Читать книгу Warum ich nicht mehr fliegen kann und wie ich gegen Zwerge kämpfte - Ursula Strauss - Страница 14
MAMA
ОглавлениеEs ist mitten in der Nacht, draußen läutet es Sturm. Unsere Nachbarin ist an der Tür, ihr Mann hatte einen Unfall mit dem Auto, sie weiß nicht, wie es ihm geht und ob er überlebt. Die Frau zittert am ganzen Körper, sie ist völlig außer sich. Meine Mama hört ihr zu, dann nimmt sie ihre Hand und redet mit ruhiger Stimme, ganz leise, auf sie ein: »Komm rein, jetzt setz dich erst einmal her, ja, so ist’s gut, und jetzt erzähl, was ist denn genau passiert?«
Meine Mama redet, bis sich die Nachbarin halbwegs beruhigt hat. In der Zwischenzeit hat der Papa herausgefunden, dass ihr Mann bei dem Unfall sofort gestorben ist. Es ist spät, morgen müssen alle früh raus, aber das ist jetzt nicht wichtig. Jetzt ist nur die Nachbarin wichtig, ihr muss geholfen werden.
Meine Mama, Liselotte Strauss, Tochter von Gottfried und Maria Posch, geboren im Landesklinikum St. Pölten, aufgewachsen in Pöchlarn an der Donau, schaut immer zuerst auf die anderen und zuletzt auf sich. Es gab Phasen in ihrem Leben, da ging es darum, Verantwortung zu übernehmen für andere, für Menschen, denen es nicht so gut ging. Dieser Verantwortung hat sie sich gestellt und sie übernommen.
Sie nimmt das Wort Nächstenliebe ernst, ist ein empathischer Mensch. Ich glaube, sie schöpft viel Kraft aus ihrem Glauben und versteht dieses christliche Wort in seiner eigentlichen Bedeutung. Dasselbe Wertesystem gab sie uns mit, damit sind wir groß geworden. Für mich hatte es nicht immer nur Vorteile, denn ich musste erst lernen, mich abzugrenzen, Nein zu sagen, und empfinde das bis heute als Lernaufgabe. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass meine Mama und ich die einzigen Frauen in der Familie waren und ich große Brüder, aber keine älteren Schwestern hatte und Männer sowieso einen viel selbstverständlicheren Umgang mit dem Nein-Sagen haben.
Der Traumberuf meiner Mama war eigentlich Lehrerin, doch dazu kam es nicht, sie bekam ja uns, die vier Kinder. Deshalb, und weil ihre Mama sich das Internat für die Ausbildung nicht leisten konnte, machte sie eine Lehre bei der Post, fuhr kilometerweit mit dem Moped zu ihren Dienststellen und landete schließlich am Postamt in Pöchlarn.
Als ich, das vierte Kind, da war, probierte sie es als Urlaubsvertretung noch einmal, aber daraus wurde nichts. Meine Sehnsucht nach ihr war so groß, dass die Oma mit mir zur Post gehen musste, um sie zu besuchen. Dort weinte ich so bitterlich, dass die Mama einsehen musste, dass es wenig Sinn machte, den Job behalten zu wollen, und so gab sie ihn kurzerhand wieder auf. Wahnsinn, eigentlich. Kinder sind so zielstrebig, wenn es um die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse geht. Mein Bedürfnis war, dass meine Mama rund um die Uhr für mich zur Verfügung zu stehen hatte.
Heute sagt die Mama, im nächsten Leben wird sie Bäuerin. Sie liebt Tiere und Pflanzen, und sie liebt unseren Garten, ihn zu hegen und zu pflegen ist eine ihrer großen Leidenschaften.
Meine Mama hätte früher auch gern Klavier spielen gelernt, auch dafür war das Geld nicht da. Jetzt hat sie sich ihren Traum erfüllt. Mit 76 nimmt sie ihre erste Klavierstunde. Außerdem lernt sie Englisch, geht regelmäßig in den Chor singen, reist und ist trotzdem noch für die Familie da. Ich bewundere sie für ihre Neugierde, ihren Elan und ihre Wissbegierde. Sie strotzt vor Lebensenergie, und ich könnte mir kein besseres Vorbild wünschen. Wenn ich einmal alt bin, habe ich hoffentlich nicht vergessen, was meine Mutter mir vorgelebt hat.