Читать книгу Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold - Страница 6
ОглавлениеIhr Lesesaal
Der Eindruck, dass sie mit ihrem Arbeitsplatz das große Los gezogen hatte, erhielt sich eine ganze Weile. Allerdings verging bald das Überraschende, das in einem Gewinn liegt, den der Zufall uns zuspielt. Neuordnen sollte sie den Buchbestand und ergänzen durch Bücher, die aus dem Magazin geholt wer-den sollten. Sie fragte sich nicht, wie viel Zeit eine solche Arbeit erfordern würde, sondern nahm alles in Augenschein und begann. Das war am zweiten Tag. Bevor sie gegen Mittag im blauen Kittel mit dem Abstauben der Regale anfing, musste sie mit Irene noch einmal zur Kaderleitung. Dort bekamen beide einen landesüblichen Laufzettel, mit dem sie sich in der Buchhaltung, beim FDGB, bei der FDJ und bei der Betriebsschwester zu melden hatten. Beide gaben ihre ausgefüllten Fragebögen zurück und bekamen ein Formular, das zu unterschreiben war. Darin verpflichteten sie sich durch Unterschrift, dass sie fortan die Berliner Westsektoren nicht mehr betreten würden. Sie unterschrieben damit gleichzeitig, sich für den Frieden einzusetzen und jeden Anschlag auf ihn vereiteln zu helfen. Nach kurzem Zögern, setzten beide ihren Namenszug unter das Schriftstück. Gisela mit dem Gedanken, dass es ganz unmöglich sei, solche Versicherung einzuhalten. Sie dachte an ihre Tanten und Cousins in Neukölln und Kreuzberg, an ihren Großvater, mit dem sie vor jedem Geburtstags- und Weihnachtsfest in der Hermannstraße einkaufte. Sie hing nicht übermäßig an ihm, denn er war ein stiller in sich gekehrter Mann, zu dem man nicht leicht Zugang fand. Aber sie schätzte diese Einkaufsgänge, die er mit ihr unternahm, seitdem er bei der Tante, einer Schwester ihres Vaters wohnte. Die hatte ihn offensichtlich dazu ermuntert. Es war erst seit Kurzem, dass er ihr so auf diese Weise half, Wünsche zu erfüllen. Irene machte ihren verkniffenen Mund, als beide das Zimmer verließen und die Treppe hinuntergingen. „Das hab ich erwartet“, sagte sie böse, und Gisela wunderte sich, wie sie das hatte wissen können. Aber sie fragte nicht nach, schloss aus der verärgerten Reaktion der anderen, dass die das offensichtlich ernster nahm, als sie selbst.
Gisela hatte sich seit ihrer Kindheit daran gewöhnt, bestimmte Verbote zu übertreten und damit keine schlechten Erfahrungen gemacht. Manchmal, wenn es unangenehm für sie ausgegangen war, akzeptierte sie das als die Grenze, die sie nicht mehr zu übertreten versuchte. Da es meist gut ausgegangen war, verschafften ihr ihre Übertretungen ein leises Triumphgefühl, gaben ihr eine innere Freiheit, Lebenszuversicht. Als sie am Abend dieses Tages zusammen mit Irene und deren Freund Achim in Richtung Friedrichstraße ging, kam das Gespräch sofort auf dieses Thema. Gisela verriet nicht, wie sie mit der Sache umgehen wollte. Sie zuckte nur die Achseln und schwieg, als Irene und Achim ihren Ärger über die Zumutung herausließen. „Kannste mal sehen, wat die für Angst hab´n“, meinte Achim, nachdem seine Freundin die Worte der Kaderfrau berichtet hatte. „Es ist nicht zuletzt auch zu eurem eigenen Schutz“, hatte die, an beide Mädchen gewandt, verlauten lassen. Eine Bemerkung, die auch Giselas Erstaunen auslöste. Sie erschien ihr übertrieben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich außer ihren Eltern, jemand für sie interessierte.
Als sie zu Hause die Sache mit den Eltern besprach, machten die nicht viel Worte. Der Vater zuckte in der gewohnten Weise die Achseln und sagte: „Du musst wissen, was du tust”, nachdem sie triumphierend verkündet hatte, dass sie sich derlei nicht verbieten lassen würde. Die Mutter sagte mit leiser Stimme: „Gib nicht so an“. Und dann, nach eine kurzen Pause, ganz sachlich: „Du musst aufpassen“.
In den nächsten Monaten ging Gisela mehrmals in die verbotene Richtung. Obwohl sie sich einredete, alles sei wie immer, bemerkte sie eine Veränderung. Allenfalls ging es noch, wenn sie in der Nähe ihrer Laubenkolonie auf der Holzbrücke den Kanal überquerte, um zur Brusendorfer Straße in Neukölln zu radeln, wo der Großvater wohnte. Für weitere Strecken stieg sie in die Straßenbahnlinie 95, die in der Sonnenallee schon seit mehreren Jahren unterbrochen war. Man stieg aus der Bahn, die aus Köpenick kam, aus, lief einige hundert Meter zu Fuß über die damals noch unsichtbare Grenze, um in die Westbahn nach Tempelhof wieder einzusteigen. Sie musste, wenn sie am Schwarzen Weg zustieg, damit rechnen, dass in der Bahn Bekannte saßen. Die Leute aus ihrer Wohngegend hatte sie nicht zu fürchten, wenn sie davon absah, dass die sie mit einem leisen Triumphgefühl in der Stimme fragten, „Na, fährst wohl och in den Westen?” Sie bemerkte bald, dass dieser Tonfall nicht ihr galt, sondern dem Vater. Das berührte sie unangenehm, aber sie ertrug es, nickte nur mit dem Kopf. Komplizierter war es mit der S-Bahn von Baumschulenweg über Köllnische Heide nach Neukölln zu fahren. Auf dem Bahnsteig traf man so manchen. An einem Sonntagmorgen war es Anni, eine ältere Kollegin aus der Bibliothek, die sie gesehen haben konnte, wie sie ins Abteil des Zuges nach Westkreuz gestiegen war. Erschrecken fuhr ihr in die Glieder, sie konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken. Die Frau musste sie gesehen haben! Obwohl sie so tat, als wäre es nicht so. Oder war es vorstellbar, dass sie Gisela wirklich nicht gesehen haben sollte? Und was bedeutete es, dass sie so tat, als wäre es so? Würde etwas nachkommen, ganz unerwartet? Sie bemerkte, sie hatte sich überschätzt mit ihrer großspurigen Ankündigung.
Ihr Inneres war auf eine Weise alarmiert, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Sie war in dieser Stadt aufgewachsen. Seit sie denken konnte, gab es diese Sektorenschilder. Auf ihrem Schulweg musste sie vom sowjetischen Sektor in den amerikanischen und dann wieder in den sowjetischen Sektor. Sie hatte auf diesem langen Weg, mehrmals die Erneuerung der Schilder erlebt. Einmal hatte einer der Männer sie gemalt. Das Bild bewahrte sie lange Zeit auf, sie fand ihr Gesicht darauf schöner als im Spiegel. Sie kannte Verkaufsbuden, Schuhgeschäfte und Kinos in Neukölln und Kreuzberg, wo ihre Cousins wohnten. Zuhause fühlte sie sich allerdings dort nicht, dazu war ihr alles doch irgendwie fremd, zu grell. Als Zehnjährige hatte sie zusammen mit ihrer Freundin Doris am Hermannplatz Dillbündel verkauft. Zehn Pfennig pro Päckchen für das selbst geerntete Kraut. Das war kurz nach der Einführung des neuen Geldes, für das es so viele Dinge gab, die Gisela ganz unbekannt waren. Das durfte der Vater damals nicht wissen, aber die Mutter tolerierte den kleinen Handel. Gisela bemerkte schnell, dass das Geld, das sie zusammenbrachte, nicht weit reichte. Auf jeden Fall nicht für das, was sie sich wünschte. Denn jeder erfüllte Wunsch gebar sofort neue. Sie entdeckte damals diese überaus begehrliche Seite an sich, die schwer zufriedenzustellen war. Diese Erfahrung bewahrte sie davor, das wenige Geld, das sie in den kommenden Jahren hatte, dorthin zu tragen und im Verhältnis 1:4 oder 1:5 in Chiffontücher oder Süßwaren anzulegen. Natürlich gab es dabei Ausnahmen. Manchmal ging sie ins Kino. Für „Die Saat der Gewalt“ und „Endstation Sehnsucht“ bot sie einiges auf, sie fand, es lohnte. Sie war hingerissen und aufgewühlt. Vor den Eltern sprach sie darüber nicht, sie fürchtete, nicht verstanden zu werden. Für den Vater wurden dort vor allem Schiebergeschäfte getätigt, bei denen sich die einen um Ehre und Gut brachten, während sich andere eine goldene Nase verdienten. Solche Reden trugen dazu bei, dass sie mit gespaltenen Gefühlen die Straßen entlang lief und froh war, wenn sie sich wieder in heimatlichen Gefilden befand.
Als Sechzehnjährige hatte sie ein Erlebnis, das ihr für einige Zeit das ganze Westberlin verleidete. Pfingsten 1954 traf sich in den Tiergartenfestsälen die SS-Bärendivision. Nicht nur der Vater, auch die Westberliner Verwandten empörten sich. Man sprach von einer Provokation. Der lange Fritz, FDJ-Sekretär an Giselas Schule, hielt eine flammende Rede, in der er sie alle dazu aufforderte, den Nazi-Spuk auseinanderzutreiben.
”Wir werden verhindern, dass die dort zusammenkommen”, kündigte Gisela großspurig der Mutter an, die den Kopf schüttelte, weil sie das für einen Missbrauch von Kindern hielt. Gisela fühlte sich erwachsen, wollte dabei sein. Immerhin hatte sie die Reaktion der Mutter etwas ernüchtert, die ihr riet, sich unbedingt zurückzuhalten bei allem.
Es gab einen für Gisela unerwartet großen Menschenauflauf dort, und es gab Mannschaftswagen mit Polizisten und Wasserwerfern. Sie wurden eingesetzt, nachdem die Versammelten den Lautsprecheraufforderungen, sich zu zerstreuen, nicht nachkamen. Im Gedächtnis blieb ihr vor allem der Polizist, der ihr mit einem erhobenen Knüppel in einen Park hinterherlief und über den Rücken schlug. Panische Angst schlug in ihr hoch, sie rannte wie um ihr Leben, konnte sich lange nicht beruhigen und begriff, dass sie Heldenhaftes von sich lieber nicht mehr verlangen wollte. Sie würde zukünftig solche Gelegenheiten meiden, fürchtete, in ihnen zu versagen. Erst langsam verlor sie die Angst, auch vor den grünen Polizisten, die sich um unauffällige Käufer nicht weiter kümmerten.
Nun begann es wieder unbehaglich zu werden. Die Grenze, die sie bisher ziemlich gedankenlos überquerte, bekam eine neue Bedeutung. Sie trug sie jetzt gewissermaßen in sich, wenn sie mit den Augen suchte, ob Bekannte zu sehen waren. Als sie am Montag nach ihrer Fahrt mit dem Westring der S-Bahn in ihre Bibliothek kam, war ihr unbehaglich zumute. Ein Gefühl zwischen Spannung und Angst schnürte die Luft ab und sie brauchte den ganzen Tag, um es loszuwerden. Sie bemerkte, dass sie sich überschätzt hatte mit ihrer Ankündigung, das abverlangte Gebot zu ignorieren. Bisher hatte sie direkte Verbote kaum kennengelernt. Die Eltern ließen zwar erkennen, was sie von ihr erwarteten, überließen ihr im Einzelnen aber die Entscheidung. Kleine Übertretungen blieben nicht unbemerkt, aber waren doch so, dass die Folgen zu tragen waren. Hier stand das erste Mal mehr auf dem Spiel. Es war ernst, das spürte sie. Sie würde gehorchen müssen, das Verbot achten, wenn es nur dies eine Mal noch durchgehen würde. Gegen Mittag, als sie aus der Kantine hochkam, ging Anni hinter ihr in den Lesesaal und sagte beiläufig, am Ende einer kurzen Unterhaltung: „Pass auf, Gisela, überlege, was du willst,“ Und nach einer kleinen Pause, „Ich möchte, dass du hier weiterhin arbeitest!” Sie schaute dabei mit ihren braunen Augen auf das Mädchen, das sich an die der Mutter erinnert fühlte. Sie war der Frau dankbar. Es würde nichts nachfolgen, zuckte es ihr durch den Kopf. Es war gut gegangen, aber sie würde sich entscheiden müssen. Die kurze Erleichterung würde nicht vorhalten. Sie verschob das Nachdenken darüber auf Morgen.
Zu ihrem eigenen Erstaunen arbeitete sie mit wahrem Feuereifer, nachdem Herr Kobus ihr die Sachgruppen des Lesesaals erklärt hatte. Sie mussten den vier Abteilungen entsprechen, die es in dem auf Marmor bezeichneten Institut gab. Die Abteilungen hießen Lehrstühle und jeder von ihnen sollte ein Regal mit Büchern bekommen. Einige Regale standen schon, aber sie waren nur lückenhaft mit Büchern gefüllt. Herr Kobus erklärte ihr, dass sie den drei Bestandteilen des Marxismus-Leninismus entsprachen und erinnerte an das, was er im Unterricht der Fachschule dazu gesagt hatte. Sie erinnerte sich an seine Ausführungen, denen sie eher gleichgültig zugehört hatte. Aber sie wusste immerhin, dass es Philosophie, Ökonomie und die Historie sein sollten, die hier vertreten waren. Außerdem gebe es noch einen Lehrstuhl für Literatur und Kunst, die eigentlich nicht zum Marxismus gehörten, wie Herr Kobus sie wissen ließ, aber doch auch noch dazukämen. Auch verwies er auf die lange Stirnseite hinter ihrem Platz im Lesesaal, an der Lexika, Wörterbücher und Bibliographien standen. Auch sie müssten neu geordnet werden. Dann zeigte er auf die Katalogkästen. „Muss alles neu geordnet werden, ist alles höchst fragmentarisch“, meinte er ermunternd und verließ den Lesesaal.
Gisela war erleichtert, seinen Erklärungen zu entgehen, waren sie doch bei-nahe in Prüfungen ausgeartet. Die Informationen, die er ihr hinterlassen hatte, lagen so ungeordnet wie die Bücher. Sie würde sich langsam einen Überblick verschaffen, irgendwo beginnen. Fand sie einen Anfang, würde sich der Faden schon erkennen lassen, der alles zusammenhielt. Sie würde hier zunächst vor allem Titelaufnahmen machen müssen und dabei das brauchen, was man ihr in der Fachschule beigebracht hatte. Ihr Bemühen hatte sich da-rauf zu richten, auf einer Karteikarte alle notwendigen Angaben zu verzeichnen, mit deren Hilfe man ein Buch wiederfinden konnte. Jeder Punkt und je-de Klammer hatten dabei ihre Bedeutung, was ihr ziemlich übertrieben er-schienen war. Jetzt sah sie, es war notwendig, um sich in der Masse von Buchtiteln nicht hoffnungslos zu verlieren.
Während der Zeit des Praktikums in der Staatsbibliothek war es ihr nicht gelungen, Karteikarten zur Zufriedenheit der älteren Bibliothekarinnen aus-zufüllen. Die steile Normschrift von Ackerknecht fiel ihrer Hand schwer, Punkt und Komma, eckige oder runde Klammern standen an falscher Stelle. Auch mit dem Alphabet haperte es bei ihr, wenn sie die Karteikarten an ihren richtigen Ort stellen sollte. Weglaufen hätte sie mögen, als sie mitbekam, dass der Beruf, in den sie wegen ihres Bücherhungers geraten war, gar nichts mit Lesen zu tun hatte. Bücher ordnen, katalogisieren, eintragen, austragen; oh, es könnten auch Brote sein. Und solche Tätigkeit sollte ein Beruf fürs Leben werden!
Lange Zeit war sie ohne feste Vorstellungen über das, was sie werden wollte. Ihr Interesse war ganz unspezifisch auf das Leben gerichtet. Neugierig war sie, ohne zu wissen, worauf. Die Antwort hoffte sie in Büchern zu finden, die sie massenhaft verschlang.
Hier, in ihrer Arbeitsstelle hatte sie es glücklicherweise mit wirklichen Büchern zu tun. Anders als in der Staatsbibliothek, da lagerten die Bücher in fernen Magazinen, in die Bibliothekare gar nicht vordrangen. Magaziner, auf die ihre Berufskolleginnen geringschätzig herabblickten, zogen die Bücher aus den Regalen, wenn sie von Lesern verlangt wurden. Ihre Bücher hier mussten katalogisiert werden, die konnte sie anfassen, aufschlagen, lesen. Auch stand sie nicht ständig unter Aufsicht. Herr Kobus kam und fragte, womit sie beginnen wolle und wie sie den weiteren Fortgang der Arbeit geplant habe. Er gab ihr diesen und jenen Hinweis, vermied es, ihr auf die Finger zu schauen. Ein Vierteljahr veranschlagte er für die dringendsten Arbeiten, dann müsse der Leseraum benutzbar sein. Über diese genaue Festlegung war sie erschrocken, sie hatte keine Vorstellung von der Zeitdauer der Arbeit. Würde sie das schaffen, ertragen, eine so lange Zeit immer mit der gleichen Sache beschäftigt zu sein? Bis Ostern, ein unermesslich langer Zeitraum schien ihr das, hatte das Jahr doch eben erst begonnen. Sie hatte noch nicht erlebt, wie sich die Zeit in Abschnitte gliedert, die mit den Jahren immer schneller vergehen sollten. Noch hatte sie das Zeitgefühl der Jugend, alle Zeit lag vor ihr. Ein Schuljahr dehnte sich unermesslich lang, während die Ferien schnell vergingen, das immerhin hatte sie schon erlebt.
Mit seiner Bemerkung gab ihr Herr Kobus ein neues Zeitgefühl. Plötzlich strebte jetzt alles nach Ostern hin. Sie begann, die Tage und Wochen zu kalkulieren, Arbeitsschritte mit ihnen in Zusammenhang zu bringen. Herr Ko-bus kam auf seine Worte nicht wieder zurück. Sein Erscheinen in ihrem Lesesaal unterlag einem Rhythmus, der mit ihrer Arbeit nichts zu tun hatte. Täglich kam er um 12.30 Uhr, gleich nach der Mittagspause. Bis dahin hatte sie ihn nur am Morgen um dreiviertel acht, im Flur vor seinem Zimmer gesehen, wo er kurz guten Morgen! sagte. Wenn sie sich verspätete, Minuten nach Arbeitsbeginn den Flur entlang hastete, deutete er auf seine Taschenuhr, die er in der Hand hielt und sagte streng: „Pünktlich sein!“ Er hob die Augenbrauen, verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln, nur seine hellen Augen blieben ernst. Das fand sie übertrieben, begriff aber, als sie eines Morgens zwanzig Minuten zu spät gekommen war, dass ihr das nicht mehr passieren durfte. Sie hatte die S-Bahn versäumt und lief mit schnellen Schritten an Herrn Kobus´ Tür vorbei. Sie saß schon hinter ihrem Schreibtisch, als der den Kopf zur Tür hineinsteckte. Heute bekam sie eine längere Lektion über die Einhaltung der Arbeitszeit, er lobte Irene, die immer zeitig da war, Gisela hätte vor Peinlichkeit im Boden versinken mögen. Als er nach der Mittagspause im Lesesaal erschien, kam er auf die Sache nicht mehr zurück, sondern erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeit. Er ging an den Regalen entlang, sah sich an, welche Bücher sie ausgewählt hatte, wie sie geordnet waren, kam schließlich an Giselas Schreibtisch. Auch hier schaute er auf die Bücherberge, die vor ihr lagen, fragte nach Dingen, die er sehen konnte, lobte, wenn er in den Katalogkarten blätterte, äußerte sich befriedigt über den Fortgang der Dinge. Bücher lagen zur Seite, bei denen sie ihn fragen wollte, wohin sie gehörten. Sie sammelte solche Fragen, weil sie unsicher war, aber auch, weil sie spürte, dass er Anlässe suchte, ihr etwas zu erklären. Das kannte sie schon von ihrem Vater, den es offensichtlich befriedigte, wenn sie sich gelehrig zeigte. Das war auch hier so. Sie hörte stehend zu, sah zu ihm auf. Er war nicht viel größer als das Mädchen, deshalb spürte sie, wenn er sich in Eifer redete, seinen feuchten Atem auf ihrem Gesicht. Die Schritte, die sie rückwärts ging, folgte er ihr nach. Lieber noch saß sie, dann sprach er über sie hinweg, sie blickte nach unten, übersah so den weißen Schaum, der sich in seinen Mundwinkeln bildete. Es ekelte sie. Er wirkte angespannt, wenn er sprach, zuckte mit Armen und Schultern, manchmal ging das auf sein Gesicht über. Es passierte, dass er beim Sprechen anstieß oder unerwartet in Heiterkeit ausbrach. Das verwirrte sie immer, weil es so unerwartet kam. Er kicherte und feixte, um ebenso plötzlich abzubrechen. Insgesamt fand sie ihn nicht unfreundlich, sah ihn bemüht, es ihr gegenüber auch zu sein. Das rührte sie ein wenig, hinderte aber eine gelöste Atmosphäre im Umgang mit dem Chef. Bei den wöchentlichen Arbeitsbesprechungen erlebte sie, dass er auch den anderen gegenüber befangen war, obwohl sich hier alle mit vertrautem Du anredeten. Die Mädchen wurden bald in dieses brüderliche Du eingeschlossen, nachdem man sie eine Zeitlang Fräulein genannt hatte. Gisela fiel der Gebrauch dieser Anrede den Älteren gegenüber schwer. Auch als man sie mit dem Vornamen ansprach, blieb sie beim Sie oder vermied jede direkte Anrede.
Manchmal brachte Herr Kobus zu seinen Kontrollgängen Frau Pietsch mit, eine Mittdreißigerin, die ihn vertrat und in der Sperrbibliothek ihren Platz hatte. Eher klein und rund, war sie mit hohen Absätzen bemüht, würdevoll zu erscheinen. Sie lief sehr schlecht in ihren Schuhen, beugte sich nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten und drückte dabei den Steiß heraus, was ihren Gang entenhaft machte. Frau Pietsch sprach Gisela nur selten direkt an, unterhielt sich mit dem Chef, wenn sie ihren Rundgang machten. Stand sie Gisela gegenüber, irrten ihre Augen nach kurzer Zeit ab und ihr Blick verlor sich irgendwo. Das junge Mädchen empfand deutlich, dass die andere mit Wichtigerem befasst war, als sie und ihre Arbeit es hier waren. Diesen Ein-druck vermittelte sie auch in Besprechungen, in denen sie über die Belange ihres gesperrten Bestandes sprach. Der bestand aus Zeitungen, Zeitschriften und wenigen Büchern, alles hoch giftig, ideologisch gesehen, wie sie betonte. Sie verteidigte die besonderen Öffnungszeiten ihres Leseraums, meinte, die Genossen Aspiranten - so wurden die Leser hier genannt - könnten zu den angegebenen Zeiten kommen. Sie verteidigte sie gegen die Pläne von Herrn Kobus, der die Sperrbibliothek in den Spätdienst einbeziehen wollte. Aber die Genossin Pietsch war nicht bereit, dem Spätdienst ihr Reich anzuvertrauen. „Die politische Verantwortung trage ich“, sagte sie heftig gestikulierend, mit hochrotem Gesicht. Sie könne nicht fortwährend bis zwanzig Uhr arbeiten, meinte sie abrupt, eine Bemerkung, die Herr Kobus nicht verstand. Zwischen den Frauen wirkte er hilflos, hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Die anderen verstanden, was Helga mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Anni Metz riss ihre großen braunen Augen auf und fragte, ob Helga befürchte, dass die Westzeitungen ihr, der Anni, schaden könnten. Auch Edith Gütze, eine grauhaarige Frau mit verschiedenfarbigen Augen empörte sich laut und sagte an Helga gewandt: „Wofür hältst du mich, ich bin länger in der Partei als du!“ Die lenkte jetzt ein, wollte die Sache ohne die Parteilosen hier geklärt wissen, womit sie Irene und Gisela und zwei weitere Kollegen meinte. Die anderen stimmten ihr zu, aber es ging zwischen den Frauen trotzdem noch eine Weile hin und her und Gisela spürte, dass es zwischen ihnen etwas feindselig Trennendes gab.
Sie zog Irene auf dem Nachhauseweg in ein Gespräch über diese Beobachtung. Die winkte ab, es interessiere sie nicht, meinte sie abrupt, sie bliebe hier ohnehin nicht lange. Ihr Freund habe jetzt von Sekura zu Siemens rüber gewechselt. Es würde nicht lange geheim bleiben, vermutete Irene. Gisela begriff, dass die andere ihre eigene Welt hatte, die ihr ganzes Interesse band. Gern hätte sie ihr von Anni Metz erzählt, dass die 18 Jahre lang bei dem Dichter Gerhart Hauptmann Sekretärin gewesen war. Bis zu dessen Tod . Es imponierte Gisela ungemein, sie wollte wissen, wie so ein Leben verlief. „Kein Privatleben, aber interessant“, sagte Anni nur knapp, fragte nach dem Buch, das Gisela mit nach Hause nahm. „Oskar Wilde liest du“, sagte sie gedehnt. Seitdem sprachen sie öfter über Bücher. Anni kam in den Nachmittagsstunden in den Lesesaal, wenn Herr Kobus nicht zu erwarten war. Sie plauderte mit Gisela, fragte nach den Eltern, erzählte von ihrem Mann, der bei dem Dichter in den letzten Jahren Masseur gewesen war. Er sei Kommunist, durch ihn habe sie begonnen, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Politik war ihr im jährlichen Rhythmus zwischen Agnetendorf, italienischer Riviera und Hiddensee kaum begegnet. Aber dafür glanzvolles Theater in Berlin, Dresden und Mailand. Große Gäste, die das Haus empfing. Thomas Mann las. Dann Begegnungen mit einem jüdischen Emigranten in der Schweiz, der dem Dichter heftige Vorwürfe machte wegen seines Bleibens in Deutschland. „Er verstand nicht mehr, was vor sich ging“, fasste Anni solche Erzählungen zusammen. Dann der Krieg und das Erlebnis, wie Dresden in Schutt und Asche sank. Die so geliebte Stadt.
Obwohl sie eigentlich für die fast blinde Gattin Hauptmanns als Reisebegleiterin engagiert worden war, wurde sie die immer verfügbare Privatsekretärin bei ihm. Sie musste auch nachts da sein, wenn er diktieren wollte. Sie ertrug seinen Jähzorn. Sie schilderte immer neue Episoden aus dieser Zeit. Erst nach dem Tode Hauptmanns habe sie begonnen, ein eigenes Leben zu führen. Dem Dichter Johannes R. Becher und Oberst Tulpanow verdanke sie, dass sie eine Arbeitsstelle im Archiv der „Täglichen Rundschau“ bekam, einer Zeitung, die Gisela auch von zu Hause kannte. „Für mich begann wirklich ein neues Leben“, meinte Anni, und Gisela hörte ihr gern zu, fragte und wollte alles immer noch genauer wissen. Sie mochte Frau Metz, Anni nannte sie sie nur bei sich.
Ihr fiel auf, dass die Frau bei Differenzen immer schnell klein beigab. Besonders gegenüber Edith, die stets betonte, dass sie eine alte Genossin sei. Gegen deren starrköpfige Streitlust kam niemand auf und Anni räumte schnell das Feld, wenn es um die Rituale der Buchausleihe ging, deren Einhaltung von Edith mit Nachdruck überwacht wurde. Sie thronte hinter ihrer Theke, sortierte die verschiedenen Abschnitte der Leihscheine in die entsprechenden Karteien und wachte darüber, dass der Drei-Stunden-Rhythmus der Leerung eingehalten wurde. Sie nahm die Zettel aus dem Kasten, rief im Magazin an, wo Franz die angegebenen Signaturen und die Bände aus den Regalen nahm. Der fuhr im Fahrstuhl mit seinem Karren hoch, brachte die bestellten Bücher und nahm die neuen Zettel an sich. Ganz selten, dass sie selbst die Treppe hinunterging. „Das ist nicht meine Arbeit“, sagte sie aufgebracht zu Anni, die sie in ihrer Abwesenheit vertrat und die für ein freundliches Wort sofort bereit war, die Treppe hinunterzusteigen und ein Buch zu holen, auf das jemand wartete. Edith Gütze schien die Macht zu genießen, die sie hier über Bücher und deren Leser hatte und auch ihre Freundlichkeit verteilte sie sehr ungleich. Sie unterschied strikt zwischen Aspiranten, Assistenten, Dozenten und Professoren, von denen ließ sie sich schon mal zu Ausnahmeregelungen verleiten. Unter ihnen hatte sie ganz spezielle Lieblinge, aber es gab auch solche, die sie sehr reserviert behandelte. Sie wusste über alle diese Männer Bescheid, ließ das aber immer nur durch Andeutungen erkennen, die sie mit spitzen Bemerkungen an die Leute brachte.
„Edith ist verbittert, weil ihr Mann sie verlassen hat“, erklärte Anni der Gisela. Sie habe jahrelang um den Mann gebangt, der bis 1945 in Sachsenhausen saß. Er kam krank zurück, sie pflegte ihn in der Zeit danach, hatte manches ihm zugesteckt, was sie lieber hätte den Kindern geben sollen. Leidlich gesund, ging er auf eine Parteischule, wo er eine andere kennenlernte. Sie wollte es nicht glauben, obwohl alle es schon wussten. Dann die Scheidung und sie wieder mit den Jungen allein, die inzwischen schwierig geworden waren, dreizehn- und fünfzehnjährig. Inzwischen hatten die schon Familie, und Edith erzählte freudig über die Enkel, ohne die sonst immer lauernde Häme in der Stimme.
Bei einer der montäglichen Arbeitssitzungen kam es zum Streit zwischen Edith und Helga Pietsch, die sonst viel die Köpfe zusammensteckten, sich in allem zu verstehen schienen. In Diskussionen beriefen sie sich auf Helgas Mann, der ein führender Genosse in der Agitationsabteilung im großen Haus war, wie Gisela erfahren hatte. Deshalb bestritt Helga gewöhnlich den ersten Tagesordnungspunkt der Sitzungen, dem Gespräch über aktuelle politische Ereignisse. Irene erklärte derlei zu einer Pflichtübung, die sie zum Kotzen fand, Gisela fand einen solchen Austausch interessant, erfuhr manches dabei. Heute hatte Genossin Pietsch in ihrer Einleitung den Namen eines bis dahin gänzlich unbekannten Mannes erwähnt, von dem sie meinte, dass wir ihn uns alle zum Vorbild nehmen sollten. Von der Brigade Nikolai Mamai aus dem chemischen Werk in Bitterfeld sei uns beispielhaft vorgemacht worden, wie wir auf sozialistische Weise arbeiten, lernen, leben könnten in diesem ersten Jahr eines neuen Siebenjahrplans, bei dem es darauf ankomme, die sozialistische Gesellschaft weiter auszugestalten. Sie schlug vor, das politische Gespräch mit den Parteilosen zu intensivieren, womit sie allgemeinen Beifall fand. Dann nannte sie Namen älterer Kollegen, die sich fachlich weiterbilden sollten. Darunter auch den von Edith Gütze, die sofort heftig auffuhr und ihr entgegenhielt, dass man ihr vor nicht langer Zeit eine solche Möglichkeit vermasselt habe, weil man sie hier nicht entbehren wollte und sie schließlich nicht jünger werde. „Bei mir ist es vorbei mit Qualifizierung, was ich für die Arbeit brauche, kann ich“, rief sie aufgebracht. Anni Metz wiederum fand die Vorschläge für gemeinsame Theaterbesuche und Buchbesprechungen gut und schön, aber als sie solche Dinge vor einiger Zeit organisiert habe, war der Zuspruch gering geblieben. „Gerade du, Helga, hattest immer keine Zeit oder mit deinem Mann etwas Besseres vor“, hielt sie ihr entgegen. Und Herr Kobus erinnerte an den Streit um den Spätdienst und meinte, die wichtigste Sache hier sei, dafür zu sorgen, dass die gewünschten Bücher schnell zugänglich sind. Das gelte auch für die Westzeitungen, die noch nach 17 Uhr verfügbar sein müssten. Auf Helgas Gesicht arbeitete es heftig, als sie sich solchen Anwürfen gegenüber sah. Ihr Kinn fiel nach unten und ihre Augen weiteten sich, bevor sie sich zur Entgegnung fasste. Die Diskussion hier fand sie typisch für die politische Gesamtsituation in der Bibliothek. Sie bedauere das umso mehr, als die jungen Kolleginnen hier schlechte Beispiele vorgeführt bekämen. Alle sollten sich überlegen, wie sie der neuen Parteilosung, die nicht ohne Grund ausgegeben wurde, gerecht werden und in der nächsten Woche Vorschläge dazu unterbreiten. Einige, die nicht gesprochen hatten, pflichteten ihr bei, mit Gesichtern, denen abzulesen war, dass es um Höheres ging, als hier offenbar wurde.
Bei Gisela weckte der Streit den Verdacht, dass sich hier nicht alle so gut miteinander verstanden, wie sie angenommen hatte. Sie erlebte das erste Mal, dass Herr Kobus Helga Pietsch widersprach. Irene, mit der sie beim Nachhauseweg das Gespräch darüber suchte, wehrte ab, sah in dem Ganzen einen Versuch, sich noch weitgehender in die Privatangelegenheiten der Leute einzumischen. Aber sie mache da nicht mit, lange bliebe sie ohnehin nicht mehr, gab sie Gisela zu verstehen. Gisela schien die Reaktion der anderen nicht unbedingt mit dem zusammenzugehören, was sie erlebt hatten. Daher schob sie deren Erregung auf eine Sache, die sich einige Tage zuvor ereignet hatte. Anni Metz fahndete nach der Mitarbeiterin, die auf der Damentoilette rauchte. Sie fragte Gisela, die mit gutem Gewissen verneinte. Sie hatte ihre frühen Rauchererfahrungen schon vor einigen Jahren ohne nennenswerte Eindrücke hinter sich gebracht. Von Irene wusste sie gar nicht, dass die Zigaretten rauchte. Achim hatte immer den Stängel zwischen den Lippen, wenn er auf Irene wartete, aber sie nicht. Und nun ergab sich, dass der Qualm auf der Damentoilette tatsächlich von ihr herrührte. Die reagierte auf die Enthüllung mit Verbitterung, betrachtete die Sache als Einmischung in ihre Privatsphäre. Zwar war es in den Lesesälen verboten zu rauchen, aber im Katalograum standen Edith und Helga oft mit ihren Zigaretten in der Hand. Dort hätte auch Irene rauchen können. Aber sie bekannte sich nicht, nicht einmal vor ihrer Gefährtin. Gisela verstand es nicht. Irene wollte sich separieren, sich niemandem zugesellen, sprach wütend von Nachspioniererei. Gisela gab es auf, weiter in sie zu dringen, weil deren Reaktionen sich ähnelten, ganz gleich, worauf sie erfolgten. Irene sprach offensichtlich ihrem Achim zuliebe so. Der forderte sie mit herablassenden Bemerkungen über ihre Arbeitsstelle heraus, verlangte, dass sie sich absetzen solle von den Roten dort. Einzelne Kolleginnen interessierten ihn dabei nicht. Erzählungen über Anni oder Edith, deren Lebensgeschichten Gisela neugierig aufgenommen hatte, fanden bei ihm keinen Widerhall. Mit Irene allein, war das anders. Sie hörte zu, sagte erstaunt: „Was du alles weißt von denen.“