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Kapitel 8: Ein heimtückischer Überfall

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In der Unterrichtspause musste ich dringend auf die Toilette. Ich pinkelte in ein Urinal und genoss mit geschlossenen Augen das Gefühl der Erleichterung meiner Blase, als sich die Tür des Toilettenraums hinter mir öffnete. Schnelle Schritte kamen auf mich zu. Ich wurde von einem kräftigen Arm umschlungen, brutal nach hinten gerissen und gegen einen Körper gepresst, der sich sehr weich anfühlte. Eine kalte Spitze bohrte sich in meinen Hals.

„Woitzig, du Schwein. Ich stech dich ab“, zischte jemand von oben herab. Der heimtückische Angreifer musste mindestens zwei Köpfe größer sein als ich. Ich schielte nach unten und sah eine große Hand mit von Nikotin gelb gefärbten Fingern, die meinen linken Oberarm gegen meinen Körper presste. Mein rechter war zwischen seinem um meine Brust geschlungenen Arm und meinem Torso eingezwängt. Ich war völlig bewegungsunfähig. Mein Schwanz hing mir aus der Hose und ich pisste den Rest meines Blaseninhalts auf die Fliesen des Toilettenraumes.

Trotz meiner misslichen Lage blieb ich entspannt. Ich habe von Geburt an diese mich selbst erstaunende Gabe, in unangenehmen Situationen absolut ruhig zu sein und wachsam zu beobachten, ob sich eine Chance zum Verbessern meiner Situation ergibt. Emotionslos lasse ich alles zu, um zu sehen, wohin sich die Situation entwickelt. Wu Wei - Handeln durch Nichteingreifen, nennen es Buddhisten. Es ist die Fähigkeit, das Steuer meines Lebens jener Macht zu überlassen, die Laotse das Tao nennt. Ich habe ein angeborenes tiefes Vertrauen in mein Schicksal. Wir stehen nicht alleine, sondern sind eng mit dem großen Energiefeld der schützenden Kräfte verbunden, aus dem wir kommen und wohin wir wieder gehen werden. Also wovor sollte ich mich fürchten?

„Und warum willst du mich abstechen? Wer bist du überhaupt?“ fragte ich. Ich hatte Mühe zu sprechen. Der Druck auf meiner Brust war so stark, dass ich kaum atmen konnte. Mein Peiniger musste Bärenkräfte haben.

„Du Schwein warst mit meiner großen Liebe im Bett! Dafür wirst du jetzt büßen“, flüsterte er. Er bewegte die harte Spitze ein paar Millimeter an meinem Hals entlang. Ich fühlte, wie sie meine Haut einritzte und etwas Feuchtes an meiner Kehle herunterlief. Der Kerl hatte mich tatsächlich verletzt. Fieberhaft überlegte ich. Von welcher meiner heimlichen Geliebten sprach der mysteriöse Angreifer? Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Schon gar nicht, welche Frau er meinte.

„Was hältst du davon, wenn wir das mal in Ruhe besprechen? Nimm bitte das Ding von meinem Hals, damit ich mich umdrehen kann“, schlug ich vor.

Erleichtert fühlte ich, wie er das spitze Teil von meinem Hals entfernte. Er löste auch die Umklammerung meiner Brust. Ich atmete tief ein. Mit zitternden Händen verstaute ich als Erstes mein Glied in meiner Hose und drehte mich zu ihm um.

Vor mir stand ein Typ, der direkt aus einem Frankenstein-Film entsprungen zu sein schien. Wie das Monster war er etwa zwei Meter groß und mindestens 40 Kilo schwerer als ich. An seinem aufgeschwemmten, unförmigen Rumpf klebten viel zu lange Gliedmaßen, die seltsam ungelenk wirkten. Sein fast quadratischer Schädel thronte auf einem dicken, gedrungenen Hals. Er hatte kurz geschorene, fettige Haare und weit abstehenden Ohren. Sein pockennarbiges Gesicht wurde dominiert von einer rot geäderten Knollennase, die häufigen Alkoholmissbrauch verriet. Ich erkannte ihn sofort: es war Pedro, ein an der ganzen Schule für seine Trunksucht und Rauflust berüchtigter Schüler. Er war wegen diverser Prügeleien und anderer Vergehen von einigen Schulen geflogen. Mit seinen neunzehn Jahren hatte er es nur bis in die Obersekunda (11. Klasse) geschafft, weil er zweimal nicht versetzt worden war. Während er mir mit seiner leicht zitternden Riesenpranke das Stilett unter meine Nase hielt, das er vorher gegen meinen Hals gedrückt hatte, sah er mich mit zusammen gekniffenen, stechend grünen Augen lauernd an. Auch ohne das Klappmesser in seiner Hand hätte ich nicht den Hauch einer Chance gegen ihn gehabt. Er war nicht nur körperlich ein Bulle, sondern auch als ein brutaler und erfahrener Schläger berüchtigt. Erst vor kurzem hatte er bei einem von ihm angezettelten Streit einem Klassenkameraden das Nasenbein gebrochen. Wenn er angetrunken war, war er noch gefährlicher. Sein nach Bier stinkender Atem, den er mir gerade ins Gesicht blies, verriet mir, dass er auch heute wieder gesoffen hatte. Meine Lage war also wirklich bedrohlich.

Doch mich beschäftigte noch etwas ganz anderes: Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche meiner Gespielinnen sich mit diesem potthässlichen und schrägen Vogel eingelassen haben könnte. Verwirrt sah ich ihn an.

„Von wem sprichst du? Mit welcher Freundin von dir soll ich es getrieben haben?“

„Mit Anika, meiner großen Liebe.“

Jetzt war ich wirklich fassungslos. Dieser unansehnliche, schmierige, asoziale Säufer und die bildschöne Anika sollten ein Paar sein? Das konnte ich nicht glauben.

„Moment mal. Sie hat mir kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass sie mit dir zusammen ist. Ich habe es auch von niemand anderem gehört. Woher sollte ich es also wissen? Seit wann geht ihr denn miteinander?“

„Na ja, so richtig geht sie nicht mit mir. Ich war auch noch nie mit ihr im Bett. Aber sie weiß genau, was ich für sie empfinde“, sagte er leise. Dabei sah er mich mit dem Blick eines geprügelten Hundes an. Unwillkürlich musste ich an Quasimodo denken, den verunstalteten Glöckner von Notre Dame, der seine schöne Esmeralda so unglücklich und verhängnisvoll liebte. Trotz seines heimtückischen Angriffs und meines blutenden Halses tat er mir auf einmal leid. Seine sehr intime Enthüllung machte ihn mir fast sympathisch. Ich bekam Mitleid mit ihm und sah ihn verständnisvoll an, als er fortfuhr.

„Heute Morgen im Zug hat sie mir erzählt, dass sie sich in dich verliebt hat. Sie ist todunglücklich, weil sie weiß, dass du verlobt bist.“

Plötzlich veränderte sich sein leidender Gesichtsausdruck.

„Genau deswegen bin ich hier. Weil du Hund sie unglücklich gemacht hast. Niemand verletzt die Frau, die ich liebe. Deshalb habe ich beschlossen, dich mir vorzunehmen“, fauchte er mich an. Alle Sensibilität war aus seinen Zügen verschwunden. In seinen Augen glitzerten Wut und Mordlust. Tatsächlich hob er seine Messerhand und schob die Messerspitze bedrohlich auf meinen Hals zu.

Ich witterte eine Chance, die Situation zu entschärfen. Der Typ war gefährlich, aber sehr sensibel. Er nahm seine Gefühle sehr ernst. Vermutlich auch die seiner Angebeteten.

„Weiß Anika von deiner Aktion hier? Was meinst du, wie sie reagiert, wenn sie erfährt, was du mir angetan hast? Ausgerechnet mir, in den sie verliebt ist? Was genau bringt es dir also, wenn du mich jetzt mit deinem Messer verletzt? Meinst du wirklich, dadurch ihre Liebe gewinnen zu können? Ich bezweifle das. Im Gegenteil. Ich bin sicher, sie wird dich dafür hassen, dass du wegen ihrer dir anvertrauten Gefühle mich verletzt hast. Sie wird sich schuldig fühlen, weil sie dir davon erzählt hat. Nie wieder wird sie ihre Probleme mit dir besprechen. Vermutlich wird sie sich von dir völlig zurück ziehen.“

Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Er zögerte und ließ das Messer sinken. Ich dachte schon, ich hätte ihn überzeugt. Aber plötzlich lächelte er brutal und sah mich tückisch an.

„Kein schlechter Versuch. Du bist nicht dumm. Kann wirklich sein, dass sie sauer ist. Vielleicht sieht sie aber auch den weißen Ritter in mir, der sie beschützt und rächt, wenn sie verletzt wird. Wer weiß schon, wie Frauen reagieren? Außerdem macht es mir einfach Spaß, dir deine hübsche Visage zu polieren.“

Auf einmal hatte ich die Schnauze voll von dem Theater. Ich wurde wütend.

„Wenn es dir was bringt, dann stich doch zu“, forderte ich ihn auf. Mit beiden Händen ergriff ich sein dickes Handgelenk und führte mir das Messer an die Kehle. „Mir ist es egal. Ich habe heute sowieso schon Prügel wegen Anika bekommen. Ihre verrückte Schwester Maria hat meiner Verlobten von unserer Affäre erzählt. Daraufhin ist Charlotte schnurstracks zu unserer Schule gelaufen und hat auf mich gewartet. Sie hat mir ein paar gewaltige Ohrfeigen verpasst.“

Er grinste boshaft.

„Das gefällt mir. Das hast du mehr als verdient. Aber das ist noch lange nicht genug. Ich werde da noch was draufsetzen. Doch dazu brauche ich kein Messer.“

Tatsächlich klappte er das Stilett zusammen und schob es in seine Hosentasche. Dann nahm er die Fäuste hoch und kam in Boxerstellung geduckt auf mich zu.

Mir war klar, dass er ernst machen und mich zusammen schlagen wollte. Ich überlegte blitzschnell. Es gab nur eine Möglichkeit ihm zu entkommen: Bevor er zum ersten Schlag ausholte, würde ich ihm mit aller Kraft zwischen seine Beine treten. Wenn er sich zusammenkrümmte, würde ich so schnell wie möglich aus der Toilette rennen.

Bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, wurde die Tür zu dem Toilettenraum geöffnet. Mein Klassenlehrer trat ein. Ein sehr sanftmütiger und gutherziger Mann, der uns in Mathematik unterrichtete. Wenn ein Schüler eine komplizierte Aufgabe löste, belohnte er ihn mit einem Bonbon. Für ihn war sein gutes Verhältnis zu seinen Schülern das Wichtigste. Gegenseitiges Vertrauen war ihm heilig. Es war uns bekannt, dass er es nie verzieh, wenn er belogen wurde. Alle seine Schüler hielten sich an dieses ungeschriebene Gesetz. Wir mochten und respektierten ihn. Mit einer Ausnahme: Pedro. Der prinzipiell aufsässige Bursche hatte mit diversen Bosheiten immer wieder versucht, den sensiblen Feingeist zum Gespött seiner Klasse zu machen und seine Autorität zu untergraben. Einmal hatte er einen betrunkenen Saufkumpan mit zum Unterricht gebracht und ihn dem gutgläubigen Lehrer als englischen Austauschschüler vorgestellt. Nach dem Unterricht wurde er von Kollegen aufgeklärt. Seitdem war Pedro menschlich für ihn erledigt und er verabscheute ihn. Er erfasste die Situation mit einem Blick.

„Pedro, Sie erbärmlicher Idiot, lassen Sie sofort den Uwe in Ruhe. Was sind Sie für ein armseliger Feigling, sich immer an körperlich Unterlegene zu vergreifen? Uwe, Sie bluten am Hals, hat er Sie verletzt? Wollen Sie ihn wegen Körperverletzung anzeigen? Ich mache Ihnen gerne den Zeugen. Er kommt vor Gericht und wird wieder verurteilt. Hoffentlich landet er im Knast. Dann sind wir dieses asoziale Subjekt endlich los!“

Sein gutmütiges Gesicht war rot vor Zorn. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Pedro ließ langsam die Fäuste sinken und lächelte spöttisch. Er war schon zu oft mit aufgebrachtem Lehrpersonal konfrontiert gewesen, als dass ihn das beeindrucken konnte. Solche Situationen waren für ihn Routine. Sein Vater, der Direktor eines großen Konzerns war, hatte ihn jedes Mal von gewieften Anwälten heraus pauken lassen. Doch diesmal war es anders. Ich hatte gehört, dass er bei seinem letzten Verfahren wegen Körperverletzung eine Haftstrafe auf Bewährung erhalten hatte. Eine weitere Anklage könnte ihn also tatsächlich ins Gefängnis bringen. Anscheinend fiel ihm das auch gerade ein. Sein spöttisches Grinsen erlosch schlagartig. Mit einem flehenden Blick sah er mich an.

Ich verstand.

„Nein, nein, Sie irren sich. Ich … ich habe mir einen Pickel aufgekratzt. Deswegen blute ich. Pedro will mir nichts tun. Er erteilt mir gerade Boxunterricht. Das machen wir immer in den Pausen“, sagte ich schnell. Der erfahrene Lehrer sah mich zweifelnd an. Dann zuckte er mit den Achseln.

„Ganz wie Sie meinen. Hoffentlich bereuen Sie nicht eines Tages diese Aussage.“

Mit immer noch hochrotem Kopf betrat er eine der Toilettenkabinen. Pedro und ich verließen den Raum. Vor der Tür legte er seine Pranke auf meine Schulter.

„Danke, das war sehr nett von dir. Du hättest mir große Schwierigkeiten bereiten können. Das werde ich dir nicht vergessen. Du hast etwas gut bei mir.“

Er reichte mir seine Hand. Ich nahm sie und schüttelte sie kurz. Sie fühlte sich weich und schwammig an. Die Berührung war mir unangenehm. Wie der ganze Typ. Ich wollte nur noch schnell weg von ihm. Doch dann fiel mir etwas ein. War nicht mein Motto: Wenn dir das Leben einen Misthaufen vor die Tür kippt, dünge damit deinen Garten? Pedro war ein großer und übler Misthaufen, das stand fest. Aber vielleicht konnte er mir sogar nützlich sein.

„Sag mal, wie nahe stehst du Anika wirklich?“ fragte ich ihn.

„Sehr nahe. Ich bin so etwas wie ein großer Bruder und Beichtvater für sie. Sie erzählt mir alle ihre Probleme. Sie vertraut mir. Du hast Recht gehabt. Vermutlich hätte ich dieses Vertrauen aufs Spiel gesetzt, wenn ich dich vorhin verprügelt hätte.“

Ich beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Ich habe da ein großes Problem, bei dem du mir helfen könntest. Vorhin habe ich bei meiner Verlobten geleugnet, mit Anika im Bett gewesen zu sein. Sie glaubt mir nicht so ganz. Wir sind am Samstag bei Beate zu ihrer Party eingeladen. Anika kommt auch. Kannst du Anika fragen, ob sie Charlotte erklären kann, dass wir nie etwas miteinander hatten und ihre Schwester gelogen hat?“

Pedro sah mich nachdenklich an. Dann grinste er verschlagen.

„Ich bin auch zu der Party eingeladen und komme mit Anika zusammen. Wenn ich dabei bin, dürfte es kein Problem sein, dass sie mit Charlotte redet. Aber unter einer Bedingung: Du lässt ab sofort die Finger von ihr und wirst dich nie wieder mit ihr treffen. Dann bringe ich sie dazu, das zu machen.“

Diesmal streckte ich ihm meine Hand entgegen. Er ergriff sie.

„Abgemacht!“

In dem Moment trat mein Mathematiklehrer aus der Toilettentür. Er runzelte missbilligend die Stirn.

„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, murmelte er und ging ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen zurück ins Lehrerzimmer.

In der nächsten Stunde hatte ich Französisch. Das Thema war „Candide“ von Voltaire. Seine zynische Antwort auf die steile These von Leibniz, dass wir auf diesem Planeten in der „besten aller Welten“ leben. Gemäß dem deutschen Philosophen gibt es keine Zufälle. Alle Ereignisse unterliegen dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alles ist deswegen bestens geregelt. Voltaire macht sich darüber lustig, indem er den Philosophen Pangloss, den Lehrer von Candide, in seinem Roman unter anderem erklären lässt, dass wir eine Nase haben, damit wir eine Brille tragen können. Voltaires Helden, die Bewohner eines kleinen Schlosses in Westfalen, werden in Kriegswirren von einer brutalen Soldateska überfallen. Die Frauen werden vergewaltigt und die Männer getötet oder schwer verletzt. Nachdem das Schlösschen geschliffen und dem Erdboden gleich gemacht wurde, werden die Überlebenden des Überfalls über den ganzen Erdball verstreut. Candide, wie der Name symbolisiert eine reine und unschuldige Seele, entgeht dem Gemetzel nur, weil er wenige Tage vor der Vernichtung des Schlosses seine geliebte Kunigunde küsste, die Tochter des Barons. Dabei wird er von ihrem Vater beobachtet und von ihm mit Fußtritten davon gejagt. Daraufhin reist er mit seinem Lehrer Pangloss durch Europa und Südamerika, um seine geliebte Kunigunde wieder zu finden. Der Anhänger von Leibniz findet auch die größten Gräuel bestens, weil er immer irgendeinen abstrusen Sinn hinein interpretiert. Auf seiner jahrelangen Odyssee widerfahren Candide alle erdenklichen Unglücke: Er wird gefoltert, ausgepeitscht und zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung wird er zwar gerettet, erlebt aber immer wieder neue Schicksalsschläge. Auf allen Kontinenten trifft Candide Menschen, die ihm von unmenschlichen Qualen berichten, die sie erlebt haben. Eines Tages trifft er den Manichäer Martin, der die Welt in Licht und Dunkelheit einteilt und ein energischer Gegner von Leibniz´ Thesen ist. Candide fragt ihn, warum dieser Planet überhaupt geschaffen wurde, wenn es auf ihm so grausam zugehe.

„Um uns zu Tode zu plagen“, antwortet Martin. „Ich wollte mich schon hunderte Male umbringen, um diesem Leben zu entgehen. Das nichts als Unglück, Krankheit und Bestrafung für uns bereit hält. Aber ich liebte mein Leben. Diese lächerliche Schwäche ist eine unserer fatalsten Charaktereigenschaften. Ist etwas absurder, als der Wunsch, kontinuierlich eine Last zu tragen, die man jederzeit abwerfen kann? Die Existenz zu verachten und doch an ihr fest zu halten? Anders ausgedrückt: die Schlange zu streicheln, die uns allmählich verschlingt, bis sie am Ende unser Herz verspeist hat?“

Ich sah durchaus Parallelen zwischen Candides Erfahrungen und meinen eigenen der letzten Tage. Allerdings war ich nicht mit Fußtritten, sondern mit Gewehrschüssen aus den Armen einer Geliebten verjagt, am ganzen Körper geschunden und auch noch mit einem Messer bedroht worden. Meine Orgie mit Beate und Anika wurde verraten und ich musste eine Lügengeschichte konstruieren, um mich aus der Schlinge zu ziehen. Das alles nur, weil ich leidenschaftlichen Sex gehabt hatte und die Frau, die mich angeblich liebte, deswegen ausflippte.

„Warum ist Charlotte nicht einfach froh darüber, dass ich auch ohne sie eine glückliche Zeit hatte? Wieso erwartet sie eigentlich, dass ich ausschließlich sie lieben soll?“ fragte ich mich irritiert. Was sollte dieser egoistische Besitzanspruch? Offensichtlich wünschte sie sich wo etwas wie einen auf Liebe programmierten Roboter, der ausschließlich und für den Rest seines Lebens nur sie liebte. Der war ich mit Sicherheit nicht. Was sollten die Eifersucht und Aggressionen von ihr und diesem unglücklichen Pedro? Waren diese negativen Gefühle, die zu Ohrfeigen und einer Verletzung an meinem Hals geführt hatten, tatsächlich die Schattenseiten von etwas so wundervollem wie der Liebe? Wenn etwas so Großartiges wie dieses einzigartige Gefühl derart hässliche Begleiterscheinungen hat, wie sieht es dann überhaupt mit dem Leben auf der Erde aus, fragte ich mich. Hatte Voltaire Recht, dass dieser Planet nur erschaffen wurde, um uns zu Tode zu plagen? Oder doch Leibniz, der behauptete, dass wir in der besten aller Welten leben? Gibt es wegen des Gesetzes von Ursache und Wirkung keine Zufälle, sondern sind wir für alles, was uns widerfährt, selbst verantwortlich? Gibt es tatsächlich so etwas wie Schuld und Sühne? Oder ist alles vorherbestimmt, was uns widerfährt? Damit wir genau fest gelegte Erfahrungen machen können, die uns in der Entwicklung der Seele, unseres wahren Selbst, vervollkommnen? Was entscheidet über den Verlauf unseres Lebens: Unser Wille oder die Determination? Das Rad des Schicksals, das gemäß dem spätantiken Philosophen Boethius ständig sinkt und steigt? Ich konnte diese großen Fragen längst noch nicht beantworten. Aber eins stand fest: Mein Schicksalsrad war gerade dabei zu sinken. Die durch unsere harmlose Orgie in Gang gesetzten Entwicklungen steuerten auf ihre dramatischen Höhepunkte zu.

Die Schatten des Glücks

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