Читать книгу Giftiges Blut - Uwe Trostmann - Страница 8
ОглавлениеDie Saat geht auf
Es war eine lange Reise gewesen. Erst mit dem Bus nach Plymouth und dann mit dem Zug nach Birmingham. Gerald Dunn fühlte sich krank und wusste nicht, wie lange er noch leben würde. Alt war er mit seinen 56 Jahren noch nicht, doch die Arbeit auf dem Kutter hatte ihre Spuren hinterlassen. Mit seinen tiefen Falten im Gesicht, seinem leicht gebeugten Rücken und seinem langsamen Gang mache er den Eindruck eines 66-Jährigen.
„Irgendwann müssen wir die Familienehre rächen. So wie früher auch“, hatte seine Cousine Margareth ihm vor Jahren erklärt. „Wenn du dich zu schwach dazu fühlst, wird es vielleicht Winston später machen.“
„Aber der ist doch erst zwei Jahre alt“, hatte Gerald Dunn entgegnet.
„Ich habe noch genug Zeit, ihn darauf vorzubereiten.“
„Nein. Ich will das tun! Es ist an der Zeit, dass es endlich getan wird.“ Gerald Dunn teilte Margareths Meinung.
Vom Bahnhof in Birmingham hatte er den Bus nach Oldbury genommen, von dort aus lief er bis zu dem kleinen Reihenhaus von Claire Glenn und klingelte. Einmal, zweimal.
„Sie hat doch geschrieben, dass sie um diese Zeit zu Hause ist“, murmelte er vor sich hin.
Endlich ein Geräusch. Sie kam die Treppe hinunter und öffnete. Die junge Frau mit den großen braunen Augen und dem halblangen blonden Haar lächelte ihm entgegen:
„Sie sind Gerald Dunn? Kommen Sie herein.“
Sie hatten Briefe ausgetauscht und Claire freute sich darauf, etwas über ihre Vorfahren zu erfahren.
„Haben Sie die Briefe noch?“, wollte Gerald wissen.
„Na klar. Ich habe sie alle hier auf dem Wohnzimmertisch gestapelt.“
Mit einem Blick vergewisserte sich Gerald Dunn, dass alle vier Briefe auf dem Tisch lagen.
Claire hatte gerade die Tür geschlossen und wollte sich umdrehen, als Gerald Dunn ihr ein Tuch mit Chloroform auf das Gesicht drückte. Sie wurde sofort ohnmächtig. Er schleppte die junge Frau in den Keller. Von einer früheren Beobachtung wusste er, dass der Keller keine Fenster hatte. Und so manches mehr hatte er über Claire Glenn herausgefunden, was ihm jetzt nützlich war. Er holte Fesseln und einen Knebel aus der Aktentasche und das kleine Gefäß mit der öligen Substanz.
Claire wachte auf. Gerald Dunn hatte sie auf einen alten Stuhl gesetzt und festgebunden. Sie wusste erst einmal nicht, was geschehen war, erkannte dann aber ihre Situation und bekam Panik. Angst war in ihren Augen zu erkennen.
„Du darfst nicht schwach werden, wenn sie dich anschaut“, hatte Margareth immer wieder bekräftigt. „Schaue ihr nicht in die Augen, wenn du es nicht aushältst.“
„Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen“, begann Gerald Dunn.
Claire versuchte, sich zu befreien. Sie zerrte an den Fesseln an Händen und Füßen. Sie wollte schreien. Der Knebel in ihrem Mund ließ keinen Laut hinaus.
„Im Jahre 1457 weigerte sich Aleen Glean, Gilmore Donn zu heiraten, so wie es die Familien beschlossen hatten. Aleen lief erst weg und wurde dann ermordet, vergiftet. Die Leute sagten, dass es der Bruder von Gilmore war. Die Gleans schworen Rache und begannen über Generationen alle jungen Mädchen aus der Familie Donn zu vergiften. Viele wurden umgebracht. Kennen Sie diese Geschichte?“
Claire schüttelte den Kopf. Sie konnte schlecht atmen mit dem Knebel im Mund.
„Ich nehme jetzt den Knebel weg. Hier in Ihrem Keller können Sie schreien, so viel Sie wollen. Es hört Sie niemand. Und um diese Zeit sind die Nachbarn alle bei der Arbeit.“
„Was wollen Sie von mir! Ich habe Ihnen doch nichts getan!“
„Doch. Sie und Ihre Vorfahren: Sie haben unsere Familie auslöschen wollen.“
„Das ist doch nicht wahr! Ich kenne diese Geschichte gar nicht. Und wenn das wahr ist, so ist das doch schon lange her. Was wollen Sie mit mir machen?“, fragte Claire ängstlich. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Sie sind Teil meiner Rache.“
„Sie wollen mich umbringen?“
„Das werden Sie selber tun.“
Claire schüttelte den Kopf.
„Möchten Sie etwas trinken?“
„Ja“, antwortete sie leise.
Gerald Dunn ging in die Küche, füllte ein Glas mit Apfelsaft und gab den Inhalt des Fläschchens hinzu, das er mitgebracht hatte. Claire trank das Glas zu Gerald Dunns Zufriedenheit in einem Zug leer. Sie lehnte sich zurück.
„Was soll ich für Sie tun? Es muss doch einen Grund haben, dass Sie mich hier fesseln.“
„Ihnen wird es bald besser gehen.“
„Wenn es mir besser gehen soll, dann machen Sie mich gefälligst los!“
„Bald“, sagte er. Nun erzählte er von dem Ort Port Isaac an der Küste, wo er lebte, und von seiner Arbeit als Fischer.
Nach nicht allzu langer Zeit, vielleicht 20 Minuten, entspannte sich ihr Gesicht. Gerald Dunn hatte von seiner Cousine gelernt, dass das Gift dann bald seine Stärke entfalten würde. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Claire Glenn einschlief, und eine weitere halbe Stunde, bis ihr Atem aufhörte zu fließen. Er löste die Fesseln und trug die Tote die Treppe zum Eingang hinauf. Er fuhr Claires Nissan – die Autoschlüssel hingen auf einem Haken im Flur – bis dicht vor die Haustür, lud die Leiche in den Kofferraum, erinnerte sich der Briefe, die auf dem Wohnzimmertisch lagen, und packte sie in seine Tasche, holte einen Spaten aus dem Garten und fuhr zehn Kilometer bis zu einem kleinen Wald. Er schaufelte eine Grube, nahm sein Messer – es war das Messer, das er zum Aufschneiden der Fische verwendete – und begann mit viel Druck, in die Stirn der Toten das Zeichen zu ritzen.
Sie blutete immer noch, stellte er fest, er würde sich waschen müssen. Ob der Schnitt auch tief genug war, damit das Mal für immer bliebe, dieses Schandmal?
Er rollte Claire Glenn in das feuchte, waldige Grab, warf die Erde darauf und deckte es mit ein paar Ästen zu. Das Blattwerk war feucht genug, um sich das Blut von den Händen abzuwischen. Den Rest wusch er mit dem Wasser aus seiner Flasche ab. Er setzte sich wieder in den Wagen, fuhr ihn in die Nähe einer Bushaltestelle und stellte ihn dort ab. Dann fuhr er mit dem Zug zurück nach Port Isaac.
„Margareth, ich habe die Familie gerächt“, waren seine ersten Worte, als er die Tür hinter sich verschlossen hatte.
„Du hast einen Teil der Familie gerächt. Es liegt noch viel Arbeit vor uns.“