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Jürgens weiteres Leben
ОглавлениеJürgen machte seinen Adoptiveltern keinen Vorwurf, warum sie ihm nicht schon längst ihr Geheimnis mitgeteilt hatten. Er war und blieb »brav«, war weiterhin ein guter Schüler, verbrachte viele Stunden mit einem Freund, spielte Fußball und es schien, als habe er seine Verzweiflung überwunden. Als er sich zum ersten Mal verliebte, heiratete er gleich das hübsche Mädchen. Drei Jahre später wurde ihr Sohn geboren. Er schien glücklich zu sein.
Jürgen machte eine Fortbildung nach der anderen und kletterte die Karriereleiter immer höher. Aber er hatte nicht genügend Zeit für seine junge Frau gehabt. Die Folge war, dass sie sich auf andere Männer einließ. Die Ehe wurde geschieden. Ihm war klar, dass er sich früh auf eine Ehe eingelassen hatte, weil seine Sehnsucht nach einer eigenen Familie so stark gewesen war. Er heiratete nicht wieder. Wurde er von Freunden darauf angesprochen, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Was wollt ihr? Mir geht’s gut. Ich traue sowieso keiner Frau mehr über den Weg.«
Nach der Scheidung teilte ihm der Priester mit, er sei von den Sakramenten ausgeschlossen. Fortan sprach er nur noch zynisch und verbittert von der Kirche, in der er sich jedenfalls ein Stück weit zu Hause gefühlt hatte.
Gewiss war er stolz auf das, was er beruflich erreicht hatte, auch auf das Ansehen, das er in der Stadt genoss, in der er für mehrere Jahre als Gemeinderat tätig war. Da er sehr gut verdiente, konnte er sich »alles« erlauben, was er sich wünschte: vornehme Kleidung, lange Reisen und vieles andere mehr. Als seine Eltern starben, erbte er ihr großes Haus.
Immer wieder erzählte er die Geschichte seines Lebens solchen Menschen, von denen er annahm, dass sie ihn mochten und mit ihm fühlten, auch seinen neuen Verwandten, die er kennenlernte, nachdem er seine leibliche Mutter gefunden hatte. Als er mir seine Geschichte zum ersten Mal erzählte, löste er auch in mir ein starkes Mitgefühl aus, doch ging mir bei seiner dritten Erzählung auf, dass er sich in seinem Gefühl, Opfer seiner Umstände zu sein, eingerichtet hatte und das damit verbundene tragische Gefühl auch ein wenig zu genießen schien. Sein Gesicht war gerötet, seine Stimme fast beschwörend, wenn er von sich und seinem Schicksal erzählte. Dann atmete er tief durch und sah mich erwartungsvoll an.
Zu jener Zeit kannte ich den Gegenspieler noch nicht. Doch wenn ich heute an Jürgen denke, geht mir auf, dass er seit jenem dunklen Tag, als sein Vater ihm eröffnete, er sei ein Adoptivkind, unter dem Diktat des Gegenspielers stand. Offensichtlich tat dieser alles, um sein Selbstmitleid zu vertiefen, sodass Jürgen nicht aufhörte, um seinen Verlust zu kreisen. Sein anscheinend nicht zu überwindendes Selbstmitleid führte auch zu chronischer Unzufriedenheit, die immer wieder in Aggressivität ausartete. Doch auf die Idee, sich um fachkundige Hilfe zu bemühen, kam er nicht, und wenn wohlmeinende Menschen ihn darauf behutsam hinwiesen, wies er ein solches Ansinnen weit von sich. Nur in einer Hinsicht hatte der Gegenspieler keinen Zugriff auf Jürgen: Er sprach immer gut von seinen Adoptiveltern. Er achtete sie bis zu ihrem Tod.
Ich habe dieses Trauerspiel so ausführlich beschrieben, weil mir zahlreiche Menschen begegnet sind, die nicht frei wurden von einer Kränkung, einem Verlust, einem Schicksalsschlag und sich ein Leben lang darauf fixierten, Menschen, die sich vom Leben beleidigt fühlten. Vom Leben? Vom Gegenspieler. So aber geht Leben nicht, dass wir unser ganzes Leben auf nur eine Sinnsäule stellen – auf die Ehe, auf die Kinder, auf die Karriere etc. – noch es von einem Unglück bestimmen lassen!
Leben findet zwar im Spannungsfeld zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung statt, aber die Fülle der Möglichkeiten, ein starkes Leben zu führen, wird dadurch nicht eingeschränkt. Im Gegenteil: Je mehr ein Mensch durch dieses Spannungsfeld herausgefordert wird und sich nicht durch den Gegenspieler davon abhalten lässt, das Gute, Wichtige und Wesentliche zu suchen, desto gewisser wird er sich selbst und sein Leben finden!
2Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Fischer-TB, Frankfurt am Main 1972, S. 125 ff.