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Kapitel 3: Hölle im Paradies
ОглавлениеKurz nach meinem dreißigsten Geburtstag flog ich von Paris nach Tahiti. Seit ich als kleiner Junge „Die Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando in einem Kino meiner Heimatstadt gesehen hatte, war es mein Traum gewesen, die atemberaubend schönen Drehorte des Films in der Südsee zu besuchen. Wie immer bei meinen Reisen hatte ich nichts gebucht. Bei meiner Ankunft auf Tahitis Flughafen Faa´a sagte ich dem Taxifahrer, er sollte mich zum besten Hotel der Insel bringen. Als wir durch Papeete fuhren, war ich maßlos enttäuscht. Links und rechts der Straße standen zweigeschossige Holzhäuser, von deren Fassaden die Farbe abblätterte. Auf den Bürgersteigen lungerten Gruppen von dunkelhäutigen, dicklichen Männern in Shorts und bunten T-Shirts herum, die Bierdosen in den Händen hielten und offensichtlich betrunken waren. Rundliche Frauen mit säulenartigen Beinen schlurften mit Plastiktüten in der Hand über die Bürgersteige. Einige standen zu Zweit oder in kleinen Gruppen schwatzend vor lieblos dekorierten, mit Waren aller Art vollgestopften Schaufenstern. Sie alle hatten sich farbige Tücher um ihre aufgeschwemmten Körper gewickelt, die ihre Fettpolster nur unzureichend verbargen. Die salzige Luft der Inselhauptstadt war geschwängert mit Benzindüften, die die unzähligen Mopeds verbreiteten, auf denen Jugendliche durch die schmalen Gassen knatterten. Die Straßen waren verstopft von rostigen alten Autos, die in Deutschland niemals eine Zulassung erhalten hätten. Die Fahrer der Wracks hatten sich „La Cucaracha“ und ähnlich schrille Melodien als Signaltöne eingebaut. Sie waren offensichtlich sehr stolz auf ihre Musik. Pausenlos betätigten sie ihre Hupen und erzeugten ein Ohren betäubendes Creszendo. Ich litt Höllenqualen, weil wir nur im Schritttempo vorwärts kamen und ich dieser akustischen Hölle schutzlos ausgeliefert war. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich das Ortsende erreichten und nach ein paar Kilometern in die Hoteleinfahrt des Tahara-Hilton einbogen. Ich ließ mir ein freies Zimmer zeigen. Es gefiel mir und ich checkte ein. Wenig später saß ich mit einem Cocktail in der Hand auf der großen Veranda und war wieder versöhnt. Unterhalb des terrassenartig an einen Berghang gebauten Hotelkomplexes fiel ein Wald von Kokospalmen steil zu der Lagune hinunter. In der Abendsonne schimmerte ihre spiegelglatte Wasseroberfläche wie flüssiges Gold, dann leuchtete sie in allen Farben der Koralle braun, weiß, lila, rot und rosa. An der Mündung eines kleinen Flusses, die ein paar Kilometer entfernt war, erkannte ich ein Dorf mit Pfahlbauten. Vor dem Korallenriff, das die Lagune gegen das offene Meer abschirmte, veranstalteten Insulaner eine Regatta mit ihren Auslegekanus. Hinter dem Riff erstreckte sich die weite Ruhe des Pazifiks, auf dem ein paar Meilen entfernt Moorea zu erkennen waren. Wie das Geschöpf der Phantasie eines Dichters schwebte diese unvorstellbar schöne Insel in einem feinen Dunst zwischen Ozean und Himmel. Sie schien nicht von dieser Welt zu sein. Ich freute mich sehr darauf, sie am nächsten Tag kennen zu lernen.
Früh am Morgen bestieg ich eine viersitzige, einmotorige Propellermaschine, die als Shuttleservice stündlich zwischen den beiden Inseln hin und her flog. Ich war der einzige Passagier. Der Anflug auf Moorea ließ mich den Atem anhalten. Im klaren Morgenlicht war der Anblick der Insel noch spektakulärer als gestern kurz vor Sonnenuntergang. Am hinteren Rand seiner türkisfarbenen, spiegelglatten Lagune erstreckten sich sanft geschwungene, schneeweiße Sandstrände, die in der Sonne glitzerten als bestünden sie aus lauter winzigen Diamanten. Sie waren umsäumt von dichten Wäldern aus Kokospalmen, die sich zärtlich an die steil ansteigenden Hänge der beiden hoch aufragenden Berge schmiegten, deren pittoreske Silhouetten der Insel ihren einzigartigen Charakter verliehen. Nach einem Flug von weniger als zehn Minuten landeten wir auf einem kleinen Flugplatz, der nur aus einer kurzen Landebahn und einer Holzhütte bestand. Der Pilot parkte seine Maschine direkt neben dem kleinen Gebäude. Zwei junge Insulaner schoben einen Holzwagen an das Gepäckabteil des Flugzeugs, um mein Gepäck zu holen. Als sie meine beiden schweren Lederkoffer und die unförmige Tasche für meine Videoausrüstung sahen, lachten sie schallend.
„Was wollen Sie mit dem ganzen Gepäck? Auf Moorea brauchen Sie eine Badehose, eine Shorts und ein T-Shirt für den Tag und einen Pareo für die Nacht. Das reicht völlig. Alles andere ist überflüssig.“
Sie hatten Recht. Ihre treffende Bemerkung war der Grund, dass ich den Rest meines Lebens nur noch mit einem klug gepackten Handgepäck reiste und nur das Wenige mitnahm, was ich wirklich benötigte.
In dem Holzhaus gab es zu meinem Erstaunen eine Autovermietung. Ich mietete mir einen offenen Jeep. Die beiden Jungs luden mein Gepäck ein und ich fuhr los. Kurz hinter dem Flughafen begann ein Wald aus Kokospalmen. Die Luft war erfüllt von den schrillen Schreien der farbenprächtigen Papageien, die überall in den Wipfeln saßen. Blauschimmernde Kolibris schwirrten stehend in der Luft und beäugten mich neugierig. Durch die Stämme hindurch leuchtete die blaue Lagune im Sonnenglanz. Ich hatte das Gefühl, das Paradies gefunden zu haben. Wie glücklich müssen die Menschen sein, die hier leben dürfen, dachte ich.
Die schmale Straße stieg leicht an. Hinter dem Wäldchen erblickte ich unter mir eine weit geschwungene Bucht, neben deren Sandstrand sich ein kleines Bungalowdorf mit einigen Pfahlbauten erstreckte. Sie waren in die Lagune hinein gebaut und durch Holzstege miteinander verbunden. An einer kleinen Abzweigung vor mir tauchte ein Schild mit der Inschrift „Hotel Kia Ora“ auf. Kurz entschlossen bog ich ab und fuhr hinunter zu der Anlage. Die hübsche Rezeptionistin hatte eine lustige Afrofrisur. Ihre Haut war von der Sonne getönt und bildete einen faszinierenden Kontrast zu ihren blauen Augen, die wie Saphire funkelten. Sie begrüßte mich überaus freundlich. Auf meinen Wunsch zeigte sie mir einen der Over-Water-Bungalows. Er bestand aus einem großen Schlaf-Wohn-Raum und einem angrenzenden Bad. Der Hauptraum war mit einem Kingsize-Bett, einer Kommode, einem Schrank, einem Schreibtisch, einem Stuhl, zwei Sesseln und einer Couch im Rattanstil möbliert. Die Einrichtung sah elegant und gemütlich aus. Das Bad hatte eine geräumige Dusche, ein Waschbecken, eine Toilette und zwei Schränke. Es war groß, hell und luftig. Von jedem Winkel des Bungalows hatte ich einen freien Blick über die Lagune, deren Wasser unter mir gegen seine Pfähle plätscherte. Es war das einzige Geräusch, das zu hören war. Ich war restlos begeistert. Meine Begleiterin nannte mir einen stolzen Preis für die Übernachtung und sah mich erwartungsvoll an. Die utopische Summe war mir egal. Es war schon immer etwas teurer, einen exquisiten Geschmack zu haben.
„Der Bungalow gefällt mir sehr gut. Ich nehme ihn für eine Woche .“
Sie lächelte zufrieden. Wir gingen zur Rezeption zurück, um die Formalitäten zu erledigen. Unterwegs erzählte sie mir, dass sie aus Montreal kam. Da sie zweisprachig war und hier viele Franzosen und Amerikaner Urlaub machten, hatte sie den Job bekommen. Ich wäre der erste Deutsche, der bisher hier gewesen war. Ihre liebenswürdige Art gefiel mir. Spontan fragte ich sie, ob ich sie zum Abendessen einladen dürfte, damit sie mir mehr über die Insel erzählen konnte. Sie sah mich kurz an, lächelte und sagte ja. Sie hieß Loni. Wir verabredeten uns für 18.30 Uhr, das war kurz nach Sonnenuntergang. Nach dem Ausfüllen des Anmeldeformulars setzte ich mich an die Hotelbar und bestellte mir einen Cocktail. Ein Mann in Shorts und einem weißen Hemd betrat die Bar und ließ sich neben mir nieder. Er war nicht mehr ganz jung, hatte einen kleinen, graugesprenkelten Bart und ein schmales, von der Sonne dunkelbraun gefärbtes Gesicht. Der Barkeeper begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. Er bestellte sich einen Scotch. Während wir auf unsere Drinks warteten, kamen wir ins Gespräch. Er war Holländer und freute sich, mit mir Deutsch reden zu können. Wie er mir erzählte, lebte er mehr als dreißig Jahre auf Moorea. Als er hierher kam, war er lungenkrank. Das Klima hatte ihn in ein paar Tagen komplett geheilt. Er verliebte sich in die Insel und blieb.
„Ich bin genauso begeistert von Moorea wie du, aber enttäuscht von Tahiti“, sagte ich. „Auf allen Bürgersteigen von Papeete lungern betrunkene Männer herum. Vom Taxi aus habe ich in die Geschäfte geblickt und zu meinem Erstaunen gesehen, dass die Regale mit französischem Wein und Käse, Erbsendosen, Maggi und Krabbenkonserven aus Dänemark gefüllt waren. Nirgendwo waren einheimische Produkte zu sehen.“
„Ja, es ist schockierend“, antwortete er. „Das Baguette ist jetzt Hauptnahrungsmittel und statt tropischer Früchte werden französische Äpfel gegessen. Im gleichen Maße wie die traditionelle Ernährung sind auch die einheimischen Kleidungsstücke, Sitten und Gebräuche verschwunden. Für diese Zustände sind nur die Atomversuche der Franzosen auf der Mururoa Koralleninsel verantwortlich. Über den eigens gebauten modernen Flughafen in Faa’a überschwemmten ab Mitte der sechziger Jahre zwischen 15.000 und 20.000 französische Militärangehörige und Techniker Tahiti - mit damals 50.000 Einwohnern - und weitere Inseln des französischen Übersee-Territoriums. Kinos, Clubs und Bars wurden gebaut, später auch Videoshops. Um die Probleme mit dem neuentstandenen Männerüberschuss zu lösen, wurde sogar diskutiert, Bordelle mit Prostituierten aus Asien einzurichten. Der Alltag der Polynesier, die zuvor nicht einmal mit einem Flughafen an die Welt angeschlossen waren, änderte sich rapide. Trotz verbreiteten Unwissens kam es zu vielfältigen Protesten gegen die Atomtests auf Tahiti, die aber jahrelang genauso wenig Beachtung fanden wie die auf den Tausende von Kilometern entfernten Inseln von Samoa und Fidschi, obwohl dort radioaktiver Niederschlag gemessen wurde. Schließlich wurde das Fischen im Südpazifik verboten. An den durch die Atomexplosionen zerstörten Korallenriffen siedelt sich eine besondere Algenart an, auf der giftproduzierende Geißeltierchen gedeihen. Den Fischen, die mit den Algen das Gift aufnehmen, scheint es wenig auszumachen, im Gegensatz zu den Menschen am Ende der Nahrungskette. Bei ihnen führt die Fischvergiftung Ciguatera zu schweren neurologischen Störungen, mit Lähmungen und Magen-Darm-Beschwerden, die monatelang anhalten und sogar zum Tode führen können. Während bei diesen Fischvergiftungen die Kausalitätskette heute unbestritten ist, bleiben alle weiteren schweren Erkrankungen geheimnisvoll, an denen viele Polynesier litten und leiden, die auf Mururoa gearbeitet haben. Die möglichen Folgen radioaktiver Bestrahlung sind unter Wissenschaftlern wenig umstritten: bestimmte Krebserkrankungen, Fehlgeburten, Missbildungen bei Neugeborenen, Schädigungen des Immunsystems. Es kann nur sehr schwer nachgewiesen werden, dass Krebs bei einer Einzelperson auf Radioaktivität zurückgeht und nicht auf andere Faktoren. Vermutungen lassen sich am ehesten bestätigen, wenn in einer Bevölkerungsgruppe ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz an bestimmten Krankheiten leidet. Seit Ende 1963 wurden keine polynesischen Krankheitsstatistiken mehr veröffentlicht. Wann immer ein Arbeiter erkrankte, wurde er gleich in ein französisches Militärhospital auf Tahiti gebracht und in schweren Fällen nach Paris ausgeflogen. Zugang zu ihren Krankenakten haben die Polynesier bis heute nicht. Viele Leidensgeschichten gleichen den Krankheitsfällen in anderen radioaktiv verseuchten Gegenden der Erde. Bei einem kurzen Besuch der französischen Ärzteorganisation Médecins du Monde in Tahiti haben die Ärzte sehr seltene Krebsarten entdeckt und waren allgemein über die Art der medizinischen Betreuung entsetzt. Deshalb beschlossen sie, eine größere Untersuchung zu starten, die nicht nur die ehemaligen Mururoa-Arbeiter und ihre Familien einschließen soll, sondern auch die Nachbarinseln der Atombombentests. Die traditionell als Fischer arbeitenden Polynesier haben wegen des Fangverbotes ihre Jobs verloren. Diejenigen, die nicht in den Atomtestgebieten der Franzosen arbeiten wollen, erhalten eine monatliche Entschädigung aus Paris. Da sie keine andere Arbeit finden, setzen sie das Geld in Alkohol um und trinken den ganzen Tag mit ihren ehemaligen Kollegen. Sie lungern mit Sixpacks von Bierdosen und billigem Fusel auf den Bürgersteigen Papeetes herum, weil sie nicht genug Moneten für teure Drinks in Bars haben. Du siehst, das ehemalige Paradies auf Erden wurde massiv vergiftet und das Leben der Insulaner auf den Kopf gestellt. Heute müssen die Bewohner des einst fischreichsten Gewässers des Planeten ihre Fische aus Paris importieren. Die gesundheitlichen Folgen der Nuklearversuche lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber die Menschen könnten etwas von ihrer Würde zurückerhalten, wenn ihre Regierung sie ernst nähme - auch wenn sie weit weg von ihrem ´Mutterland` leben, in einer dünn besiedelten Weltgegend, die gerade deshalb für die krankmachenden Atomtests auserkoren wurde.“ Ich war fassungslos. Die Ausmaße der Folgen dieser Umweltkatastrophe waren mir nicht bekannt gewesen. Es schockte mich, dass der gewissenlose Mensch in seiner Profitgier und Kriegslüsternheit auch vor diesem Paradies nicht zurückgeschreckt war und es massiv beschädigt und verseucht hatte. Als ich etwas sagen wollte, kam Loni herein, um mit dem Barkeeper zu sprechen. Sie sah uns und begrüßte den Holländer sehr herzlich. Offensichtlich kannte sie ihn gut. Dann verschwand sie wieder. Aber nicht, ohne mir kurz zuzublinzeln. Mein aufmerksamer neuer Bekannter hatte es bemerkt. „Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Aber sei vorsichtig. Liebe kann verheerend sein.“ Ich sah ihn erstaunt an. Er wechselte das Thema und erzählte mir, dass er Maler wäre. Fast alle Briefmarken von Französisch Polynesien waren von ihm entworfen worden. Spontan lud er mich zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Ich sagte ihm, dass ich bereits verabredet wäre. „Wenn deine Verabredung Loni heißt, dann bring sie mit. Ich mag sie sehr gerne.“ „Ich kann es nicht versprechen, aber ich werde es ihr vorschlagen“, antwortete ich. „Oh, sie wird einverstanden sein. Sie war schon ein paar Mal zum Essen bei mir. Sie mag mein Haus. Nein, keine Sorge, ich bin verheiratet, da war nie etwas zwischen uns“, sagte er, als er meine hoch gezogene Braue bemerkte. „Ihr müsst euch nicht anmelden, ich bin heute Abend zuhause. Kommt einfach vorbei.“ Am Abend holte ich Loni an der Rezeption ab. Als sie überlegte, in welches Restaurant wir gehen könnten, erzählte ich ihr von seiner Einladung. Sie war sofort einverstanden. Wir stiegen in meinen Leihwagen und sie dirigierte mich zu seinem Anwesen. Sein Haus lag auf der anderen Seite eines Baches, den ich mit meinem Jeep nicht durchqueren konnte. Eine schmale Brücke aus zwei nebeneinender gelegten Stämmen von Kokosnusspalmen führte hinüber. Es gab kein Geländer und wir hielten uns an den Händen fest, um die Balance zu halten. Am anderen Ufer des Baches zog ich sie an mich und wir küssten uns. Wir blieben eine Weile Arm in Arm stehen, um die Schönheit dieses paradiesischen Ortes auf uns wirken zu lassen. Der sehr solide aussehende Bungalow des Holländers lag inmitten von blühenden Büschen, die bis zum Dach hinaufwuchsen und es fast verdeckten. Ihr schwerer süßlicher Duft lag wie ein Parfum in der Luft und benebelte mir die Sinne. Sie grenzten an einen Palmenwald, der dicht hinter dem Haus begann und wie ein natürlicher Schutzwall wirkte. An der Vorderseite befand sich eine überdachte Veranda, von der man einen traumhaften Blick auf eine kleine Bucht unterhalb des Hauses und über die Lagune hatte. Bezaubert liefen wir Hand in Hand zu dem Bungalow. Seine Tür war offen und wir traten ein. Der Holländer stand mit einem Glas Whisky in der Hand in der Tür einer geräumigen, mit einem amerikanischen Kühlschrank und allen notwendigen Geräten ausgestatteten Küche. Er schaute einer dicken Insulanerin zu, die vor einem Gasherd stand und mit einem großen Löffel in einem Topf herumrührte. Sie trug einen Pareo und ein buntes Kopftuch, unter dem ihre grauen langen Haare hervorquollen. Nichts unterschied sie von den Frauen, die ich bei meiner Ankunft in Papeete gesehen hatte. Ich dachte, sie wäre seine Köchin. Er freute sich, als er uns erblickte und begrüßte uns herzlich. Zu meiner Überraschung stellte er uns die Köchin als seine Frau vor. Sie nickte uns gelangweilt zu und widmete sich wieder ihrem Topf. Er führte uns in ein großes Wohnzimmer. Verblüfft blieb ich stehen. In einer Ecke des Raumes stand ein kleines Piano mit einem aufgeschlagenen Notenbuch. Alle vier Wände waren von der Decke bis zum Boden mit Regalen bedeckt, in denen Rücken an Rücken unzählige Bücher standen. Es mussten mehrere Tausend sein. Noch nie hatte ich so viele in einem Privathaus gesehen. „Hast du die alle gelesen?“ fragte ich ihn. „Die meisten“, antwortete er kurz. Beeindruckt sah ich ihn an. Immer weniger verstand ich, dass ein so intelligenter, kultivierter und belesener Mann mit so einer unförmigen, unfreundlichen und vermutlich nicht besonders gebildeten Matrone zusammen lebte. Er fragte uns, was wir zu trinken haben wollten. Loni wollte eine Cola und ich einen Scotch. Er ließ uns allein, um das Gewünschte zu holen. „Die Beiden sind ein seltsames Paar. Sie passen überhaupt nicht zusammen. Oder siehst du das anders?“ fragte ich Loni. „Oh, sie haben gerade ihren dreißigsten Hochzeitstag gefeiert. Aber ihre Ehe ist eine tragische Geschichte. Frag ihn, vielleicht erzählt er sie dir.“ Das Essen war vorzüglich. Es gab eine köstliche Gemüsesuppe, einen nach thailändischer Art zubereiteten Loup de Mer und als Nachspeise frische Ananas und Mangos mit Eis. Dazu kredenzte er uns einen gut gekühlten, trockenen Chablis. Wir aßen mit gutem Appetit und unterhielten uns angeregt mit dem Hausherrn. Er war ein geistreicher Erzähler, der nicht nur über die Lage im Südpazifik, sondern auch über das Geschehen in Europa und dem Rest der Welt bestens informiert war. Wir diskutierten über die verlogene, einseitige Berichterstattung in den Medien und die Leichtgläubigkeit der Masse. Er zitierte Shakespeare und sprach vom „fickleness of the mob“. Loni beeindruckte mich mit ihren klugen und durchdachten Äußerungen. Trotz der ernsten Themen lachten wir viel und waren bester Laune. Nur seine Frau blieb teilnahmslos und einsilbig. Sie antwortete nur sehr widerwillig und unfreundlich, als ich sie höflich nach der Rezeptur ihrer Suppe fragte. Sie schien froh zu sein, wenn sie zwischen den Gängen wieder in ihrer Küche arbeiten konnte. Nachdem wir unseren Nachtisch gegessen hatten, servierte unser Gastgeber einen grünen Chartreuse, meinen Lieblingsdigestif. Er hatte wirklich Format und war nicht nur ein Connaisseur was Essen und Trinken betraf. Immer weniger verstand ich diese Ehe. Seine Frau stand auf und räumte das Geschirr ab. Wir hörten, wie sie in der Küche hantierte und abspülte. Ich fand, dass der Zeitpunkt günstig war, um ihm auf den Zahn zu fühlen. „Was hat deine Frau? Ist sie sauer, dass wir unangemeldet vorbei gekommen sind?“ fragte ich betont harmlos. Sofort wurde er ernst. „Nein, das hat mit euch nichts zu tun. Sie ist immer so. Sie hat mir viele Jahre das Leben zur Hölle gemacht.“ Tränen traten in seine Augen. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas Chartreuse und gab sich einen Ruck. „Also gut, ich erzähle dir unsere Geschichte. An der Stelle, wo jetzt mein Haus steht, lebte als junges Mädchen meine Frau. Damals war es eine einfache Bambushütte mit einem Dach aus Palmblättern. Sie stand leer, weil der ehemalige Besitzer gestorben war und keine Erben hatte. Da war sie einfach eingezogen. Es war schon damals ein kleines Paradies. Um ihre Hütte herum wuchsen Büsche und Blumen, die auch heute noch stehen. Ich habe nur den Weg zum Haus frei geschnitten. Als ich den idyllischen Platz von der Brücke aus das erste Mal erblickte, hielt ich ihn für den schönsten, den ich jemals gesehen hatte. Es lag ein besonderer Zauber über diesen Ort. Bald fand ich heraus, dass es ihre Liebe war, die sich hier ausgebreitet hatte wie die vom Wind in einer Wiese verteilten zarten Blütengebilde der Pusteblume. Ich habe den Eindruck, dass Orte, an denen Menschen geliebt oder gelitten haben, immer ein schwaches Aroma von ihren Gefühlen haben, das niemals ganz verschwindet. Als ob diese Plätze eine spirituelle Dimension erhalten haben, die mysteriöser weise alle berührt, die vorbei kommen.“ Ich sah ihn verwundert an. Er bemerkte meine Verwirrung, zuckte mit den Schultern und fuhr ohne darauf einzugehen fort. „Sie lebte hier zurückgezogen und allein, bis eines Tages Beau in der Bucht neben der Mündung des kleinen Flusses landete. Er war ein amerikanischer Seemann und von einem Kriegsschiff desertiert, das in Papeete vor Anker lag. Ein paar von ihm bestochene Fischer hatten ihn mit einem kleinen Boot hier herüber gesegelt und in der Bucht neben der Mündung des Flusses abgesetzt. Beau wurde so genannt, weil er wahrscheinlich der schönste Mann war, den man je gesehen hat. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die ihn kennen gelernt haben. Sie stimmten alle darin überein, dass seine Schönheit jedem, der ihn das erste Mal sah, den Atem raubte. Er war ungefähr 1,90 groß und hatte schulterlange schwarze Haare, die im Sonnenlicht glänzten als hätte er einen Heiligenschein. Er war gebaut wie ein griechischer Gott, breite Schultern und schmale Hüften. Seine Haut war weiß und wie Satin. Es war die Haut einer Frau. Als er in der Bucht stand und die beglückende Atmosphäre des Platzes auf sich wirken ließ, beobachtete sie ihn durch die Spalten zwischen den Bambusstangen. Sie trat aus der Hütte, winkte ihm zu und lud ihn ein, zu ihr zu kommen. Er verstand kein Wort ihrer Maohi-Sprache. Aber er begriff, was ihre Gesten und ihr Lächeln bedeuteten und kam zu ihr. Er setzte sich auf eine Matte und sie fütterte ihn mit Stückchen von Ananas. Ich kenne Beau nur vom Hörensagen, aber ich traf sie drei Jahre nach ihm. Damals war sie neunzehn Jahre. Ihre Schönheit war atemberaubend. Sie war ziemlich groß, schlank und besaß die schönen ebenmäßigen Züge ihrer Rasse. Mit großen, warmen Augen, die auf mich still und tief wie ein See unter Palmen wirkten. Ihre schwarzen lockigen Haare fielen ihren Rücken herunter und sie duftete nach allen Blumen der Insel. Ich kann sie nicht wirklich beschreiben. Sie war zu schön, um wahr zu sein.“ Er machte eine Pause. Sein Blick schweifte über seine vollgestopften Bücherregale. Die Erinnerung an ihre ehemalige Schönheit hatte ihn erschüttert. Gebannt wartete ich auf die Fortsetzung seiner Geschichte. „Diese beiden jungen Menschen, sie war sechzehn und er zwanzig, verliebten sich auf den ersten Blick. Es war die wahre Liebe. Sie hatte nichts zu tun mit der Vernunftmäßigen, die aus Sympathie, gemeinsamen Interessen oder intellektuellen Gemeinsamkeiten entsteht. Dies war Liebe, rein und einfach. Es war die Liebe, die Adam für Eva empfand, als er sie das erste Mal im Garten Eden erblickte. Die Art von Liebe, die Tiere und Götter zueinander zieht und die die Welt und das Leben zu einem Wunder werden lässt. Manche sagen, dass es bei zwei Liebenden immer einen gibt, der liebt, und einen anderen, der sich lieben lässt. Aber ab und zu gibt es zwei, die lieben und sich lieben lassen. Dann bleibt die Sonne stehen, um ihnen zuzusehen.“ Er schenkte sich Chartreuse nach. Ich dachte an den Erpel, der sich aus Liebe geopfert hatte, und verstand genau, was er meinte. „Sogar heute noch, nach all den Jahren, versetzt es mir einen Stich, wenn ich an diese beiden einfachen, glücklichen Menschen und ihre Liebe denke. Genauso wie es mir geht, wenn ich in bestimmten Nächten den Vollmond an einem wolkenlosen Himmel die Lagune bescheinen sehe. Sie war gut, süß und freundlich. Ich weiß nichts von ihm. Aber ich stelle mir vor, dass sein Herz genauso schön war wie sein Körper. Man sagt, dass glückliche Menschen keine Geschichte und keine Zukunft haben. Die Beiden lebten nur im Hier und Jetzt. Sie machten den ganzen Tag nichts und trotzdem schienen die Tage ihnen viel zu kurz zu sein. Er lernte ihre einfache Sprache. Stundenlang lag er auf der Matte, während sie fröhlich schwätzte und ihm belanglose Geschichten von dem Leben auf der Insel erzählte. Er war ein ruhiger, phlegmatischer Zeitgenosse und sein Verstand etwas träge. Tiefgründigkeit war ihm fremd. Seine Hauptbeschäftigung war es, ununterbrochen die Zigaretten zu rauchen, die sie ihm den ganzen Tag ohne zu ermüden aus Pandanus Blättern drehte. Manchmal kamen Frauen aus dem Nachbardorf vorbei und erzählten ihm Geschichten von alten Zeiten, in denen die verschiedenen Stämme der Insel wild gegeneinander kämpften. Manchmal ruderte er in einem Auslegekanu zum Riff und brachte einen Korb voll bunter Fische mit nach Hause. In einigen Nächten ging er mit einer Laterne zum Hummerfischen. Sie wusste, wie man einfache, aber köstliche Mahlzeiten aus den Schalentieren, Kokosnussbrei und den Früchten des Brotfruchtbaumes zubereitete. Einmal tötete er ein kleines Schwein und sie brieten es auf einem heißen Stein. Es war ein Festtag für sie. Tagsüber badeten sie zusammen in dem kleinen Fluss und am Abend paddelten sie mit ihrem Auslegerkanu hinaus in die Lagune, die ihre Farben während des Sonnenuntergangs ständig veränderte. Sie war wie ein Zaubergarten und die um ihr Boot herum fliegenden Fische waren wie Schmetterlinge. So verging Tag um Tag. Die Wochen wurden zu Monaten und ein Jahr war vergangen. Sie liebten sich leidenschaftlich. Ich möchte das Wort eigentlich nicht benutzen, denn es hat immer einen Schatten der Trauer, ein wenig Bitterkeit oder Zorn. Besser ist aus vollem Herzen. Sie liebten sich so einfach und natürlich wie an dem ersten Tag, an dem sie erkannten, dass in ihnen ein Gott wohnte. Beide dachten, dass ihre Liebe niemals schwächer werden könnte. Ein essenzielles Element der Liebe ist der Glaube an die eigene Unsterblichkeit. Und doch gab es in Beau bereits ein winziges Saatkorn, von ihm selbst nicht erkannt und unbemerkt von ihr, das zur gegebenen Zeit zur Langeweile und Gleichgültigkeit heranwachsen würde. Manchmal träumte er von seiner Arbeit als Matrose, von geschäftigen Hafenstädten und der unendlichen Weite des Ozeans. Eines Tages berichtete ihm ein Junge aus dem Nachbardorf, dass in der Bucht ein englisches Walfangschiff vor Anker lag. Die Zigaretten aus Pandanus-Blättern waren ausreichend, um sein Bedürfnis zu Rauchen zu befriedigen. Aber er sehnte sich nach echtem Tabak. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er an eine gut gestopfte Pfeife dachte. „Ich werde versuchen, ein bisschen Tabak gegen Früchte einzutauschen. Hilfst du mir, welche zu pflücken?“ fragte er sie. Sie gingen zusammen mit dem Jungen auf einen Hügel, sammelten einen großen Korb mit Kokosnüssen, wild wachsenden Orangen und Bananen und trugen ihn zu der Bucht. Beau und der Junge luden den Korb in ein Auslegerkanu und paddelten zu dem ankernden Walfänger. Er winkte ihr zu, bevor er und der Junge mit dem Korb das Fallreep an der Bordwand hinauf kletterten. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah. Am nächsten Morgen kam der Junge alleine zu ihr. Unter Tränen erzählte er ihr, wie sie an Bord geklettert waren und ein weißer Mann sie freundlich empfangen hatte. Beau und er redeten miteinander und wurden sich einig. Der Mann war der Kapitän des Schiffes. Er ließ den Obstkorb von zwei seiner Männer unter Deck bringen. Ein Matrose brachte Beau eine Pfeife und einige Päckchen Tabak. Beau riss sofort eins auf, stopfte die Pfeife und zündete sie an. Er sog den Rauch ein und schloss genießerisch die Augen. Der Kapitän sagte etwas zu ihm und sie gingen in eine Kabine. Der Junge beobachtete durch ein Fenster, wie der Kapitän eine Flasche auf den Tisch stellte. Beau trank und rauchte. Der Junge hatte das Interesse verloren. Er rollte sich an der Kabinenwand zusammen und schlief ein. Durch einen harten Tritt wurde er brutal geweckt. Erschrocken sprang er auf und bemerkte, dass das Schiff langsam aus der Lagune segelte. Durch das Fenster der Kabine sah er, wie Beau mit dem Kopf auf dem Arm vor der leeren Flasche am Tisch saß und fest schlief. Er wollte zu ihm laufen und ihn wecken. Aber eine harte Hand ergriff seinen Arm und hielt ihn fest. Jemand hob ihn hoch und warf ihn über Bord. Er schwamm zu dem Kanu und paddelte schluchzend ans Ufer. Der Kapitän brauchte Leute und hatte Beau einfach geschanghait. Sie war außer sich vor Kummer. Sie weinte und schrie drei Monate lang. Niemand konnte sie trösten. Sie aß nichts. Völlig erschöpft versank sie in einer dumpfen Apathie. Tagaus tagein saß sie in der Bucht und beobachtete den Horizont. Stunde um Stunde lag sie auf dem weißen Sand und die Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen. Vier Monate später brachte sie ein Kind zur Welt, das aber bei der Geburt starb. Alle Lebensfreude war aus ihr verschwunden. Nie gab sie ihre feste Überzeugung auf, dass Beau eines Tages wieder kommen würde.“ Er machte eine Pause und genehmigte sich wieder einen großen Schluck seines Chartreuse. Dann sah er mich mit geröteten Augen verzweifelt an. „Als ich sie das erste Mal in der Bucht sitzen sah, verliebte ich mich Hals über Kopf in sie. Es war diese Melancholie in ihren Augen, die mich magisch anzog. Ich meinte, die Aura ihrer tiefgründigen Seele zu sehen. Sie verzauberte mich. Ich war ihr vom ersten Augenblick an verfallen. Als ich mich im Dorf nach ihr erkundigte, erfuhr ich ihre Geschichte. Ich konnte es kaum glauben, dass es unter den Inselbewohnern, deren Gefühle zwar heftig, aber schnell vergänglich sind, eine Frau gab, die so lange so leidenschaftlich liebte. Ihretwegen lernte ich die Sprache der Einheimischen. Als ich sie einigermaßen beherrschte, ging ich zu ihr und stellte mich ihr vor. Ihre erste Frage war, ob ich bei meiner Anreise Beau getroffen hätte. Sie beschrieb ihn mir mit leuchtenden Augen. Ich sagte nein und sie wandte sich enttäuscht von mir ab. Sie hatte komplett das Interesse an mir verloren. Aber ich gab nicht auf. Ich lauerte ihr auf und lief ihr immer wieder absichtlich über den Weg. Jedes Mal grüßte ich sie betont freundlich, aber sie ignorierte mich und würdigte mich keines Blickes. Eines Tages fasste ich mir ein Herz. Ich ging zu ihr und fragte sie, ob sie mit mir zusammenleben wollte. Sie sah mich mit einem eisigen Blick an und sagte nein. Ich hatte das erwartet, aber ich gab nicht auf. Also erzählte ich ihrer alten Tante, die wie ich heraus gefunden hatte ihre einzige Verwandte war, und ihren Nachbarn von meinem Vorhaben. Alle fanden es gut. Sie waren fröhliche Menschen und sie ging ihnen auf die Nerven mit ihrem ewigen Kummer. Ihre Tante und die Nachbarn fingen an, auf sie einzureden, mein Angebot anzunehmen. Nach den Standards der Insel war ich ein reicher Mann. Sie weigerte sich. Aber ihr Widerstand fachte meine Liebe noch stärker an. Von nun an belagerte ich sie täglich. Schließlich sah sie ein, dass Beau nie zurückkommen würde. Ermüdet von allen Einflüsterungen und meiner Hartnäckigkeit gab sie schließlich nach und sagte ja. Als ich sie am nächsten Tag außer mir vor Freude besuchte, hatte sie ihre Hütte nieder gebrannt, in der sie mit Beau gehaust hatte. Sie wollte auf keinen Fall auch mit mir in ihr leben. Es machte mir nichts aus. Ich baute den Bungalow, in dem wir gerade sitzen. Sie willigte ein, meine Frau zu werden. Bei unserer Hochzeit nach den Traditionen ihres Stammes war ich überglücklich. Aber schon nach den ersten Tagen unserer Ehe war mir klar, dass sie nichts für mich empfand. Sie erfüllte ihre ehelichen Pflichten ohne jede Anteilnahme. Hilflos musste ich akzeptieren, dass sie Beau immer noch liebte. Sie würde mich auf sein kleinstes Zeichen sofort verlassen, wenn er zurückkäme. Trotz dieses Wissens beschloss ich, um ihr Herz zu kämpfen. Ich versuchte, es mit Freundlichkeit und meiner liebevollen Art zu gewinnen. Aber meine Bemühungen interessierten sie nicht. Sie zeigte keinerlei Reaktion und blieb kühl. Also täuschte ich vor, sie zu ignorieren. Es war ihr nicht nur egal, sondern sogar angenehm. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Aus Verzweiflung schrie ich sie wegen jeder Kleinigkeit an. Schließlich verprügelte ich sie wie einen widerspenstigen Esel. Ohne einen Laut von sich zu geben, ertrug sie meine Schläge. Sie lächelte nur kalt und sah mich verächtlich an. Meine Liebe zu ihr wurde zu meinem Gefängnis, aus dem ich vergeblich immer wieder auszubrechen versuchte. Ich reiste zu anderen Inseln und hatte Affären. Aber die verstärkten meine Liebe zu ihr nur noch. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu verlassen und wurde immer niedergeschlagener wegen ihrer Teilnahmslosigkeit. Es war eine jahrelange Folter, sie tagtäglich so gleichgültig und abweisend zu erleben. Erst nach vielen Jahren wurden meine Gefühle für sie taub und hoffnungslos. Am Ende hatte sich mein Feuer selbst verbrannt. Wenn ich sah, wie sie am Abend auf der Veranda saß und immer noch sehnsüchtig auf die Lagune starrte, empfand ich nicht mehr Wut und Verzweiflung, sondern Mitleid. Über dreißig Jahre leben wir jetzt zusammen, gebunden von Gewohnheit, Kompromissen und Bequemlichkeit. Heute blicke ich mit einem bitteren Lächeln zurück auf meine ehemalige Leidenschaft. Ich liebe sie nicht mehr, sondern toleriere sie und akzeptiere ihre Gegenwart. Die Tragödie der Liebe ist nicht ein Tod oder eine Trennung. Die Tragödie der Liebe ist die Gleichgültigkeit. Heute bin ich glücklich mit meinem Piano und meinen Büchern.“ Er schwieg. Auch ich war sprachlos. Vergeblich versuchte ich mir die ehemalige Schönheit und die Anziehungskraft des dicken, unfreundlichen Weibes in der Küche vorzustellen. Ich malte mir aus, wie sehr er unter den Phantomen seiner Ehe gelitten haben musste. Auf einmal fühlte ich mich sehr unwohl in dem Haus, das so viel Qual und Leid gesehen hatte. Ich wollte gehen und entschuldigte mich mit meiner Müdigkeit. Wir tranken aus und er verabschiedete uns mit einem sanften Händedruck. Seine Frau nickte uns nur kurz zu, als wir an ihrer Küche vorbei gingen. Loni und ich liefen händchenhaltend über die Brücke. Am anderen Ende blieben wir stehen und blickten zurück zu dem Bungalow. Der sternenklare Tropenhimmel beschien das idyllische Terrain. Es war unbegreiflich für mich, dass sie diesen paradiesischen Platz in eine Hölle auf Erden verwandelt hatten. Er hatte das Licht gelöscht und das Haus war dunkel. Auf der Veranda saß in einem Lehnstuhl seine Frau. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Aber ich war sicher, dass sie auf die Lagune hinaus blickte.
Wir fuhren schweigend nach Hause. Im Hotel fragte ich Loni, ob sie noch mit zu mir kommen wollte, um unter dem Sternenzelt noch etwas zu trinken. Ich wollte ungern allein sein. Zu sehr hatte mich die Geschichte des holländischen Malers berührt und aufgewühlt.
„Gerne“, sagte sie.
Kurz darauf saßen wir mit einer Flasche Chablis aus der Minibar nur ein paar Zentimeter oberhalb der Wasseroberfläche der Lagune auf der Terrasse meines Bungalows. Ich ergriff ihre Hand. Angesichts der unendlichen Zahl von Sternen über uns fragte ich sie, welche Bedeutung so eine menschliche Tragödie für das Universum haben könnte.
„In der hermetischen Philosophie gibt es die Theorie, dass das ganze Universum ein Traum Gottes ist. Wenn ER ewig und allumfassend ist, kann nur in seinen Träumen etwas Neues entstehen. Auch wir Menschen sind demnach seine Traumgeschöpfe. Unsere Aufgabe ist es, seine theoretisch vorhandenen Erfahrungen für ihn real zu erleben. Wir sind quasi alle Pfadfinder Gottes. Deshalb ist jede unserer Erfahrungen für das Universum bedeutsam. Auch die der Leiden des Holländers und seiner Frau“, erklärte sie mir. „Ich bin übrigens eine Buddhistin. Buddha war ein im größten Luxus aufgewachsener Prinz, dessen Eltern darauf achteten, dass er nur junge, schöne und gesunde Menschen um sich herum hatte. Bei einem heimlichen Spaziergang außerhalb seines Palastes begegnete er einem alten, einem kranken und einem sterbenden Menschen. Er war so entsetzt über ihre Leiden, welche eines Tages auch ihm widerfahren würden, dass sein ganzes Wesen den Grund seiner Existenz wissen wollte. Die meisten Menschen beginnen erst zu meditieren, wenn in ihrer Familie ein Unglück passiert. Manche, wenn sie selbst dem Tod nahe stehen. Ähnlich wie Buddha erkennen die meisten Suchenden erst durch Leid ihren Weg zum Glück. Das Leiden ist wie ein Schloss, für das der Schlüssel gefunden werden muss, der uns die Pforte zu einem besseren Verständnis öffnet. Buddha hat drei Arten von Leid unterschieden: Das körperliche, unmittelbare Leiden wie Kopfweh, Magenschmerzen usw. Dann das Leiden, das die Psyche betrifft, wie Sorgen, Angst vor drohenden Gefahren, Liebeskummer etc. Und das Leiden, das durch Phänomene entsteht, die nicht von Dauer sind. Die letzte Art von Leiden hat mit dem Haben und Behalten Wollen und der Vergänglichkeit zu tun. Die meisten Menschen vermeiden es, sich mit ihrer vergänglichen Wirklichkeit auseinander zu setzen. Sie tun alles, um die Illusion aufrecht zu erhalten, sie seien unsterblich. Sie machen sich vor, dass Menschen und Dinge festgehalten werden können. Was meinst du, wie lange es noch gedauert hätte, bis Beau ihrer überdrüssig geworden wäre? Der fehlende echte Tabak war das erste Indiz für seine keimende Unzufriedenheit. Bald hätte er angefangen, ihre Unzulänglichkeiten zu entdecken und versucht, sie zu ändern. Das hat nichts mit bedingungsloser Liebe zu tun, die den Geliebten genauso akzeptiert und liebt wie er ist.
Auch bei dem Holländer war es nur egoistische Liebe, die er für sie empfand. Diese Form der Liebe ist immer ein Machtspiel, ein Krieg. Zwischen dem Holländer und seiner Frau wurde er auf der psychischen Ebene ausgetragen. In Wirklichkeit liebte er nicht sie, sondern ein Ideal, das er in ihr entdeckt zu haben glaubte. Als seine Frau alterte und dick wurde, schwächte sich sein Wahn immer mehr ab. Seine Selbsttäuschung endete und ihr Zauber verflog. Resigniert und deprimiert erkannte er, wie sie wirklich war. Sein Ego war furchtbar verletzt, weil er sich so in ihr getäuscht hatte. Seine Leidenschaft erlosch und wurde zu Lethargie.“
Ich sah sie bewundernd an. Sie war eine sehr kluge Frau. Und sehr schön. In ihren blauen Augen spiegelte sich das Licht der Sterne und ihre gebräunte Haut schimmerte wie flüssiges Gold. Ich stellte mir kurz vor, wie wir uns ineinander verschlungen schwitzend und keuchend auf meinem Bett wälzten. Ich verwarf die Vorstellung sofort wieder. Unser Sex hätte den Zauber der Nacht zerstört. Mein Herz war berauscht von der überirdischen Schönheit des mit unzähligen Diamanten besetzten Nachthimmels, die sich in der spiegelglatten See der Lagune spiegelten. Wir blieben ohne uns zu berühren nebeneinander sitzen, tranken Wein und plauderten über unsere Ansichten vom Leben und sonstige Nebensächlichkeiten. Sie erzählte mir, dass sie in Montreal als wissenschaftliche Assistentin an der philosophischen Fakultät gearbeitet hatte. Eines Tages saß sie in ihrem Büro vor einem Stapel Bücher, die sie durcharbeiten sollte, und bekam Panik. Das konnte nicht ihr Lebensinhalt sein. Spontan buchte sie einen Flug nach Tahiti, das sie von früher gut kannte. Sie flog nach Moorea weiter und bewarb sich um die Stelle, die in dem Hotel gerade frei war. Jetzt war sie schon zwei Jahre hier und wollte nie mehr weg.
Ich war in Gedanken noch bei der Geschichte des Holländers und überhörte ihre kleine Nebenbemerkung über Tahiti. Stattdessen fragte ich sie, in welchem Verhältnis Sex und Liebe ihrer Meinung nach zueinander stünden.
„Für mich ist Liebe subjektiv und Sex objektiv. Beim Sex interessierst du dich für eine Frau oder einen Mann wie für ein Objekt. Wenn du das Ding einmal erforscht hast, dann bleibt nichts mehr davon übrig. Dann bist du bereit, zum nächsten Objekt weiter zu gehen. Ja, die Frau sieht wunderbar aus, aber wie lange kann sie so schön sein? Ein Objekt ist ein Objekt. Sie ist für dich keine Person. Sie ist nur ein schönes Ding. Du versuchst sie für deinen Lustgewinn auszunutzen. Du machst sie zu deinem Instrument. Früher oder später wird sich dein Interesse wie das eines Kindes an seinem Spielzeug verlieren.
Liebe bedeutet, dass du nicht an der Frau oder dem Mann als Objekt interessiert bist. Du bist nicht dazu da, um sie auszubeuten. Du bist nicht da, um etwas von ihr zu bekommen. Im Gegenteil, du bist voller Energie und du möchtest ihr davon abgeben.
Liebe gibt. Sex möchte nur erhalten.
Liebende helfen sich gegenseitig, mehr und mehr sie selbst zu werden. Sie helfen sich, ein authentisches Individuum zu werden und zentriert zu sein. Liebe ist Respekt, Ehrfurcht und Andacht. Sie ist keine Ausnutzung. Liebe versteht. Weil die Energie nicht mit der Ausbeutung eines Objekts beschäftigt ist, bleibt sie frei und ungebunden. Das verursacht die Verwandlung von Sex in Liebe.“
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.
„Oh, so spät schon. Entschuldige, aber ich muss morgen zeitig aufstehen. Ich habe Frühdienst.“
Sie erhob sich, gab mir einen Abschiedskuss und lief über die Holzstege zu der Angestelltenunterkunft hinter der Rezeption. Ich ließ ihre Worte auf mich wirken. In der Theorie richtig und wunderschön. Aber in der Praxis sah es anders aus. Ich kuschelte mich in die Polster meines bequemen Rattansessels und betrachtete das Sternenmeer über mir, das den samtblauen Himmel der warmen Tropennacht wie mit Gold bestäubt hatte. Weiß die Erde irgendetwas davon, was auf jenen Sternen vor sich geht, die wie feurige Samen in den Himmel hinaus gestreut sind? So weit entfernt, dass wir nur das Licht einzelner erblicken, während der unzählige Rest in der unendlichen Weite des Alls verloren ist. Auch der Mensch weiß nichts davon, was in einem anderen Menschen vor sich geht. Wir sind weiter voneinander entfernt als diese Gestirne. Einsam stehen wir da, weil der Gedanke unerforschlich ist. Dauernd berühren wir andere, ohne sie durchdringen zu können. Wir strecken die Arme aus, ohne sie jedoch wirklich berühren zu können. Wir lieben Frauen, als ob wir mit ihnen verkettet wären. Ein quälendes Bedürfnis zueinander zu kommen peinigt uns, aber unsere Hingabe ist fruchtlos und unser Vertrauen vergeblich. Unsere Liebe ist schwach und unsere Zärtlichkeit flüchtig und eitel. Wenn wir uns nahe kommen, dann stoßen wir uns nur einer am anderen. Wenn ich einer Frau oder einem Freund mein Herz ausschütte, fühle ich mich so allein wie nie. Vor mir steht ein Mensch mit klaren Augen, doch die Seele hinter ihnen kenne ich nicht. Er hört mir zu, aber was denkt er? Vielleicht hasst er mich, verachtet mich, lacht mich aus, denkt über das nach, was ich sage, kritisiert mich, verspottet mich, verurteilt mich, hält mich für einen mittelmäßigen Menschen oder für einen Trottel. Wie soll ich wissen, was dieser Mensch denkt oder ob er mich liebt wie ich ihn liebe? Was geht in seinem Gehirn vor? Welch Rätsel ist dieser Gedanke, den wir nicht kennen. Den wir nicht leiten, nicht beherrschen und nicht entziffern können. Auch bei mir ist es so. Selbst wenn ich meine sämtlichen Tore öffne, in mein tiefstes Inneres dringt kein anderer Mensch. Niemand kann mich entschlüsseln, weil niemand mir ähnlich ist. Deshalb kann niemand den anderen begreifen. Das ganze Elend, die ganze Qual unserer Existenz kommt daher, dass wir immer allein sind. All unsere Bemühungen und Bestrebungen haben nur einen Zweck, dieser Einsamkeit zu entfliehen. Auch der Holländer versuchte mit seiner törichten Liebe, seine Einsamkeit zu bezwingen. Aber er blieb allein und wird immer allein bleiben. Seine Zuflucht sind die Musik und die nieder geschriebenen Gedanken anderer. Frauen machen uns noch mehr unsere Einsamkeit bewusst, weil sie uns mehr als die Männer die Illusion gegeben haben, nicht allein zu sein. Wenn wir uns verlieben, ist es, als wüchsen uns Flügel. Eine übermenschliche Glückseligkeit durchströmt uns. Dieses unendliche Glücksgefühl entsteht, weil man sich einbildet, nicht mehr allein zu sein. Aber die Frau ist die große Lüge in diesem Traum. Welche Seligkeit führt unseren Geist in die Irre und welche Illusion reißt uns mit sich. Sie und ich wollen gleich ein Wesen bilden, vom Ich zum Wir werden. Aber dieses Gleich kommt nie. Nachdem man Wochen, Monate oder Jahre darauf gewartet hat, ist man eines Tages einsamer als zuvor. Nach jedem Kuss, nach jedem Liebesakt wird die Einsamkeit größer. Sie ist furchtbar und bricht einem das Herz. Dann ist die Beziehung zu Ende. Die Frau, die einmal in unserem Leben für uns alles gewesen ist, erkennen wir eines Tages nicht mehr wieder. Dann begreifen wir, dass wir ihre innersten Gedanken niemals gekannt haben. Selbst wenn wir nach einer stürmischen und intensiven Liebesnacht glauben, in ihre Seele geblickt zu haben, zeigt uns ein Wort, nur ein einziges Wort, die Kluft, die uns trennt. Aber einen Abend mit einer Frau zu verbringen, die man liebt, glücklich allein durch das Gefühl ihrer Gegenwart, das ist doch das Schönste auf dieser Erde. Mehr dürfen wir nicht verlangen. Niemals werden zwei Wesen wirklich eins.
Unter dem leuchtenden Sternenzelt der Südsee erinnerte ich mich daran, was geschah, als ich das erste Mal versuchte, mich mit einer Frau trotz dieser Erkenntnis zu vereinen.