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Lipsi tanzen

Ostern war vorbei. Gisela führte schon seit einiger Zeit Aufsicht in ihrem eingerichteten Lesesaal. Herr Kobus war mit Helga Pietsch, der Parteigruppenorganisatorin, gekommen, sie waren an den Regalen entlang gegangen, hatten die Signaturen geprüft und den Katalog in Augenschein genommen. Der Chef fand wenig zu beanstanden, er hatte ihre Arbeit die ganze Zeit über mit Rat und Hinweisen unterstützt. Anders seine Begleiterin. Die ging in ihren hochhackigen Schuhen neben ihm her, fand an manchem etwas auszusetzen. Sie monierte die Trennpappen, auf denen die Namen der Sachgruppen bezeichnet waren. Sie waren grau und nur auf einer Seite von Gisela mit weißem Papier überklebt, um die Schrift lesbar zu machen. Der gefiel das auch nicht besonders, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Die Einwendungen der Frau empfand sie als kleinlich, die hielt sich ausschließlich an solchen Formalien auf. Dabei brachte sie die Kritik in herablassender Art vor, Gisela stieg die Röte ins Gesicht, wenn sie sich ihr zuwandte. Das geschah allerdings nur ein- oder zweimal, meist sprach sie zu Herrn Kobus oder vor sich hin. Der spendete am Ende des Rundganges freizügig Lob, in das Frau Pietsch nicht einstimmte.

Gisela war jetzt auch am Spätdienst beteiligt, der einmal in der Woche zu absolvieren war. Die Sperrbibliothek blieb dann geschlossen, sie konnte nur benutzt werden, wenn eine Genossin Dienst tat. Es war zwischen beiden Leitern auf diesen Kompromiss hinausgelaufen. Gisela saß in ihrem Lesesaal und gab den Benutzern Auskünfte, half beim Benutzen der Kataloge, im Umgang mit Bibliographien, bei der Suche nach Nachschlagewerken. Langsam lernte sie die Männer kennen, die hier vor allem kamen, konnte sie den entsprechenden Lehrstühlen und ihren Interessen zuordnen. Einige waren sympathisch, andere weniger. Welchen Eindruck sie hinterließ, darüber machte sie sich wenig Gedanken. Sie erschrak, wenn sie zufällig hörte, dass der eine oder andere draußen im Katalograum eine Bemerkung über ihre Jugend fallen ließ und dabei auf das beifällige Gekicher von Edith rechnen konnte, die ihr gegenüber immer sehr ernst und überlegen sprach. Gisela war randvoll mit ihrer neuen Aufgabe, im Tätigsein verbarg sie ihre Befangenheit. Die leichte Röte, die ihr ins Gesicht stieg, wenn jemand sie ansprach, konnte für den Ausdruck ihres Eifers gehalten werden, mit dem sie sich in die Arbeiten stürzte.

Es war eine halbe Stunde vor Dienstende, nur noch zwei Leser saßen an den Tischen, als sie im Katalograum die Tür hörte, hinausging, um nachzuschauen. Freimut Wirker kam, der erste, den sie von den Aspiranten mit dem Namen kannte, weil sie sich als FDJlerin bei ihm angemeldet hatte. Er war dem Jugendalter schon entwachsen, nannte sich einen Freund der Jugend, der die Geschichte des sozialistischen Jugendverbandes mitgestaltet hatte und sie jetzt aufschreiben wollte. Er trug auch heute das Blauhemd, lachte auf eine Weise, die er wahrscheinlich für jugendlich hielt. Beides kontrastierte mit einer ausgeprägten Stirnglatze, die stets einen glänzenden Schein hatte. Nein, er wolle nichts mehr, er komme, um sie zum Tanzen zu holen, sagte er schnell. Gisela wusste zwar vom Heimabend der Jugendgruppe. Sie hatte Spätdienst, würde nicht hingehen können, sie war nicht traurig darüber. Schon die erste Zusammenkunft sagte ihr, dass sie für sich hier nichts zu er-warten hatte. Daher überraschte es sie, zu hören, es werde dort getanzt. Wirker erklärte, dass sie dort einen neuen Tanz lernten, der von einem Leipziger Ehepaar für die DDR-Jugend entwickelt wurde. Das Ehepaar war extra an-gereist. Und nun zeigte sich, dass Tänzerinnen fehlten, weil die männlichen Aspiranten in der Überzahl waren. Außer den Bibliothekarinnen gab es nur Sekretärinnen und jüngere Übersetzerinnen, die den weiblichen Part über-nehmen konnten.

”Man braucht dich dort oben”, sagte Jugendfreund Wirker und schlug vor, die Bibliothek etwas früher zu schließen. Seine Worte versetzten sie sofort in Unruhe, eine solch freudige Aussicht hatte sie an diesem Abend nicht mehr erwartet. Im Nu verflog die Müdigkeit, die ihr nach einem Arbeitstag auf den Augen lag. Sie ging zur Toilette, kontrollierte Haar und Gesicht vor dem Spiegel, präparierte sich für ihren Auftritt. Viel war nicht nötig dafür, das kurze dichte Haar blieb ziemlich unbeeindruckt von Tag und Tageslauf. Im Lesesaal räumte sie ihren Arbeitsplatz auf, verbreitete durch Hin- und Hergehen Unruhe, bis der letzte Leser verschwand. Dann drehte sie das Licht aus, verschloss die Tür und brachte das Schlüsselbund zu den uniformierten Wachmännern am Eingang. Schon als sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie Musik. Man begrüßte sie freudig als zusätzliche Tänzerin, vermittelte sie an einen groß gewachsenen, gutaussehenden Mann als Partnerin, den sie schon vom Lesesaal her kannte. Zwei oder dreimal war er da gewesen, hatte nach einem Philosophenlexikon gefragt, in das er kurz schaute und wieder ging. Er war sehr freundlich, zuvorkommend, hielt Gisela mit einer besonderen Geste die Tür auf, ließ sie vorangehen. Das hatte sie bisher nicht unbedingt als üblich erlebt. Frau Gütze, die viel über die Männer wusste, hielt ihn für eingebildet, er brächte es glatt fertig, sie zu übersehen, wenn er nichts von ihr wollte. „Der schöne Johannes“, nannte sie ihn lächelnd und gebrauchte die Kurzform seines Namens, als sie über einen möglichen Familienkrach bei ihm sprach. „Mit einer Schauspielerin verheiratet zu sein ist sicherlich nicht leicht“, meinte sie verständnisvoll, um mit der Erwartung fortzufahren, sein Einzug ins Internat sei wohl nur vorübergehend.

Das fiel Gisela aber erst auf dem Weg zur Friedrichstraße ein, den sie allein durch die menschenleeren Straßen machte. Während des Tanzens dachte sie daran nicht, denn sie war voll im Banne des Tanzes und des Mannes, der sie führte. Er hielt sie fest im Arm, deutete auch im Auseinandergehen die Schrittfolge an, die sie machen musste. Man gab ihr einen kurzen Nachhilfekurs für den Tanz, die Schrittfolge war nicht schwer und die anderen waren ihr nicht weit voraus. Der Mann führte sie so, dass sie ganz leicht ihre Fehler korrigieren konnte, dabei lächelte er, schaute ihr von oben ins Gesicht und neigte sich ihr zu, wenn sie etwas sagte. Er ging ganz ernst auf sie ein. Ob ihr seine grauen Augen mit den Lachfalten drum herum und sein weicher Mund gleich an diesem Abend auffielen, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass er einen ihr den Atem beraubenden Eindruck auf sie gemacht hatte. Als die Tanzstunde jäh endete, erwachte sie aus einer Verzauberung.

Wenig hörte sie von den Worten der Tanzschöpfer, die sich mit der Erwartung verabschiedeten, dass ihnen mit dem Lipsi ein Wurf gelungen sei, der der DDR- Unterhaltungskultur Auftrieb geben werde. Sie legten es in die Begeisterung der Anwesenden, diesen Tanz weiter zu empfehlen. „Ihr könnt viel tun dabei“, riefen sie in den kleinen Saal, bevor sie sich verabschiedeten.

Gisela tanzte von früher Jugend an im Vereinsheim ihrer Laubenkolonie modische Tänze, die der Vater immer nur Gehopse nannte. Deren Rhythmus war ihr stärker in die Beine gefahren, als dieser Tanz hier, der sie mehr an den Reigen erinnerte, den sie als Kinder bei Sommerfesten einstudiert hatten.

Es war nicht der Tanzrhythmus, der sie an diesem Abend wie auf Wolken durch die menschenleeren Straßen gehen ließ, die sie sonst niemals ohne Beklemmung durchquerte.

Seitdem lebte sie in gehobener Erwartung. Hoffte, dass er den Lesesaal betrat, erwartete, ihn während des Mittagessens zu treffen. Wenn sie sich sahen, grüßte er sie freundlich und aufmerksam. Sie wartete auf seine Blicke. Jetzt kam ihr in den Sinn, was Edith über ihn erzählt hatte und sie spitzte die Ohren, wenn sein Name im Gespräch fiel, war in ständiger Alarmbereitschaft. Eines Tages hörte sie, wie Helga Pietsch zu Edith Gütze sagte: „Das muss man sich mal vorstellen, der große Mann mit der Kleenen!“ Die andere lachte und meinte: „Naja, wenn es beim Tanzen bleibt.“ Nach einem Moment bekam Gisela mit, dass sie gemeint war. Ein kleiner Schreck durchfuhr sie, dann sagte sie sich, dass sie das aushalten würde.

Plötzlich stand der Tänzer vor ihr im Lesesaal. Obwohl sie darauf gewartet hatte, traf es sie unvorbereitet. Die Röte schoss ihr ins Gesicht als sie zu ihm hochblickte. Er kam nicht ihretwegen, sondern brauchte zwei Bücher aus der Staatsbibliothek. Das gehörte, seitdem der Lesesaal eingerichtet war, zu ihren Aufgaben. „Fernleihe“ hieß der Vorgang, den sie zu organisieren hatte. Sie trug für die Dozenten und Aspiranten Bücher aus der dreihundert Meter entfernten Staatsbibliothek in die Taubenstraße. Sie tat es nicht ungern, konnte sie doch tagsüber ihren Arbeitsplatz verlassen, durch die Straßen gehen. Außerdem traf sie dort diesen und jenen. Die große Bibliothek verlor in dieser Zeit ihren Schrecken für sie. Die Büchertaschen, die sie trug, waren schwer, sie musste sie mehrmals absetzen bis sie am Ziel war. Da fuhr manchmal ein führender Genosse, dessen Bücher sie in der Tasche trug, im Auto an ihr vorbei, aber man sah sie wohl nicht mit ihrer schweren Tasche.

Es handele sich um Bücher, in denen die philosophische Epochenproblematik behandelt wurde, erklärte ihr der Mann. Vom bürgerlichen Standpunkt natürlich, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Was damit gemeint war, wusste Gisela nicht. Aber sie wollte in ihrem großen Brockhaus nachschau-en, der hinter ihrem Arbeitstisch stand. Als er gegangen war, spürte sie freudige Erregung. Er war nicht ihretwegen hier, aber er würde wiederkommen. Es gab ein Band zwischen ihnen und sie würde zu verstehen suchen, was ihn beschäftigte. Das erschien ihr wie ein Weg zu ihm hin. Tage später kam er, die bestellten Bücher abzuholen. Sie musste ihm sagen, dass sie noch nicht hier waren, und er schien erst jetzt zu bemerken, dass sie es war, die die Wälzer herbeischaffen musste. Er schlug vor, sie bei ihrem nächsten Gang zu begleiten. Darauf freute sie sich, war erleichtert, ihm beweisen zu können, dass nicht sie die Schuld daran trug, dass er seine Bücher noch nicht hatte.

Sie ging gern neben ihm, nicht nur weil er ihr die Büchertasche trug. Er erkundigte sich nach ihrer Ausbildung und gestand, dass er die große Bibliothek das erste Mal betreten würde. „Ich hoffe, Sie werden mir sagen, wie ich mich zurechtfinden kann“, meinte er, an Gisela gewandt, die sich durch seine Anrede erhöht fühlte und ihm gern die Geheimnisse der großen Bibliothek erklären wollte. Ein wenig überraschte es sie, dass es bei einem so erwachsenen Mann nötig war. Es gehe jetzt darum, endgültig die Höhen von Kultur und Bildung zu erstürmen, auch er wisse viel zu wenig, wolle die Zeit nutzen, um sein lückenhaftes Wissen zu vervollständigen. Dieses Eingeständnis brachte Gisela dazu, ihm zu erzählen, dass sie den von ihm verwendeten Begriff Epochenproblematik gesucht und weder im großen Brockhaus, noch in sonst einem Lexikon gefunden hatte. Für ihren Wissensdurst lobte er sie, wie es auch ihr Vater immer tat, erklärte ihr aber, dass sich diese Lexika nicht auf der Höhe der Zeit befänden. „Unserer Zeit“, schloss er an und meinte, „die richtigen Bücher über uns werden jetzt erst geschrieben.“ An einem dieser Bücher war er selbst beteiligt mit dem Stichwort über einen der wichtigsten Grundsätze unserer Epoche, der friedlichen Koexistenz. Gisela hörte ihm aufmerksam zu, hatte das Gefühl, dass er den Schlüssel bei sich trug, den sie für ihr Leben suchte. Er kam ganz unversehens von philosophischen Fragen auf seine Eltern zu sprechen, erzählte vom Vater, einem Metallformer, und von sich selbst als dem Arbeiterkind, das zum Zünglein an der Waage geworden ist. Sie fand sich wieder in dem, was er sagte, wie er sie anhörte, ihr beipflichtete, sie nicht zurückwies mit Worten.

In den nächsten Wochen dachte sie häufig an dieses Gespräch, hoffte, dass es sich wieder ergeben würde. Sie wartete. An einem Freitagabend im Juni, sie schloss die Fenster, die sie in der lauen Luft jetzt den ganzen Tag offen ließ, stand er plötzlich hinter ihr, lud sie zu einem Ballettabend in der Deutschen Staatsoper ein. Es traf sie wie ein freudiger Blitz, sie sagte ohne zu zögern zu. Bei früheren Bekanntschaften hatte sie sich ein wenig geziert, das kam ihr jetzt nicht in den Sinn. Solches Flunkern verbot sich, wenn sie nicht riskieren wollte, etwas zu verspielen. Er verabredete sich mit ihr zum Abendessen, zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung. Die nächsten Tage lebte sie nur auf diese Stunde hin. Freudige Erwartung, aber auch Beklommenheit spürte sie. Sie schaute mit anderen Augen auf das Opernhaus, wenn sie den Opernplatz überquerte. Es würde das erste Mal sein, dass sie dort hineinging. Ihr Kleid aus Chinabrokat mit Teehäuschen auf blauem Grund würde sie anziehen. Für dieses Kleid hatte sie nach dem Abitur vier Wochen gearbeitet. Das war einige Jahre her und sie war unsicher, ob sie sich darin noch gefiele. Dazu die flachen, schwarzen, ausgetretenen Slipper, die halbwegs zu dem Kleid harmonierten. Sie bereute, sich nicht längst ein Paar Pumps gekauft zu haben. Die Warnungen ihrer Mutter hatten sie davon abgehalten, die sie im mühsamen Gang bei Frau Pietsch bestätigt sah. Jetzt hätte sie sich für den Mann gern etwas erhöht, wollte ihm näher sein. Die kichernde Stimme ihrer Kollegin klang ihr im Ohr, die den Größenunterschied zwischen ihnen herablassend kommentiert hatte. Auch mit der Handtasche war es so, dass die ihr eigentlich nicht mehr gefiel. Der Gedanke an die Accessoires bereitete ihr Missbehagen, aber das verdrängte sie und gab sich der Vorfreude hin.

Schwindende Gewissheiten

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