Читать книгу Warum ich nicht mehr fliegen kann und wie ich gegen Zwerge kämpfte - Ursula Strauss - Страница 19
ОглавлениеJedes Mal, wenn ich dieses Gedicht öffentlich lese, bin ich wieder daheim, zurück in meinem Bett, kralle mich in den Haaren meiner Mama fest, um etwas zu spüren, das real ist.
Was gab es noch? Meine Eltern hatten ein riesiges Puzzle von Stift Melk im Schlafzimmer an der Wand hängen. Darin wohnten die Hexen, und ich wusste, dass die Hexen auf ihren Besen raus aus dem Puzzle zu uns, durch das ganze Haus flogen und ihre Runden drehten, kreischten und kicherten, und wenn es ihnen genug war, wieder heim in ihr Puzzle flogen. Die Hexen waren okay, sie waren frech, aber irgendwie lustig. Vor ihnen hatte ich keine Angst.
Es gab aber auch das Bild mit dem Mädchen. Grauenvoll. Dieses Bild hing ebenfalls im Schlafzimmer an der Wand. Das Mädchen hatte dunkles Haar und ein schönes, weißes Kleid, mit einem ausgestellten Rock, und blickte den Betrachter ernst an. Es saß in der Mitte des Bildes, direkt am Waldrand an einer Lichtung, vor ihm eine schöne grüne Wiese, hinter ihm der dunkle Wald, und wenn ich das Bild zu lange ansah – was leicht passierte, weil es nämlich eine faszinierende Wirkung auf mich ausübte –, ereignete sich nach kurzer Zeit stets dieselbe Szene: Dann fuhr aus diesem Wald eine weiße Hand heraus, packte das Mädchen und zog es fort, hinein in die ewige Finsternis. Voller Entsetzen wandte ich mich ab und wagte nicht mehr hinzublicken. Beim nächsten Hinschauen war die Hand weg und das Mädchen wieder da. Wie es zurückkam, konnte ich mir nicht erklären, es war einfach wieder da – um beim nächsten Mal zu meinem Schrecken wieder von der Hand fortgezogen zu werden.
Schlimm waren auch die Zwerge unter meinem Bett. Ich wusste nicht, wie die Zwerge aussahen, ich wusste nur, dass sie Zwerge waren und dass sie böse waren. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mir in dem Moment, in dem ich ins Bett stieg, körperlich zuzusetzen, mir Zehen oder Ähnliches abzubeißen. So ging es Abend für Abend um stets dieselbe schwierige Frage: Wie schaffe ich es, ins Bett zu kommen, ohne dass mich einer der Zwerge erwischt? Ich erfand eine bestimmte Hüpftechnik, mit der ich das Bett möglichst rasch, ohne zu nahe an selbiges heranzukommen, erreichte, weil sonst die Zwerge ja von unten zuschnappen hätten können. Das war richtig stressig!
Die Zwerge wollten mich fressen. Glaube ich. Ganz sicher war ich nicht, ich hatte sie schließlich nie gefragt, aber sonst gab es für mich keinen Grund, warum sie unter meinem Bett wohnen sollten.
Sobald ich im Bett lag, zog ich die Decke über mich. Die Decke war das magische Leo, der Umhang, der mich unsichtbar machte.
Erst das Tageslicht konnte alle diese schrecklichen Gefährten vertreiben, und ich schlief oft erst wieder ein, wenn es hell wurde.
Aus heutiger Sicht würde ich mein damaliges Verhalten als leicht psychotisch bezeichnen. Schlimm war, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Also ich hätte gekonnt, aber ich hätte mich nicht getraut, es wäre mir peinlich gewesen. Meine Eltern hätten bestimmt getröstet, hätten versucht, mir die Angst zu nehmen: »Na geh, Tschopperl, brauchst dich nicht fürchten, das gibt’s alles gar nicht.« Das sagt sich so leicht, aber gefürchtet hab ich mich trotzdem. Ich war ein Tschopperl, ein psychotisches Tschopperl halt, aber das ist ja nicht schlimm, weil so gesehen habe ich mir den richtigen Beruf ausgesucht.
Für meine Brüder war meine blühende Fantasie ein gefundenes Fressen. Sie mussten nicht viel tun, um ihre kleine Schwester in den Zustand hysterischen Kreischens zu versetzen. Manchmal waren sie durchaus erfinderisch. Ich erinnere mich an einen Winterurlaub, bei dem sie behaupteten, der Yeti wohne in unserem Hotel. Er hause am Dachboden, sei eingesperrt, rassle zornentbrannt – Achtung, Krampustrauma! – mit den Ketten und wehe, wenn er sich befreite, denn dann sei kein Mensch seines Lebens sicher. Kleine Kinder schnappe er sich natürlich als Erstes, die schmecken am besten. Na klar, was sonst!
Für mich wurde der Winterurlaub dadurch sehr schwierig, denn ich sah den Yeti vor mir, besser gesagt, zwei Yetis. Ich werde das Bild dieser Treppe, die zum Dachboden führte, nie vergessen. Denn dort sah ich sie vor mir, die Yetis. Die Yetis waren zwar in Wirklichkeit meine Brüder, die sich verkleideten, aber ich glaubte das ja alles so gern. Der Thrill machte ja schließlich auch ein bisschen Spaß – und meine Brüder haben sich yetitechnisch ziemlich ins Zeug gelegt.
Die Zwerge verfolgen mich zum Teil bis heute. Als ich vor einigen Jahren ein Bett geschenkt bekam, hatte es vier Beine und dadurch einen Freiraum zwischen Boden und Bettplatte. Was soll ich sagen? Mein inneres Kind zupft mich manchmal am Ärmel und sagt: Hallo, erinnerst du dich? Es gab Momente, da war mir dieses Bett nicht richtig angenehm. Zu viel Platz darunter. Man weiß ja nie. In der Hinsicht bin ich vielleicht ein bisschen gestört. Mittlerweile kann ich aber ganz gut in normalen Betten schlafen, auch wenn sie darunter freien Raum haben, weil in den Jahren, die ich jetzt schon auf dem Buckel habe, hätten die Zwerge schon oft die Gelegenheit gehabt, mir etwas abzubeißen, weshalb ich beschlossen habe, dass sie vielleicht gar keine bösen Absichten hegten, sondern schon immer da waren, um mich zu beschützen. So kann man sich täuschen.