Читать книгу Warum ich nicht mehr fliegen kann und wie ich gegen Zwerge kämpfte - Ursula Strauss - Страница 12

DIE URLI, DIE ULLA USW.

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Schau, da in der Mitte, das ist meine Uroma.

Ja, es gibt irgendwo einen Stammbaum, aber ich muss ganz ehrlich sagen: Die Geschichte meiner Ahnen ist mir wenig bis gar nicht bekannt. Meine Kernfamilie nimmt so viel Energie und Zeit, Gedanken und Lebensfreude in Anspruch, dass ich über die Geschichte vor meinen Großeltern nicht allzu viel weiß. Heute empfinde ich das als etwas schade. Heute würde ich meine Großeltern genauer über ihr Leben befragen.

Die Uroma habe ich noch erlebt. Sie war eine wirkliche Uroma, das heißt: alt und insofern ein Fixstern, als sie hin und wieder eines unserer Ausflugsziele darstellte. Sie war die Mama von der Mama meiner Mama, und sie zu besuchen, war wichtig. Die Oma ist die rechts außen auf dem Bild. Rechts hinten im Bild, auf dem Dreiradler mit dem Kopftüchel, das bin ich.

Für mich hatte die Uroma keinen Namen, sie war »die Uroma«. Sie starb, als ich noch sehr klein war, was zur Folge hatte, dass sie bis heute so gut wie nie in Erzählungen vorkommt. Ich weiß, wie sie aussah und dass sie ein hartes Leben hatte – wie meine Oma auch.

Die Ausflüge zu ihr waren für mich im Großen und Ganzen okay, bis auf die Tatsache, dass die Uroma ein behindertes Enkelkind hatte, das bei ihr wohnte, und vor diesem Kind, der Heidi, die ein junges Mädchen, in meinen Augen aber schon eine erwachsene Frau war, fürchtete sich mein dreijähriges Kinder-Ich ein bisserl.

Meine Oma, Maria Posch, war ein lediges St. Pöltener Kind. Sie wuchs bei Zieheltern in Neulengbach auf und musste sehr früh arbeiten. Als junges Mädchen wurde sie nach Wien geschickt. Dort war sie bei einer Herrschaft als Dienstmädchen angestellt. Die Oma hatte dort niemanden, war völlig auf sich allein gestellt. In ihren Haaren wurlte es nur so vor lauter Läusen, weil sich niemand um sie kümmerte. Um sich von der harten Arbeit und vom Alleinsein abzulenken, ging sie regelmäßig auf Stehplatz in die Oper.

Den Erzählungen nach lernte sie meinen Großvater Gottfried Posch in St. Pölten kennen. Der Großvater war auch ein Waisenkind, beide waren sehr arm. Sie heirateten 1934 in Pöchlarn. Sie lebten in einem Untermietzimmer und arbeiteten beide in der Hanf-Jute- Spinnerei in der sogenannten Neuda, einem Ortsteil von Golling an der Erlauf.

Die Leute erzählten, dass die Neuda ihren Namen von den damals sehr armen tschechischen Arbeitern hatte, die zur Jahrhundertwende in den Baracken der Fabrik wohnten. Wann immer ein neuer Arbeiter angekommen war, soll er mit den Worten begrüßt worden sein: »Ah, du neu da?«

Meinen Großvater habe ich nicht oft getroffen, und die wenigen Male, die wir Kontakt hatten, waren immer merkwürdig. Ich habe keine angenehmen Erinnerungen an ihn. Obwohl er vielleicht einen Anteil daran hat, dass mir ein gewisses schauspielerisches Gen in die Wiege gelegt wurde.

Es wird erzählt, dass er im Waisenhaus bei Theateraufführungen immer die Hauptrollen gespielt hat, King Lear und so. Wahrscheinlich hat der Krieg ihn verändert. 1939 wurde der Großvater nach Frankreich eingezogen und kam nur zu den Frontferien heim. 1945 war der Krieg vorbei, er kehrte nach Hause, nach Pöchlarn, zurück. 1947 kam es zur Scheidung, weil mein Großvater nicht nur die Oma mochte und mit einer anderen Frau einen Sohn hatte. Gottfried Posch zog nach Salzburg, und so hatte meine Mutter nie einen richtigen Vater.

Dass er sich von meiner Oma trennte, sei dahingestellt, das kommt vor, aber dass er sich nicht um seine eigene Tochter scherte, hat ihn mir nicht nähergebracht. Ich weiß, er hatte auch kein leichtes Leben, aber trotzdem beschäftige ich mich ungern mit ihm.

So gesehen wuchs ich ohne Opa auf. Der Vater meines Vaters starb im Waldviertel noch vor meiner Geburt. Der andere war zwar am Leben, aber für mich irgendwie nicht existent. Genaueres lässt sich im Nachhinein nicht sagen, weil ich als Enkelin mit der Oma diese Art von Gesprächen nicht führte. Aber ich hatte den Eindruck, dass die Oma das Verlassensein ganz gut aushielt, obwohl es sicher nicht leicht war, ein Kind allein großzuziehen. So viel Geld zu verdienen, dass meine Mama in eine Privatschule gehen konnte, war bestimmt harte Arbeit.

Die Oma war Kommunistin, und zwar deshalb, weil Pöchlarn russische Besatzungszone war, und ohne Parteibuch hätte sie nicht in der USIA-Fabrik arbeiten und ihr schweres Leben als Wäscherin hinter sich lassen können. Eigentlich war das Arbeiten bei den Russen als Strafe gedacht, weil mein Großvater Deutscher war. Aber für meine Oma hat es sich als Segen herausgestellt, denn die Russen waren sehr freundlich, meine Mama und sie hatten immer genug zu essen. Die Russen dürften viel gesungen und musiziert haben, bis heute liebt meine Mama ihre Sprache und die Musik. Die Oma zahlte bis zum Schluss brav ihren Mitgliedsbeitrag, weil sie den Russen dankbar war.

Für meine Mama war es nicht schön, ohne Vater aufzuwachsen. Die Oma wohnte mit ihrem Kind in Pöchlarn in einer winzigen Wohnung, nur Zimmer und Küche. Später, als die Mama ihre eigene Familie hatte, zog die Oma im selben Haus einen Stock höher, und Zimmer-Kuchl verwandelte sich in einen einzigen Raum. Sie kam jeden Tag zu uns ins Haus in die Siedlung, half meiner Mama im Haushalt, kochte, bügelte, putzte, kümmerte sich um den Garten, schaute auf uns Kinder, und am Abend ging sie wieder heim.

Manchmal, wenn meine Eltern am Abend nicht daheim waren, durfte ich bei der Oma schlafen. Ich saß bei ihr, durfte mit Schwefelanzündern den Herd anmachen, wurde von ihr im Schaukelstuhl in die schwere Decke gewickelt, bekam Kakao und Butterbrot und sah Schwarz-Weiß-Fernsehen. Es war die herrlichste Geborgenheit und Oma-Gemütlichkeit, die man sich nur vorstellen kann. Wir waren viel spazieren, die Oma und ich, im Frühjahr gingen wir Schneeglöckerln und Bärlauch brocken, zu Weihnachten half sie mir Kekserl auszustechen. Ich habe so viele intensive Erinnerungen an sie.

Dass meine Oma irgendwann schwächer wurde, war für mich schwer auszuhalten. Die Oma war immer stark, und ich verstand nicht, was mit ihr passierte, warum sie plötzlich nicht mehr so energiegeladen und dynamisch war, wie ich sie bisher kannte. Ich war wütend auf sie – und in Wahrheit wütend auf mich, weil ich zu schwach war, um sie in ihrem Schwächerwerden zu unterstützen. Das begriff ich aber erst viel später.

Nach einer schweren Operation war sie ein anderer Mensch, nicht wiederzuerkennen, und ich mit meinen 17 Jahren nicht in der Lage, sie liebevoll zu betreuen. Ich mied den Kontakt, wo es nur ging.

Für einen erwachsenen Menschen ist das leichter hinzunehmen, für mich war es das nicht. Ich konnte und wollte ihr langsames Sterben nicht sehen, mich nicht von ihr verabschieden. Die Zeit hat nicht gereicht, uns auf eine neue Art kennenzulernen. Dabei hätte ich als erwachsene Frau eine ganze Menge Fragen an sie.

Bei ihrem letzten Atemzug hielt ich gemeinsam mit meiner Mama ihre Hand. Die Oma lächelte, als sie starb, und meine Mama sagte: »Schau, Uschi, jetzt schaut s’ scho’ in Himmel eine.« Ich denke oft an sie.

Dabei sein zu dürfen, wenn jemand stirbt, ist ein unglaubliches Gefühl. Es ist ein Schock, gleichzeitig ist es etwas Magisches. Der Tod ist in diesem Moment die mächtigste Kraft im Raum und hat trotz des Schmerzes, den er mit sich bringt, beinahe etwas Majestätisches. Man ist für einen kurzen Moment mit einer anderen Dimension verbunden. Dass mich die Oma in ihrem Tod dabei sein ließ, war für mich ein großes Geschenk. Ich bin ihr dafür sehr dankbar, es hat mich ihr noch näher gebracht.

Sie starb am dritten Geburtstag meiner ersten Nichte, ihrem ersten Urenkerl, zu dem sie eine sehr intensive Beziehung hatte. Die Oma lag, wie es damals Brauch war, aufgebahrt in unserer Bauernstube. Wir waren traurig und gleichzeitig in dieser eigenartigen Beschäftigtheit, in der es darum geht, möglichst viele Sachen zu organisieren, was hilft, über die Unerträglichkeit der ersten Stunden hinwegzukommen.

Irgendwann kamen meine Nichten, ihre Urenkerln, dazu, drei- und einjährig, um sich von der »Ulla«, wie sie sie nannten, zu verabschieden: »Ulla tot! Ulla tot!«, riefen sie und kraxelten zur Oma aufs Totenbett. Ein unglaublicher Moment – das junge und das alte Leben, die Vergangenheit und die Zukunft so nahe beieinander. Dieses Bild werde ich nie vergessen. Als sie den Sarg wegtrugen, waren wir alle da, danach feierten wir den Geburtstag meiner Nichte.

Meine Oma war eine starke, unbeugsame Frau. Ich glaube, ihr hätte diese Gleichzeitigkeit gefallen. Sie hatte ja zu dem Zeitpunkt schon verstanden, wie nahe Leben und Tod beieinanderliegen.

Warum ich nicht mehr fliegen kann und wie ich gegen Zwerge kämpfte

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