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Von Reiseplänen und Reisen

Der April näherte sich seinem Ende und Gisela wartete ungeduldig auf ihre große Reise. Sie besaß schon die Fahrkarten und die Reservierung für den Schlafwagen, der sie in zwei Nächten und einem Tag nach Moskau bringen sollte. Es war das erste Mal, dass sie Johannes besuchte, auch fuhr sie das erste Mal in die ferne Stadt. Er schrieb ihr, sie würden über den 1. und 2. Mai, dem Internationalen Kampftag der Arbeiter, in Moskau bleiben und dann zwei Wochen mit einem Freundschaftszug nach Südosten fahren, bis nach Baku, zum Kaspischen Meer.

Eine gewisse Verlegenheit empfand sie, wenn sie daran dachte, wie sie den Eltern die Notwendigkeit der Reise nahebringen sollte. Der Mutter würde sie drei Wochen lang allein die Babypflege überlassen, Ingolf würde am Abend vergeblich auf sie warten. Aber die Mutter reagierte großzügiger als erwartet. Gisela solle ruhig ihren Mann besuchen, sich umschauen auf ihrer Reise. „Um den Jungen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist gut aufgehoben hier bei uns“, meinte sie ruhig und gleichmütig. Der Vater erinnerte sich an eigene Reisepläne, von denen die Tochter schon mehrmals gehört hatte. Jetzt hörte sie mit neuer Aufmerksamkeit zu. Dem Ruf der Sowjetmacht folgend, wollten sie, eine Gruppe Fichte-Sportler, um 1930/31 im Kaukasus eine Kommune gründen. Die Eltern, die weder Arbeit noch Wohnung, nur Giselas Bruder hatten, wollten mit. Mit Werkzeugen und Kleintieren waren einige voraus gezogen, von denen die Eltern aber dann ein Jahr lang nichts hörten. Dann kam ein Brief von Erwin, dem Freund. Die Werkzeuge, die sie vorausgeschickt hatten, wären nicht eingetroffen, sondern spurlos verschwunden. Die Verhältnisse wären unvorstellbar schwierig, sie sollten bleiben, wo sie sind, mit dem kleinen Kind, schrieb er den Eltern.

Ihren Jugendplan besprachen sie in jedem Jahrzehnt ihres Lebens neu. Zu-letzt vor einigen Jahren erst, als Hertha Tieke, eine von denen, die damals gereist waren, überraschend bei ihnen vorsprach. Es war 1956, sie kam aus einem fernöstlichen Lager in die DDR. Sie stand eines Tages vor der Lauben-tür. Die Hertha ist zurück, hatte der Vater gerufen, während er die Frau hin-einließ. Sie saßen lange in der Wohnküche zusammen, erzählten. Ihr Mann, ein Ingenieur, war 1939 an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden. Sein Schicksal blieb ungewiss, wie auch das des einzigen Sohnes, der von der Mutter getrennt worden war. „Wer weiß, was uns geblüht hätte“, meinte der Vater, nachdem sie gegangen war. Dann setzte er für die Tochter hinzu, „Aber jetzt, nach Stalin, ist es anders.“

Die Bibliothekskolleginnen beglückwünschten Gisela zu ihrer großen Reise. Genosse Wirker erzählte ihr von der Freundschaftswoge, die ihm, als Mitglied einer Delegation entgegengeschlagen war. „Es waren unvergessliche Tage“, beschloss er seinen Bericht, in den Helga Pietsch einstimmte. Man nahm Gisela das Versprechen ab, bei der Rückkehr viel zu erzählen und sie gab es bereitwillig.

Als Johannes sie an einem grauen Aprilmorgen auf dem Bjelorussischen Bahnhof in seine weiträumigen Arme schloss, fühlte sich Gisela angekommen. Sogleich erzählte er ihr von den Vorbereitungen, die er für ihre Ankunft getroffen hatte. Seinem Zimmergenossen Mamadjor, der aus dem fernen Tadschikistan kam, besorgte er eine andere Schlafstelle, weil er dessen Bett für Gisela brauchte. Das war nicht leicht, weil das Internat voll belegt war. Auch andere Genossen aus fernen Regionen hatten ihre Frauen über die Feiertage hier, andere waren noch vom vergangenen Jahr geblieben, gar nicht wieder abgefahren. Johannes würde für Mamadjors Frau, die im Sommer ein ärztliches Praktikum absolvieren werde, ebenfalls das Feld räumen. Für Gisela werde Mamadjor mit seinen tadschikischen und usbekischen Freunden ein Plow-Essen veranstalten.

Dann werden wir die große Maidemonstration erleben. Auch darauf war Gisela gespannt.

In ihren späteren Erzählungen rangierte das Plow-Essen ganz vorn. Die Männer bereiteten es selbst zu. Reis mit Hammelfleisch und verschiedenem Gemüse gab es aus einer großen Schüssel. Sie stand in der Mitte des Tisches und jeder nahm von seiner Seite eine Handvoll Reis und führte sie zum Mund. Bei Johannes und Gisela gab es eine Krümelspur über den Tisch, die Männer waren geschickter im Umgang mit dem Gericht. Sie waren glutäugig, freundlich und lebhaft, als sie vom Leben ihrer Familien im mittelasiatischen Hochland erzählten. Ihre Väter und Brüder waren Hirten, die Familien lebten als Nomaden. Sie sprachen stolz über ihre Studien, waren voller Hochachtung vor deutscher Kultur und Bildung. Von den Russen sprachen sie herablassend, wechselten dann schnell in ihre eigene Sprache, redeten miteinander. Russisch sprachen sie mit starkem Akzent, so dass Gisela mit ihren mangelhaften Sprachkenntnissen auf die Dolmetscherdienste von Johannes angewiesen war. Einige Worte richteten sie in ihrer Sprache an Gisela, vor allem um Komplimente zu machen. Über ihre Frauen gaben sie kaum Auskunft, Giselas Nachfragen blieben unbeantwortet. Zum Plow tranken sie klaren Schnaps, wurden immer lauter und lebhafter. Johannes übersetzte ihr die Reden jetzt kaum noch, sie wären zu anzüglich, meinte er. Schließlich brachten sie einen Toast auf die freizügigen, schönen Moskauerinnen aus, brachen unvermittelt auf und verschwanden. „Sie ziehen jetzt noch los“, erklärte ihr Johannes. „Das ist jedes Mal so bei ihnen.“

Am nächsten Abend sah man sich bei der Vorabendfeier zum 1. Mai wieder. Sie waren auch jetzt freundlich, allerdings auf eine eher unverbindliche Wei-se. Johannes tanzte den ganzen Abend mit ihr, war stolz, sie seinen deutschen und russischen Freunden vorführen zu könne. Sie kamen spät ins Bett, schliefen dann noch nicht und versäumten deshalb am Morgen den Zeitpunkt für die Maidemonstration. Spät machten sie sich auf, kamen nicht mehr in die Nähe des Zentrums. Roter Platz, Manegeplatz, Kreml, der ganze innere Ring war abgesperrt für den Menschenzug. Sie sahen Luftballons und Transparente aus der Ferne, gingen zum Ufer der Moskwa. Etwas unangenehm war es ihnen, dass sie so am Rande des großen Ereignisses blieben, aber es war nun nicht mehr zu ändern und selbst Johannes fand es verzeihlich, weil sie sich so selten hatten. Um dieses Versäumnis vor den Kollegen zu verbergen, beschied Gisela deren Fragen mit Floskeln, wie sie in der Zeitung standen. Alles sei farbig, großartig, gewaltig gewesen. Sie war erleichtert, dass nicht weiter nachgefragt wurde, vermied es, darauf zurückzukommen. Von den Moskauer Tagen erwähnte sie den Besuch im Mausoleum, in dem nur noch die Mumie Lenins aufgebahrt lag. Stalin hatte man an die Kremlmauer umquartiert, worüber sich Mamadjor mokierte. Man hätte es belassen sollen, meinte er. Er zählte die Stunden zusammen, der neue Parteimann habe 16 Stunden lang auf dem XXI. Parteitag der KPdSU geredet. Das kommentierte er mit den Worten: „Der Kult um Stalin ist beendet, jetzt beginnt der um Chrustschow.“ Johannes fand solche Reden lästerlich, unangebracht und meinte, über bestimmte Fragen könne man mit den Tadschiken nicht reden. Sie wichen dann immer in ein undeutbares Lächeln aus. Gisela wusste vom jüngsten Parteitag nur, was Genosse Wirker an sie als politische Information gegeben hatte. Sie nahm widerspruchslos zur Kenntnis, dass von diesem Ereignis nun eine neue Entwicklungsetappe ausgehen würde. Auch Johannes sah es so und Mamadjor hatte dabei nicht widersprochen, jedenfalls bekam sie nichts davon mit. Ehrlicherweise konnte sie von keinem besonderen Eindruck beim Besuch des Mausoleums berichten. Nur, dass sie in einer kleinen Gruppe von einem besonderen Führer an der unendlich langen Menschenschlange, die sich über den Roten Platz ringelte, vorbei, direkt vor das Gebäude geführt wurden, berührte sie etwas peinlich. Vor allem befürchtete sie, dass sich die Leute über ihre Bevorzugung erregen würden. Aber alle blieben ruhig und gleichgültig und da fand auch sie es in Ordnung so. Ja, die Sowjetmenschen sind gastfreundlich, lassen ihren ausländischen Gästen den Vortritt, sind von großer Bescheidenheit.

Viel mehr, als dass sie bei Lenin war, konnte sie hiervon nicht erzählen. Ihr Unbehagen über den bevorzugten Zugang fand sie nicht mitteilenswert. Anderes betraf nur sie und Johannes, verdiente nicht das Interesse anderer. Einen halben Tag lang, Johannes war zum Unterricht, ging sie allein durch die große Stadt, fragte sich bis zur Tretjakow-Galerie durch. Sie war von sich selbst beeindruckt, weil sie sich allein zurechtfand. Johannes teilte ihre Begeisterung gar nicht. Er hoffte sie nach dem Unterricht wartend vorzufinden, war enttäuscht. Als sie am späten Nachmittag zurückkehrte, äußerte sich seine Sorge als Wut, dass sie ihn hier warten ließ. Er wollte ihr die Galerie zeigen, war über ihre Eigenmächtigkeit enttäuscht, hoffte, ihr einiges erklären zu können. Damit unterbrach er ihren Bericht über Bilder, die ihr besonders gefallen hatten. Ihre Äußerungen waren ohnehin nur dilettantisches Gequatsche, damit wolle er sie nicht kränken, gab er zu verstehen, aber so war es eben, wenn jemand nichts verstünde. Sie schwieg sogleich, behielt ihre Ein-drücke für sich. Gab ihm lediglich zu verstehen, dass sie sich in Moskau auch allein zurechtfinden wollte. Das ließ er gelten, brachte noch einmal seine Enttäuschung über die toten Stunden zum Ausdruck, die er gewartet hatte.

Am Abend gingen sie ins Bolschoj Theater. Johannes hatte die Karten von einem Genossen bekommen, der einen Genossen kannte, dessen Frau mit dem Verkauf von Theaterkarten befasst war. „Ich musste einiges aufwenden“, ließ Johannes sie wissen, aber sie fragte nicht, was er meinte. Man spielte „Pique Dame”. Den größten Eindruck hinterließ ihr ein großer runder Mond, den man über den Bühnenhorizont gleiten ließ. An dieser Stelle lachte auch Johannes, der das Ganze für theatralisch, ja kitschig erklärte. Für sie war es ohnehin schwierig, Musik, Gesang und Bühnengeschehen als Ganzes wahrzunehmen, die Art und Weise, wie Menschen in Opern singend starben befremdete sie.

Die zwei Wochen mit dem Touristenzug durch den Süden Russlands zum Kaspischen Meer, durch das Kaukasus-Massiv bis zum Schwarzen Meer und wieder zurück nach Moskau erschienen in ihrer Erinnerung wie ein Film. Die Eindrücke von Baku, den Moscheen und Ölanlagen, die sie gesehen, vom Basar in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, vom Kaspischen Meer, das langsam austrocknete, wie ihnen ein einheimischer Reiseleiter erklärte, von den armenischen Baumwollfeldern, aus Tbilissi, von den Kaukasusbergen und den Orten am Schwarzen Meer waren zu kurz und zu flüchtig, um sie länger zu beschäftigen. Als wichtigster Stimmungseindruck blieb ihr der überraschende Frühling, den sie nach dem eher kalten, grauen Moskau so nicht erwartet hatte. Zwar hatte Johannes davon gesprochen und sie hatte mit ihrer Garderobe diesen Fall bedacht, aber sie stand ihm dann vollkommen ungewappnet, fassungslos gegenüber. Ein ungeheures Himmelblau, die Pracht von ihr nicht bekannten Blüten, ungewohnten Düften und Farben machte sie benommen. Sie erlebte das erst Mal eine solch tiefe Berührung durch Schönheit. Dabei steigerten sich die Eindrücke von der trockenen Klimazone des Kaspisees bis zu der subtropischen Vegetation von Suchumi. Ähnlich waren sich dagegen die Empfänge, die man in den Parteikomitees verschiedener Städte für sie, die Zugreisenden von der Universität „Völkerfreundschaft“, gab. Man war hier waggonweise gemischt: Chinesen und Vietnamesen, Inder und Afrikaner. Gisela und Johannes gehörten zum europäischen Waggon, in dem Tschechen, Bulgaren, Polen und Rumänen untergebracht waren. Sie bewohnten ein Abteil zusammen mit einem bulgarischen Ehepaar, das die Betten an der gegenüberliegenden Seite bezog. Nur wenig konnten sie sich mit denen verständigen, selbst die gewohnten Kopfbewegungen für ja und nein klappten nicht immer, weil sie bei den Bulgaren eine entgegensetzte Bedeutung hatten. Mit den osteuropäischen Gruppen wurden sie einem Reiseleiter zugeordnet, der die ortsüblichen Empfänge organisierte. Nachdem Gisela mehrmals erlebt hatte, wie das ablief, hätte sie sich am liebsten gedrückt, aber Johannes meinte, das ginge nicht. Man schlüge damit Freundschaftsgesten aus. Es gab viel zu essen und noch mehr zu trinken. Nach einem Ausflug durch das glühend heiße Tbilissi hatten sie sich verspätet und mussten sogleich Sto Gramm auf die Freundschaft und auf den leeren Magen trinken. Es reichte, um Gisela regelrecht umzuwerfen. Es brachte ihr für die restlichen Tage einen Darmkatarrh ein. Der beschäftigte sie anhaltend, zwang sie ständig, nach öffentlichen Toiletten zu suchen. Das war ein lästiges, ekliges Abenteuer, von dem sie zu Hause berichtete. Erstaunen hinterließen ihr auch Erlebnisse auf mehreren Basaren. Man wollte ihr Sachen, die sie am Leibe trug, auf der Stelle abkaufen. In Gudauta, an der Schwarzmeerküste, erbosten sich Frauen über ihre dreiviertel langen Hosen, ein Milizionär musste ihr beistehen. Überrascht war sie auch, dass sie mit ihren Russischkenntnissen hier so gar nichts anfangen konnte. Ein Markthändler gab ihr zu verstehen, sie seien hier keine Russen und wollten auch keinen Gebrauch von deren Sprache machen. Ihre spärlichen Kenntnisse reichten, um das Verächtliche seiner Rede mitzubekommen. Johannes erzählte ihr von den Widerständen, mit denen die Sowjetmacht hier unten fertig zu werden hatte. Durch Religion und Gewohnheiten hätte sich Rückständiges erhalten und diese Marktleute, Kleinhändler, wären ohnehin Träger reaktionärer Ideologien, das kenne man von uns auch. Die hier hätten eben noch gar nicht begriffen, welche Errungenschaft es war, zu einer Großmacht zu gehören, die gerade Lunik III in den Weltraum entsandt hatte. Im Übrigen dürfe sie solche Einzelheiten nicht verallgemeinern, der Fortschritt setze sich auf höchst widersprüchliche Weise durch, sie sehe es.

Auch über solche Beobachtungen sprach sie zu Hause. Denn über Dinge, die Johannes und sie betrafen, wollte sie nicht reden. Johannes erregte sich, dass es in diesem Freundschaftszug für ihr eheliches Zusammensein schwierig war. Drang darauf, dass sie in der Mittagshitze in den Zug zurückkehrten, um zusammen sein zu können. Denn die Nächte verbrachten sie zusammen mit dem bulgarischen Ehepaar. Wie die das hielten, fragte er sich. Gisela wäre gern in der heißen Mittagsstunde im Schatten eines Baumes liegengeblieben, noch dazu sie sich durch den Darmkatarrh schwach fühlte. Aber sie gab seinem Drängen nach, in absichtsvoller Eile suchten sie das Abteil auf und la-gen dann schweißgebadet nebeneinander.

Nur dass sie immerfort mit Hammelfleisch und Reis beköstigt wurden, am Morgen schon, nach russischer Art, auch am Mittag und am Abend, wohl weil sich die Köche auf die unterschiedlichen Essgewohnheiten der verschiedenen Religionen nicht anders einzustellen wussten, davon sprach sie gegenüber den Kolleginnen. Sie erzählte in belustigter Tonart davon, sprach über ihren Appetit auf Kartoffelbrei, den die Mutter bei Durchfall immer anbot.

Auf der Rückreise nach Moskau machten sie Station in Kislowodsk, dem Kurort, in dem der russische Dichter Lermontow einst im Duell seinen Tod gefunden hatte. Man führte sie vor das Denkmal und Gisela dachte an ihre noch nicht lange zurückliegende Lektüre von „Ein Held unserer Zeit“. Sie las gern von geschlagenen Helden, gab ihnen ihr Mitgefühl und verachtete sie zugleich auch etwas, war angezogen und abgestoßen zugleich. Der Reisebegleiter schilderte, wie der Dichter an seiner Zeit zugrunde gegangen war. Johannes folgte ihm darin, gab für Gisela eine griffige Zusammenfassung ihrer Leseeindrücke, betonte, dass in der heutigen Zeit niemand zugrunde gehen müsse. Helden könnten sich entfalten, flögen in den Kosmos, begingen ungeahnte Arbeitstaten, wüchsen über sich hinaus. Gisela war befriedigt über die Fähigkeit ihres Johannes, ihr solche Zusammenfassungen an die Hand zu geben. An solche Sätze hielt sie sich wie an eine neu gefundene Wahrheit.

Sie war übervoll von Eindrücken, als sie im Zug nach Berlin saß. Sie ging die Stationen der Reise in Gedanken durch, versuchte die Bilder den Orten zuzuordnen, deren Namen sie vor sich hin sagte. Der Kopf schwirrte ihr, sie würde alles auf morgen vertagen. Erleichtert auch war sie, als der Zug in den Ostbahnhof einfuhr. Sie freute sich auf ihren Jungen, dem sie ein großes rosafarbenes Stehaufmännchen mitgebracht hatte. Wie würde er damit umgehen? Und wie würde sie die Eltern vorfinden, was die Mutter zu dem kleinen braunen Keramikkrug sagen, den sie auf dem Basar in Machatschkala gekauft hatte? Auch den Kolleginnen würde sie viel zu erzählen haben.

Jetzt kam erst der Sommer, an dessen Ende Johannes für drei Wochen in Berlin sein wird. Im September wollte sie mit den Studien beginnen, für die der oberste Ethik-Genosse ihr eine Literaturliste versprochen hatte. Dann würde sie schon die ersten Konsultationen bei ihm haben. „Da möchte ich schon einiges hören von dir“, hatte er ihr angekündigt und sie bekam einen Schreck, wie immer, wenn sie nicht wusste, was auf sie zukam.

Bis dahin hatte sie aber erst die Folgen dieses Frühlings auszubaden. Davon ahnte sie noch nichts, als sie am Wochenanfang, neugierig und gut ausgeschlafen die Taubenstraße ansteuerte. Sie begrüßte die Kolleginnen, die sich mit beiläufigen Bemerkungen nach ihrer großen Reise erkundigten. Das Interesse erschien nicht dringend. Lediglich Anni erkundigte sich, wie Johannes in Moskau lebe, wie es im Touristenzug gewesen sei und welche Orte sie gesehen hatten. Gisela erzählte stückweise von ihren Eindrücken, beim Mittagessen und anderswo. Einen lückenlosen Bericht gab sie nicht.

Vierzehn Tage später rief Genosse Wirker sie in sein Zimmer. Schon an seiner Miene war klar, dass er zu einer größeren Rede ausholen würde. Wahrscheinlich würde es mit ihrer zukünftigen Tätigkeit und den geplanten Studien zusammenhängen, vermutete sie. Er begann damit, dass man große Er-wartungen in sie, Gisela, setze. Sie erschrak, es irritierte sie, dass sie Gegen-stand besonderer Erwartungen sein sollte. Dann wechselte er abrupt den Blickpunkt, sprach mit ausladenden Gesten über die Möglichkeiten von In-formation und Dokumentation als Voraussetzung erhöhter Qualität gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. Deshalb sind wir jetzt ein eigener Direktionsbereich, der mir als Leiter unterstellt ist, vergaß er nicht zu erwähnen. Das hörte Gisela nicht zum ersten Mal, sie fragte sich, wo es mit dieser Rede enden sollte. Dann sprach er über die Verantwortung der Parteigruppe unter der bewährten Führung von Genossin Pietsch, die sie ja kenne. Sie brauchten Nachwuchs, um zukünftige Aufgaben lösen zu können. Sie hätten Hoffnungen in sie gesetzt und erwarteten, dass sie sich würdig erweise. Jetzt stieg Giselas Aufmerksamkeit, sie ahnte worum es gehen sollte. Aber sie täuschte sich, sie sollte nicht als Kandidatin der Partei geworben werden. Man wollte eine Aussprache über ihre Perspektive führen und dabei politische Unklarheiten besprechen, die bei ihr zutage getreten waren. Ihre Arbeit schätze man, meinte der Chef, der allerdings erst seit Kurzem Einblicke hatte, aber es gebe Dinge, die dringend zu klären seien. „Morgen früh um 9 Uhr in der Kaderabteilung, im Zimmer von Genossin Geffke erwarten wir dich.“ Mit dieser Mitteilung beschloss er abrupt das Gespräch, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit.

Noch mehrmals rekapitulierte sie in Gedanken dieses Gespräch, fand nichts, worauf sich seine Andeutungen beziehen konnten. Sie ging ihre kleinen Verfehlungen durch, zu denen sie leicht zu verführen war. Erschrak, beim Gedanken an ihren Besuch in Neukölln, bei dem Anni sie gesehen hatte. Damit hatte sie gegen eine ihre auferlegte Beschränkung verstoßen, zu der sie sich bereitwillig durch Unterschrift verpflichtet hatte. Aber es lag jetzt schon über ein Jahr zurück, dass Anni sie deshalb angesprochen hatte. Seitdem war sie nicht mehr dort gewesen. Die Unbedenklichkeit war ihr abhanden gekommen, das schlechte Gewissen hinderte sie, einen Schaufensterbummel zu genießen. Auch Johannes, dem sie davon erzählte, beschwor sie, das unbedingt zu unterlassen. In den Monaten der Schwangerschaft war das Interesse an solchen Dingen ohnehin erloschen. Nein, diese Dinge waren wohl verjährt, aber was mochte es sein, fragte sie sich. Sofort beschlich sie wieder dieses schlechte Gewissen, das in ihr immer auf der Lauer lag.

Als sie ins Zimmer trat, waren dort schon bekannte Gesichter um einen Tisch versammelt. Man bot ihr einen Sitz am oberen Ende des Tisches an, gegenüber saß Helga Pietsch, die sogleich das Wort nahm. Sie war wohl hier die Vorsitzende, bemerkte Gisela trotz ihrer Befangenheit, denn sie stellte sich als Vorsitzende der Parteigruppen-Organisation der Abteilung vor. Das war Gisela geläufig, daher wunderte sie sich über die Feierlichkeit der Eröffnung. Frau Pietsch begann mit ähnlichen Worten, wie sie Gisela auch vom Chef gehört hatte. Man gab ihr zu verstehen, dass sie irgendwann würdig wäre, der Partei, dem Kampfbund der Gleichgesinnten, der Vorhut der Arbeiterklasse, anzugehören, aus der sie ja glücklicherweise stamme. Zuvor müssten Unstimmigkeiten ausgeräumt werden. Das A und O eines jeden Genossen sei sein Verhältnis zur großen, unbesiegbaren Sowjetunion. Und da hätten sie bei ihr arge Bedenken. Unklarheiten wären zum Vorschein gekommen, jüngst, nach ihrer Reise. Denn anders könne es nicht bewertet werden, was sie zu berichten hatte, war zutiefst kleinbürgerlich, den gewaltigen revolutionären Weltprozessen nicht angemessen. Sie darf das Lenin-Mausoleum besuchen und berichtet von einem verflöhten Bett, erlebt die Kampfdemonstration der Moskauer Werktätigen und hält die Tatsache für mitteilenswert, dass am Maivorabend ein Akademiestudent seine Frau verprügelte. Ja, ob sie überhaupt begreife, welch wichtige Freundschaftstat ihr Mann, der Genosse Johannes Selber, in Moskau leistet. Er wäre gewiss auch erstaunt gewesen, sie so zu hören. Gisela schwieg, wusste nicht, was sie antworten sollte, fragte sich, ob eine Antwort überhaupt erwartet wurde. Natürlich hätte sie hier nicht zugegeben, wie Johannes sich über die primitiven Verhältnisse im Internat erregte. Schlecht schließende Fenster, jedes Jahr ein neuer Anstrich, der sofort wieder abblättert, kein Wasserhahn, der nicht tropft, aber gigantische Großbauten des Kommunismus. Johannes wertete derlei als Zeichen dafür, dass hier eine historische Epoche übersprungen wurde. Den ausgebildeten Handwerker gebe es hier kaum, meinte er verständnisvoll, obwohl solche Unzulänglichkeiten seinen Ordnungssinn verletzten. Aber davon würde sie hier nichts sagen. Sie schaute vor sich hin, wartete.

Nach einer Schweigepause nahm Freimut Wirker das Wort. Während seine Vorrednerin unsicher und leise gesprochen hatte, hob er seine Stimme zu kraftvoller Lautstärke. Dröhnend wandte er sich an Gisela, die mit herunter-geschlagenem Blick am Tisch saß. Sprach jetzt wie für einen ganzen Saal über die Freundschaft mit der Sowjetunion, mit dem ruhmreichen Sowjetvolk, die wie ein Juwel von jedem Deutschen zu hüten sei. Denn hierin liege der Garant des Weltfriedens, auch für die Zukunft, sagte er mit Nachdruck. Gisela erinnerte sich nicht, daran gezweifelt zu haben, sah jetzt in die Richtung des Sprechers, der aber über sie hinweg blickte, als er fortfuhr. Mit großen Gesten kam er auf die Befreiung vom Faschismus, auf die ruhmreiche Sowjetarmee, ihre Heldentaten im Großen Vaterländischen Krieg. Schließlich kam er auf die Denkmäler, die man ihnen errichtet hatte und da ahnte Gisela, welchen Zusammenhang er zu ihr herstellen würde. Amüsiert hatte sie darüber berichtet, wie sich die Chinesen ihres Freundschaftszuges vor jedem Denkmal zu einem Konterfei aufgestellt hatten. „Na und ihr, habt ihr das nicht festgehalten?“, hatte Helga gefragt, wozu sie den Kopf schüttelte. Sie berichtete von Moscheen, Palmen und Bergansichten, die sie fotografiert hatten.

Die Kaderleiterin, bisher schweigend, ermunterte die junge Frau, ruhig mit ihren Unklarheiten herauszurücken. Sie könne hier über alles sprechen, setzte sie nach, offen und ehrlich. Die Frau wollte Gisela offensichtlich eine Brücke bauen, sprach davon, dass sie wohl ein zu ideales Bild in ihrem Kopf mit auf die Reise genommen und nun von manchem enttäuscht sei, das anders aussähe, als sie erwartet habe. Gisela schüttelte kaum merklich den Kopf, sie war nicht enttäuscht. Das sagte sie laut und nachdrücklich. Jetzt schauten alle ein bisschen ratlos auf sie. Auch sie war es, wusste nicht, was man von ihr wollte. Gern hätte sie ein Zeichen ihres Einverständnisses gegeben, denn sie hatte keine grundsätzlichen Differenzen mit dem, was sie hier hörte. Aber was man von ihr hören wollte, blieb ihr unklar. Deshalb schwieg sie, wartete. Noch einmal nahm Helga Pietsch das Wort, deutete an, dass sie ihr etwas Grundsätzliches mit auf den Weg geben wolle. Gisela schloss aus dieser Ankündigung auf das Ende der Sitzung, atmete unmerklich auf. „Wenn du Mitglied unserer Partei werden willst, musst du begreifen, dass man grundsätzliche Dinge grundsätzlich angehen muss“, sagte sie nachdrücklich zu Gisela, die sich über diesen Schluss wunderte, weil doch eigentlich von ganz anderen Dingen gesprochen worden war. Ja, worüber eigentlich, fragte sie sich, als sie auf dem Flur stand.

Benommen von ihrer Aufregung, verschob sie das Nachdenken auf morgen.

Einen richtigen Reim konnte sie sich auf die Sache nicht machen. Immerhin war sie erleichtert, dass man nicht auf ihre Verfehlungen gekommen war. Ihr stets waches Gewissen hatte sie hier völlig im Stich gelassen. Die Signale, die es sandte, hatten nichts mit dem zu tun, was hier lauerte. Als sie Johannes in einem ausführlichen Brief darüber berichtete, verriet seine Antwort, dass er der Angelegenheit keine besondere Bedeutung beimaß. Er forderte sie zu erhöhter Wachsamkeit darüber auf, wem sie was in Zukunft erzählen wolle. „Hüte deine Zunge“, fasste er seine Ratschläge zusammen. Das war sicherlich ein brauchbarer Rat, aber solche Worte von Johannes verwunderten sie, weil sie zu früheren Worten von ihm im Widerspruch standen. Da hatte er von Standhaftigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit gesprochen. Das Stichwort Partei nahm er positiv auf, teilte ihr mit, wie stolz er wäre, sie eines nahen Tages auch als Kampfgenossin begrüßen zu können. Solcherart noch zusätzlich mit ihr verbunden.

Sie dachte nicht weiter nach über die Sache. Sprach jetzt aber weniger unbedacht von Dingen, die sie bewegten. Nur Anni gegenüber behielt sie das so bei, obwohl sie auch hier nicht wusste, ob es ratsam war. Jedenfalls reagierte die nicht mit solchen Tiraden, wie sie Gisela von Helga und dem Chef zu hören bekam. Zu Hause, bei ihren Eltern, war es ohnehin üblich, politische Fragen unverblümt und direkt anzusprechen. Das große Land war dort manchmal ein Thema; die Erfahrungen von Freund Erwin wurden besprochen, die Begegnung mit den Siegern am Ende des Krieges auch. Der Vater erwähnte den Artikel, über den auch Anni gesprochen hatte. „Über die Russen und über uns“, hieß er und hatte wohl auch dem Vater geholfen, mit einigen Erlebnissen fertig zu werden. Als Gisela von der Aussprache erzählte, sagte er nur kurz: „Ja, das sind so die Hundertfünfzigprozentigen. Für die kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Dieses Wort benutzte er häufig und Gisela wusste, dass er eine tiefe Skepsis gegen die so Bezeichneten besaß. Höchstens gegenüber Jüngeren war er da etwas nachsichtiger. Gegen die Gewendeten seines eigenen Jahrgangs, die bei jeder Gelegenheit mitgeschrien hatten und wieder ins Horn bliesen, ließ er keine Milde gelten. Er leitete für Gisela keinen Rat aus seiner Bemerkung ab, sagte nur kurz: „Du musst selbst sehen!” Solche Wendungen kannte sie schon von ihm, wusste, dass nichts weiter zu erwarten war.

Eine andere Angelegenheit beschäftigte Gisela in diesen Monaten nach dem Mai länger. Ihre Mensis war ausgeblieben, Folge unzulänglicher hygienischer Verhältnisse, es gab keine Waschbecken im Zugabteil. Johannes suchte sie zu beruhigen, aber sie wusste es besser, nahm die unmerklichen Veränderungen an ihren Brüsten wahr. Sie wütete gegen ihren Körper, auf keinen Fall schon wieder ein Kind, war ihr Gedanke. Ingolf war noch kein Jahr alt, sie wollte im September mit ihren Studien beginnen und auch den Eltern konnte sie ein weiteres Kind nicht zumuten. Gisela lenkte das Gespräch mit der Mutter auf ungewollte Schwangerschaften, auf die praktische Seite einer solchen Angelegenheit. Sie wusste, die hatte mehrmals abgetrieben, unter widrigen, unsachgemäßen Umständen meist. Auch sie war entschlossen, die ungewollte Frucht in sich nicht reifen zu lassen.

Während sie auf die Augustwochen wartete, in denen Johannes kommen sollte, stand in ihrem Kopf fest, was zu tun war. Auch Johannes schrieb, er würde sich ihrem Entschluss nicht widersetzen, denn sie sei es ja, auf der al-les ruhte. Nur manchmal, wenn sie auf ihren fröhlichen Jungen schaute, schwankte für Momente ihr Entschluss. Sie fragte sich, ob sie nicht doch dem, was in ihr wuchs nachgeben sollte. Aber sie blockte sich gegen solche warmen Wellen in ihrem Inneren ab, zählte alle Gründe auf, die dagegen sprachen. Manchmal auch hatte sie Angst, aber das verdrängte sie, hoffte mit der ganzen Unbedenklichkeit ihrer jungen Jahre, dass es gut gehen würde. Sie fühlte sich informiert: einleiten konnte man selber, mit einer Stricknadel, die natürlich steril sein musste. Dann passierte schon alles von alleine. Erst dann war ärztliche Hilfe nötig. Denn ohne eine anschließende Ausschabung bestand die Gefahr großen Blutverlustes. Das wusste sie von der Mutter, die man ohne Betäubung ausgeschabt hatte, weil sie das Geld für die Spritze nicht aufbringen konnten.

Gisela eröffnete ihrem Johannes sogleich, welchen Part er zu übernehmen habe. Sie fuhren für einige Tage in ein Wochenendhäuschen in die Nähe von Königs Wusterhausen. Das nahegelegene Krankenhaus wirkte für Gisela beruhigend, die überrascht zusah, mit welch praktischer Umsicht Johannes an ihr den notwendigen Eingriff vornahm. Zuvor rang er die Hände, rief, es sei unerträglich für ihn, sie so quälen zu müssen.

Als sie beide schnellen Schritts zum dörflichen Telefon eilten, bemerkte sie, dass bereits Blutungen eingesetzt hatten. Schon begannen auch Schmerzen im Leib. Der Notarzt, den sie herbeigerufen hatten, überblickte die Situation offensichtlich sofort, ließ sie mit einem Krankenwagen in die Klinik bringen. Dort angekommen, ließen die Schmerzen nach, Blut tröpfelte nur noch ganz schwach. In ihrem Klinikbett überfiel sie plötzlich große Angst, dass sie das Kind nun doch austragen müsse, es vielleicht mit einer Behinderung zur Welt käme. Sie lag reglos, registrierte die zudringlichen Fragen der Schwester wie aus großer Ferne. In der Nacht setzten die Schmerzen erneut ein, ruckartig und heftig. Das ging einige Stunden so, dann brachte ihr die Schwester ein Becken. Sie solle aufpassen, dass sie das Bett nicht schmutzig mache. Es gelang ihr, die blutige Frucht ins Becken zu entbinden. Sie schaute nicht hin, als die Schwester das Gefäß nahm und forttrug. Schon am nächsten Tag kam sie zur Curettage, wie der Vorgang hier medizinisch genannt wurde. Als sie wieder in ihrem Bett erwachte, fühlte sie sich leer und benommen. In diesem Zustand war sie noch, als Johannes am Nachmittag kam. Er saß an ihrem Bett, streichelte ihre Hände. „Morgen kann ich dich schon abholen“, ließ er sie freudig wissen.

Sie lag apathisch, während er ihr erzählte, was sie schon am Sonntag aus dem Rundfunk gehört hatte. Die Grenzen nach Westberlin waren dicht gemacht worden. „Eine Maßnahme zur Sicherung des Friedens“, meinte Johannes, während er sie wissen ließ, dass er Ärger zu gewärtigen habe. „Ich bin Offizier der Reserve, muss mich bei außergewöhnlichen historischen Ereignissen bei meinem Stab melden“, sagte er erklärend. Wegen mangelnder politischer Bereitschaft und Zuverlässigkeit würde er eine Rüge bekommen. Die Genossen hätten recht, wenn sie ihn straften, fügte er hinzu. Er konnte ihnen nicht einmal erklären, warum er nicht wenigstens im Laufe des Tages nach Berlin zurückgekommen sei. „Ich nehme es auf mich“, betonte er nachdrücklich, auf Gisela hinunterblickend. Offensichtlich litt er unter der Tatsache, ein wichtiges historisches Ereignis versäumt zu haben. Solches Empfinden hatte Gisela für sich nicht. Sie fühlte sich im Krankenbett von der Anspruchslast politischer Betätigung enthoben, die sie sich abzuverlangen gewillt war. Manchmal schon hatte sie das Gefühl, etwas tun zu müssen, aber sie wusste nicht was. Und auch jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, welchen Part sie bei der Sache zu übernehmen hatte. Bei so großen Dingen kam es auf sie denn doch nicht an. Sie musste nur sehen, dass sie hier so schnell wie möglich herauskam.

Nach wenigen Tagen zu Hause, begann sie wieder mit der Arbeit. Des Abends brach sie in ein heftiges, für alle überraschendes Schluchzen aus. Unversehens hatte sie ihre Brust berührt, die steif und fest war. Milch war eingeschossen. Damit drang ihr das ganze Elend der vergangenen Tage in die Seele. Die Mutter verordnete kalte Umschläge auf die stramme Brust und Ruhe. Leidlich beruhigt schlief Gisela ein.

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