Читать книгу Giftiges Blut - Uwe Trostmann - Страница 16
ОглавлениеBrennan-Tochter-Wochenende
Der kramte an diesem Freitagmittag missmutig die Akten in seine Tasche, instruierte die Sekretärin Elly, dass er ab jetzt nicht mehr erreichbar sei, zog seinen Trenchcoat an und grummelte ein „Schönes Wochenende“ beim Verlassen des Großraumbüros. Dann warf er seine Aktentasche auf den Rücksitz seines Wagens und fuhr nach Liverpool. Seine geschiedene Frau Clara hatte ihm mit dem Rechtsanwalt gedroht, wenn er nicht seinen Wochenendverpflichtungen nachkommen und sich um seine Tochter Judy kümmern würde. Er hatte keine Wahl. Als er nach beinahe drei Stunden in Liverpool ankam, empfing ihn die 16jährige Judy mit großer Freude. Sie umarmte ihren Papa und gab ihm einen dicken Kuss auf die Backe.
„Toll, dass es dieses Wochenende geklappt hat. Hast du schon Pläne?“
Bevor Brennan ihr erzählen konnte, dass er keine Zeit für irgendwelche Pläne gehabt hatte, machte sie ihm schon ihre Pläne klar.
„Wir gehen morgen Abend auf ein Rockkonzert. Mama hat auch schon zwei Karten besorgt. Du sollst mir dann das Geld dafür geben.“
Brennan registrierte ein Zucken, das durch seinen gesamten Körper ging. Erstens hatte er keine Lust, auf ein Rockkonzert zu gehen, und das auch noch bei Regen. Und zweitens hätte er gerne Zeit für seine Akten gehabt.
„Daddy, ich freue mich richtig“, trällerte Judy, warf zwei Taschen in den Kofferraum und setzte sich ins Auto.
Brennan öffnete die Fahrertür und schielte mit einem Auge in das Obergeschoss des Hauses. Hatte er nicht das grinsende Gesicht seiner Exfrau gesehen?
Judy setzte ihre Ohrhörer ein, schaltete ihr Smartphone auf Musikwiedergabe und schloss die Augen. Brennan warf den Motor an und steuerte sein Auto zur Autobahn. Weit kam er erst einmal nicht. Es war Freitagnachmittag und die Straßen überfüllt. Sein Navi schlug eine Alternativroute vor, für die sie aber immer noch mehr als vier Stunden Fahrt beanspruchen würden. Trotzdem entschloss er sich, diesem Routenvorschlag zu folgen. Doch nach etwa zehn Meilen über schmale Landstraßen und durch enge Ortschaften machte er seine Entscheidung rückgängig und fuhr wieder zurück auf die Autobahn. Mal leiser, mal lauter vor sich hinknurrend kommentierte er die Verkehrssituation. Mit seiner Ruhe war es schon lange vorbei.
„Daddy, wenn du mir etwas sagen willst, so sprich bitte lauter. Sonst verstehe ich es nicht.“ Judy saß geduldig neben ihm und widmete sich voll und ganz der Musik. Nach fünf Stunden Fahrt kamen sie endlich wieder in Birmingham an.
„Nächstes Jahr fährst du mit dem Zug“, kommentierte Brennan.
„Wieso? Dann bist du doch in Rente und hast ganz viel Zeit“, war Judys Antwort.
Brennan gab keine Antwort, packte eine der Taschen aus dem Kofferraum und lief mit seiner Tochter zum Hauseingang.
„Daddy, dein Vorgarten sieht ganz schön verwahrlost aus. Aber nächstes Jahr hast du mehr Zeit.“ Judy schleifte ihre Tasche ins Haus. „Ich gehe mal in mein Zimmer“, verkündete sie und lief die Treppe hinauf.
„Was gibt es denn zum Dinner?“, kam noch von oben.
Brennan erinnerte sich jetzt, dass er seit heute Vormittag nichts mehr gegessen hatte. Der Kühlschrank wies leider nicht viel Essbares auf, das Tiefkühlfach zeigte gähnende Leere.
„Ich bestelle uns Pizza. Ist das okay?“
„Klar doch. Für mich eine mit Thunfisch.“
Später am Tisch stellte Judy fest: „Mama wird mich dann wieder entgiften, wenn ich zurückkomme.“
„Was? Entgiften? Was meint sie damit?“
„Sie meint, dass ich nach zwei Tagen bei dir von dem Fertigzeug durch und durch vergiftet bin.“
Dumme Pute, dachte Brennan.
Brennan saß jetzt schon drei Stunden am Wohnzimmertisch und las Berichte aus dem Büro. Eigentlich freute er sich darüber. Auf der anderen Seite könnte Judy so langsam zum Frühstücken nach unten kommen. Er war schon um acht Uhr einkaufen gegangen. Sein Magen knurrte. Vorsichtig klopfte er an die Tür seiner Tochter.
„Willst du nicht langsam aufstehen? Das Frühstück ist fertig.“
„Lass mich doch schlafen. Wir haben eine lange Nacht vor uns.“
Brennan verspürte jetzt wieder dieses Zucken. Er hatte nicht vor, die ganze Nacht auf dem Konzert zu verbringen. Er glaubte nicht daran, dass die Bands zwei Stunden lang spielen und dann alle nach Hause gehen würden.
„Dann steht man noch herum und plaudert“, stellte Judy eine Stunde später beim Frühstück fest.
„Es regnet und der Platz wird sowieso im Matsch versinken. Dann werden wir nicht noch weitere Stunden dort herumhängen“, stellte Brennan klar.
„Was machen wir nach dem Frühstück?“
„Musst du nicht schon einmal was für das nächste Schuljahr vorbereiten? Zum Beispiel Mathematik wiederholen?“
„Nein. Das macht niemand. Ich habe doch Ferien. Und Mama hat gesagt, du sollst was mit mir machen.“
„Wir können in den Zoo gehen.“
„So was Langweiliges.“
„Wir können in ein Museum gehen.“
„Hast du nicht noch langweiligere Sachen auf Lager?“
„Wir können hier Bridge spielen.“
„Wir sind doch nicht Oma und Opa.“
„Auf was hättest du denn Lust?“
„Äh, wie wäre es mit Shoppen? Ich brauche was für heute Abend, zum Beispiel.“
„Heute Abend brauchst du Gummistiefel und einen Regenmantel.“
„Kommt überhaupt nicht infrage, dass ich das anziehe.“
„Und dann patschnass durch die Gegend laufen? Und was wird mir deine Mutter erzählen, wenn ich dich krank nach Hause bringe?“
Sie verbrachten den größten Teil des Nachmittags in der Stadt. Judy probierte das eine und andere Kleidungsstück. Brennan hielt sich tapfer und war glücklich, als seine Tochter eine bunte Hose und zwei Pullis erstanden hatte, die ihm nicht besonders teuer erschienen. Dann verschwand sie mit ihrer Musik wieder in ihrem Zimmer. Ihr Vater machte keinerlei Anstalten, sie von dieser Aktivität abzubringen. Er widmete sich seinem aktuellen Fall und suchte auch im Internet nach etwas Vergleichbaren.
Skelett aus dem 17. Jahrhundert mit merkwürdigem Zeichen auf der Stirn gefunden. Diese Zeitungsnotiz würde er am Montag mit ins Büro nehmen.
Um acht Uhr abends kam Judy die Treppe hinunter. Brennan drehte sich zu ihr um, erstarrte erst einmal wegen ihres Auftritts und holte tief Luft. War das seine Tochter? Geschminkt wie eine … Hautenge Klamotten, die ihre dünnen Beine noch dünner aussehen ließen.
„Wie siehst du denn aus?“, platzte er heraus. Die kann nicht so durch die Gegend laufen, dachte er. „Das ist doch nicht warm genug! Und du bist sofort pitschnass.“
„Das ist Gummi. Der ist wasserdicht.“
Brennan hielt nicht nur den Atem an, sondern vermied auch weitere Kommentare. Sie fuhren mit dem Bus bis zu dem Stadion, wo das Rockkonzert stattfand. Inzwischen hatte er sich fest vorgenommen, seine Tochter direkt nach dem Konzert nach Hause zu bringen. Egal, was passierte.
Der Regen war nicht so stark wie befürchtet. Beide trugen ihre Hüte, Brennan auch seinen Regenmantel. Das Konzert war für ihn in Ordnung, aber sehr laut. Die Stimmung war gut. Zu seiner großen Überraschung wollte Judy nach dem Konzert sofort nach Hause. Auf der Heimfahrt redete sie kaum etwas, fragte noch nach einem Aspirin und verschwand in ihrem Zimmer.
Roberta und Paul Foster standen zur selben Zeit eng beisammen. Paul hielt den Regenschirm. Sie hatten sich mit Regenkleidung ausgestattet und verfolgten das Rockkonzert mit Begeisterung. Sie liebten diese Musik und waren guter Stimmung, sangen mit und applaudierten noch lange, als sich die Bandmitglieder von der Bühne zurückgezogen hatten. Dann verließen sie mit den anderen Zuschauern das Stadion. Sie waren gerade zu Hause angelangt, aus ihrem Auto gestiegen, als eine Gruppe Motorradfahrer die Straße entlanggefahren kam, kurz vor dem Paar abbremste und dann um sie herumfuhr, immer wieder. Foster hatte Angst, Paul begann zu schimpfen, dann zu drohen. Sie erkannte die Gruppe nun: Es waren die Hell Waves, deren Mitglied Dick sie vor wenigen Monaten in Aberdeen gefasst hatte und der jetzt hinter Gittern saß. Die anderen waren mit Bewährung davongekommen.
„Die haben es auf mich abgesehen!“, rief sie, als sie die Lage erkannte. Paul versuchte, sie ins Haus zu ziehen.
„Na, Polizisten-Schickse? Haste Angst? Wir kriegen dich!“
„Macht, dass ihr fortkommt!“, brüllte Foster. Die Gruppe hatte das Paar inzwischen ungefähr zehn Mal umrundet. Angezogen von dem Krawall, erschienen die ersten Nachbarn an den Fenstern und an den Haustüren.
„Haut ab, sonst holen wir die Polizei!“, riefen einige.
„Da steht doch schon eine“, kam es von einem Rocker, und alle lachten.
„Los, hauen wir ab“, befahl der Anführer und sie drehten ab.
„Was war denn das?“ Paul sah seine Frau entsetzt an. Roberta Foster war die Angst noch ins Gesicht geschrieben.
„Das waren die Typen aus Aberdeen. Einen von denen haben wir wegen Mordes verhaftet, die anderen kamen nicht ins Gefängnis. Ich verstehe nicht, was die hier machen.“
„Das kann ich dir sagen: Die suchen dich. Komm, lass uns nach oben gehen.“
Foster konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Zu tief saß der Schrecken. Was sollte sie machen? Sollte sie den Kollegen in Aberdeen Bescheid geben oder nichts machen? Aus ihrer kurzen Zeit bei den Hell Waves wusste sie, dass Rocker gerne erst einmal drohen. Und wenn man nichts gegen sie unternimmt, kehrt oft Ruhe ein. Foster entschloss sich, erst einmal nicht die Kollegen zu informieren. Dennoch wurde der Sonntag zu keiner Erholung für sie, ihre Gedanken wechselten zwischen dem Ereignis vom Samstagabend und den Giftmorden. In ihrem Kopf kreiste auch weiterhin der Gedanke, dass sie einen Grund finden musste, um alleine nach Edinburgh zu reisen. Sie war an einer heißen Sache dran!
Am nächsten Tag kam eine verschnupfte und über Halsschmerzen klagende Tochter aus ihrem Zimmer.
„Mir ist kalt. Kannst du nicht die Heizung anmachen?“
Damit musst Brennan sich nicht mehr um Ideen kümmern, wie der restliche Tag zu gestalten sei, aber er hörte schon das Donnerwetter seiner Ex. Judy blieb in ihrem Zimmer, setzte sich vor den Heizlüfter, den Papa ihr gebracht hatte, und vertiefte sich in ein Buch. Als Brennan sich zwei Stunden später nach ihrem Befinden erkundigte, meinte sie nur:
„Ich nehme heute einen Kebab.“
Brennan fuhr missmutig eine Stunde in die Innenstadt und zurück, um Kebab zu besorgen. Mit dem Pizzaboten wäre es einfacher gewesen. Am Nachmittag fuhr er seine Tochter zurück nach Liverpool.
„Das war doch klar, dass Judy krank zurückkommt“, war Carols vorprogrammierter Kommentar, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
Diesen Typen habe ich in den letzten Tagen öfters gesehen, überlegte er, als ihm beim Blick auf die Straße eine bestimmte Person auffiel. Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zurück. Es wurde dunkel, als Brennan in seine Wohnstraße einbog. Er parkte sein Auto, zog den Zündschlüssel und überlegte:
Vorgestern Abend, als sie das Haus in Liverpool verließen, hatte der Typ an der Telefonzelle gestanden, zwanzig Meter von Carols Wohnung entfernt, und sich umgeschaut. Und heute Vormittag schlich er da wieder herum, mit einem Handy in der Hand.
Brennan stieg aus, ging ins Haus und durch den Hintereingang sofort wieder hinaus. Er schaute vorsichtig durch die Hecke auf die Straße. Offenbar war er nicht verfolgt worden.