sie fühlte sich aufgehoben in seiner Nähe.
Als sie den Weg zur Oper gingen, erzählte er von seiner Begeisterung für die Musik, er spielte selbst ein wenig die Geige. Aber leider sei es zu spät, um Virtuosität zu erreichen, meinte er ernst. Dabei nannte er Violinkonzerte mit Namen, schwärmte über ihre Ausdruckskraft. Sie konnte nicht mitreden und schwieg, gestand ihm, noch niemals in einem wirklichen Konzert gesessen zu haben. Nur in der Waldbühne hatte sie Count Basie gehört, aber das wollte er nicht gelten lassen als musikalisches Erlebnis. Das sah sie anders, aber sie schwieg, weil er über alles besser Bescheid wusste als sie. In Berlin lebte er seit fünf Jahren, hatte, im Unterschied zu den Jahren in Dresden, hier mehr versäumt als mitbekommen. Das solle jetzt anders werden, sagte er mehr für sich als für sie. Auch Ballett habe er erst zwei- oder dreimal erlebt. Er freue sich auf Gajaneh, zusammen mit ihr. Er sprach über Chatschaturjan, den Kaukasier, der in diesem Ballett die Musik seiner Heimat so verarbeitet habe, dass der mitreißende Optimismus des sowjetischen Volkes ausgedrückt wird. Das jedenfalls habe auch die Partei des großen Landes bestätigt. Die Oper habe mit diesem Ballett auch in Indien gastiert, mit großem Erfolg.
Der mitreißende Rhythmus der Musik gefiel ihr. Es ging wild auf der Bühne zu, Säbel wurden geschwungen. Das erinnerte sie an Tänze, die sie während der Weltfestspiele auf der Freilichtbühne im Plänterwald gesehen hatte. Als sie davon erzählte, ging er darauf nicht ein. Es störte sie nicht, weil sie voll-ständig unter dem Eindruck seiner Komplimente stand, die er ihr wegen ihres Aussehens machte. Er fand den leuchtend blauen Grundton des Brokatkleides wunderbar zu ihrem blonden Haar passend, lobte den Sitz des engen Kleides, das ihre schlanke Figur vorteilhaft betonte. Sie war selig. Auch hier erinnerte sie sich später nur an eine dumme Situation, die natürlich wieder durch sie verursacht worden war, als sie ein Konfektstück fallen ließ, das er ihr in der Pause aus der Schachtel zugereicht hatte. Er ging einige Reihen nach vorn ins Parkett, suchte danach und hob es auf. Dabei musste er Leute behelligen, was er auf sich nahm, weil ihm der Gedanke, es könnte zerquetscht am Boden liegen, peinvoll war, wie er Gisela erklärte. Seine Bemühungen waren ihr unbehaglich, weil sie ihr das eigene Versagen so folgenreich vorführten. Aber sie akzeptierte, was er tat. Erleichtert war sie, als er das Stück unversehrt in der Hand hielt und hinausging, um es in die Toilette zu werfen.
Auf dem Heimweg bot er ihr den Arm, sagte, dass er sie nach Hause bringen würde. „Wenn es dir recht ist“, setzte er hinzu. In den Rheinterrassen hatte er ihr ohne besondere Umstände das Du angeboten, worüber sie froh war. Jetzt gebrauchte er das erste Mal ihren Vornamen. „Ich bin sehr glücklich, Gisela, mit dir so gehen zu können“, und nach einer Pause: „Ich denke, ich habe ein Recht auf Glück.“ Als sie das hörte, schaute sie schräg nach oben zu ihm, versuchte herauszufinden, wie er es meinte. Seine Worte erstaunten sie. Noch niemals hatte sie darüber nachgedacht, ob sie zum Glück berechtigt war. Ei-ne solche Erwartung erschien ihr zu hochtrabend. Es stellte sich vielleicht ein, ja es musste sich einstellen, dachte sie, während ihr zugleich die Worte der Mutter in den Sinn kamen, die auf von ihr geäußerte Ansprüche lachend gesagt hatte: „Weißt du, was deins ist? Das, was die Hühner legen, nur die Eier nicht.“ Schnell begriff sie, es war offensichtlich nicht viel, worauf man einen Anspruch anmelden konnte. Außer der notwendig zu erledigenden Arbeit, da konnte man nicht nur, nein, da musste man zugreifen. Vom Recht auf Glück war niemals in ihrer Familie die Rede gewesen. Solche Wörter lernte sie erst jetzt kennen. Johannes erzählte von schlimmen Erfahrungen in den letzten Monaten und von Enttäuschung, die er durch einen vertrauten Menschen erlebt hatte. „Meinst du deine Frau?“, brachte Gisela jetzt ohne Umschweife heraus. Die Frage brannte ihr seit langem auf der Zunge. Aufseufzend sagte er: „ Ja, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Lebe aber getrennt von der Familie.“ Durch seine Abwesenheit wolle er die Frau zur Einsicht bringen, was sie an ihm verlöre. Sie würde es schon bemerken, wenn sie jetzt mit den Kindern allein zurechtkommen müsse. Er habe Kinder und Haushalt versorgt, sie, eine Schauspielerin, am Abend im Theater abgeholt. Überhaupt verdanke sie ihm, dass Ordnung in ihr Leben eingezogen sei, damals als er sie auf einer Parteischule kennengelernt habe. Aber jetzt könne er ihre Launen einfach nicht mehr ertragen, die Szenen, die sie mache, wo er Dankbarkeit zu erwarten habe. Er erkundigte sich, woher sie von seinen Verhältnissen wisse, und nickte, als sie ihre Kolleginnen als Quelle angab. Das hätte er sich denken können, aber ein Frauenheld, wie man dort vermute, sei er nicht, sondern ein höchst moralischer Mensch. Er brauche Klarheit und würde sie herstellen, nur sie müsse ihm etwas Zeit lassen dabei.
Während sie ihm mit fast angehaltenem Atem zuhörte, empfand sie beklommen, dass sie keine Rolle spielte. Es schien für ihn schwierig, aus der Situation herauszufinden. Sie würde die unguten Gefühle, die ihr diese Entdeckung eingaben, zurückstellen. Ja, sie würde ihm Zeit lassen, geduldig warten, bis er nur noch für sie da war. Dann würde sie sich dem großen Mann überlassen. Beide nullten sie mit ihren Lebensaltern in diesem Jahr, er eine Dekade voraus. Gern hätte sie mehr gewusst, über die Frau, die Kinder, aber sie würde ihn nicht bedrängen, warten, bis er von sich aus sprach.
Auch später waren seine Erzählungen niemals so, dass sie sich ein Bild machen konnte. Es störte sie nicht, sie blieb ungeprüft seine Partei.
Längst hatten sie die S-Bahn verlassen, an jenem Juniabend. Die Luft war lau und es war nicht ganz dunkel, wie an Juniabenden manchmal. Im Plänterwald machten sie einen Spaziergang, den sie vorgeschlagen hatte, weil sie die Stunde verlängern wollte, die sie zusammen waren. Dort war es kühler als inmitten der Häuser. Eine Vielzahl ununterscheidbarer Geräusche war zu hören. Am Boden, in Büschen und auf Bäumen regte es sich und wisperte. Mit einem Trällerton meldete sich eine Nachtigall, ein anderer Vogel antwortete mit dem sprichwörtlichen Schlag. Vor so viel Frühling konnte sich niemand verschließen. Er hatte den Arm um sie gelegt, sie reichte ihm bis zur Schulter. Als er sie an sich zog, fühlte sie sich eingehüllt. Seine Umarmung spürte sie am ganzen Körper. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie überallhin. Als er sich an ihren Lippen festmachte, zu saugen begann, suchte sie sich loszumachen. Aber er bemerkte ihr leises Widerstreben nicht, presste sie noch fester, ließ sich auf die Knie fallen und umschloss ihren Unterkörper. Sie folgte der Bewegung ihres eigenen Inneren und seinem Druck und glitt zu ihm ins Gras. Er streichelte ihre Beine, zerrte an ihrem engen Kleid, bis sie ihm half, es hochzuziehen. Ihre Mithilfe erschien ihm als Einverständnis. Ihre Erregung wich einer neugierigen Aufregung, als sie sah, wie er einen Pariser hervorzog. Wie er ihn überstülpte, ahnte sie mehr, als dass sie es sah. Sie bestaunte seine Umsicht und erschrak, als er mit großem Druck in sie einzudringen suchte. Sie stemmte sich mit den Füßen gegen ein Grasbüschel, versuchte nach oben zu entkommen. „Nicht ausreißen“, sagte er mit seiner gewöhnlichen Stimme und ließ von ihr ab. Er war jetzt ganz nüchtern, fragte, ob sie noch niemals auf diese intime Weise mit einem Mann verkehrt hatte. Sie schüttelte den Kopf, während sie sich erhob, suchte ihre Schuhe und sah erst jetzt, dass er seinen Mantel vorsorglich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Das rührte sie, obwohl es zu dem Pariser passte und ihr auf eine unerklärliche Weise missfiel.
Danach setzten sie ihren Spaziergang fort, er seinen Arm um sie, wie zuvor. Sie wartete auf Worte von ihm, noch, nachdem er sich als ein leidenschaftlicher Mann erklärt hatte. Dann glitt er zu anderen Dingen, während sie ihm mit halbem Ohr zuhörte und noch immer wartete. Worauf, wusste sie aller-dings nicht. Währenddessen sagte sie sich, dass sie nun ihre Unschuld verloren hatte. Sie dachte in gehobener Redeweise an diesen Vorgang, weil sie ihn aus der Literatur kannte. Dann fiel ihr ein, dass es so auf sie gar nicht zutraf, denn sie hatte ihr Jungfernhäutchen schon einige Jahre zuvor auf dem Stuhl der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses Köpenick verloren, wohin man sie wegen einer Bauchentzündung gebracht hatte. Als sie nach dem Abstrich blutete, schaute ihr der Arzt das erste Mal aufmerksam ins Gesicht. Er schüttelte ein wenig den Kopf, lächelte verlegen und sagte fast unhörbar: „Tut mir leid, du hättest doch ein Wort sagen können.“ Was sie hätte sagen sollen, blieb Gisela lange Zeit unklar. Als sie jetzt daran dachte, fand sie es eigentlich nicht schade, dass es damals auf diesem immerhin sterilen Tisch geschehen war. Kurz zuvor hatte es ihr leidgetan, sehnsüchtig hatte sie den Erzählungen von Irene gelauscht, die bei einer Paddeltour ihrem Achim ihre Unschuld geschenkt hatte. So jedenfalls hatte die sich ausgedrückt. Deren Freund war es wichtig, dass er es war, der sie zur Frau machte. Gisela hatte das Gefühl, dass es hier, in ihrem Fall, darauf ohnehin nicht angekommen wäre. Das machte sie unsicher und sie hätte gern darüber gesprochen. Aber sie schwieg.
Nach einer guten Stunde näherten sie sich langsam dem Umkreis von Giselas Wohnort, in der Nähe der Späthschen Baumschule. Ihre Beklommenheit nahm zu, sie wollte ihn zur Rückkehr bewegen, erinnerte an die letzte S-Bahn. Auf ihre Versicherung hin, gleich zu Hause zu sein, verabschiedete er sich, wieder mit einem langen saugenden Kuss. Allein, ging sie in der Mitte der breiten Allee, die aus Baumschulenweg hinausführt und dann Späthstraße heißt. Der Asphalt war beidseitig von großen Ahornbäumen gesäumt, die bizarre Schatten warfen. Dann bog sie in die Laubenkolonien ein, wappnete sich gegen die dichten Büsche, die rechts und links schattenhaft Wesen entstehen ließen, über die sie immer wieder erschrak. Sie überquerte die Britzer Allee, ging schnellen Schrittes auf ein verschlossenes Eisentor zu, an dem das Schild „Gemütlichkeit” hing, der Name ihrer Laubenkolonie, in der sie wohnte.
Sie lebte hier, so weit ihre Erinnerung zurückreichte. In Kindertagen nahm sie an den gemütvollen Namen, die die Kleingartenanlagen trugen – „Harmonie“, „Hollunderbusch“, „Lustige Brüder“ und „Eintracht“ – keinen Anstoß. Sie war mit großer Selbstverständlichkeit hier aufgewachsen. Erst als sie zur Oberschule ging, titulierte man sie als Laubenpieper. Plötzlich empfand sie die Lächerlichkeit dieser Namen. Sie verschwieg ihren Wohnort selbst vor Freunden, schämte sich ihres Herkommens und fühlte sich vom Schicksal benachteiligt, weil sie in ein solches Milieu hineingeboren worden war. Den Eltern gestand sie das nicht, aber die ahnten etwas, nannten sie verstockt. Die Mutter suchte in ihre Zurückgezogenheit einzudringen, den Panzer aufzubrechen. Nur ihrem Schulfreund Rainer war es gelungen, bis zu ihrer Wohnlaube vorzudringen. Zu ihrer Überraschung nahm er gar keinen Anstoß daran. Aber auch das machte sie nicht sicherer. Es wurde ihr zur Gewohnheit, ihre Begleitungen vor dem Eingang in die Gartenanlagen zu verabschieden. Jetzt, bei diesem großen Mann hatte sie das Gefühl, mit diesem Spiel ans Ende kommen zu müssen. Sie erwartete sein Verständnis, hatte er nicht selbst freimütig von den beschränkten Verhältnissen seiner Kindheit erzählt. Aber sie zögerte noch, sich ihm gegenüber zu bekennen, sie ahnte, dass es dann keinen Rückzug für sie mehr gab. Ihre Zurückhaltung entsprang nicht allein ihrer Befangenheit, sondern auch spielerischem Drang. Sie wollte sich ausprobieren und erkennen, sich vergeben und bewahren, ausliefern und sie selbst sein.
An diesem Juniabend spürte sie, das ging nun zu Ende. Es bewegte sie, dass sie schon wieder geflunkert hatte. Ihre Zwiespälte beschäftigten sie mehr als das, was zwischen ihnen geschehen war. Das erschien ihr als das Unabwendbare, dem sie sich stellen musste. Sie würde es tun, sie wollte dem Mann nahe sein.
Als sie auf dem schmalen Gartenweg endlich vor ihrem Häuschen stand, waren die Gedanken ruhiger geworden. Sie spürte vor allem Müdigkeit. Unbemerkt schlüpfte sie ins Bett, das in einem winzigen Zimmer neben der Wohnküche stand. Die Eltern schienen sie nicht zu hören. Gedanken, die sie jetzt noch erreichten, verschob sie auf morgen. Dann wollte sie alles ruhig und neu bedenken, dachte sie, während sie einschlief.