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Kapitel 2: Endlichkeit

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Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit dem Tod aus Liebe konfrontiert wurde. Normalerweise ist der Tod weit weg und betrifft nur die anderen, denken wir. Auch ich gehörte sehr lange zu diesen Ignoranten der Endlichkeit unseres Seins. Bis mich eines Tages ohne Vorwarnung ein chronischer Husten befiel. Nach jedem Satz bekam ich einen Hustenanfall. Länger zu sprechen war unmöglich. Monatelang versuchte ich vergeblich, ihn mit alternativen Heilmethoden zu bekämpfen. Ich hatte keinen Appetit mehr und verlor kontinuierlich an Gewicht. Von Woche zu Woche wurde ich schwächer. Eines Tages bekam ich so heftige Zahnschmerzen, dass ich sofort einen Zahnarzt aufsuchte. Als ich mich in seinen Behandlungsstuhl setzte, sah er mich besorgt an.

„Wie sehen Sie denn aus. Ihre Haut ist ja Gelb-Grün. Sie müssen sich unbedingt von einem Arzt untersuchen lassen.“

Aber ich ignorierte seinen Rat. Ich misstraute den Ärzten der Schulmedizin. Die meisten von ihnen wollen nur Produkte der Pharmaindustrie verkaufen, die abscheuliche Nebenwirkungen haben. Also hustete und hungerte ich weiter. Bis ich an einem kalten Februarmorgen meine Mülltonnen heraus stellen wollte. Nur mühsam konnte ich sie hinter mir herziehen. Als ich sie endlich am Straßenrand platziert hatte, war ich in Schweiß gebadet und völlig kraftlos. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich ins Haus zurück und legte mich erschöpft auf mein Bett. Nachdem ich mich etwas erholte hatte, stand ich auf und suchte mir aus dem Telefonbuch eine Ärztin heraus. Ich rief sie an und schilderte ihr meinen Zustand.

„Kommen Sie sofort vorbei. Das hört sich nicht gut an.“

Ich wusste selbst, dass ich ernsthafte Probleme hatte. Vorsichtshalber packte ich einen Schlafanzug und Waschzeug in eine kleine Tasche. Mit letzter Kraft schaffte ich es, mich zu meinem Geländewagen zu schleppen und einzusteigen. Erst nach einer kurzen Erholungspause konnte ich ihn starten und losfahren. Völlig erschöpft betrat ich die Praxis der Ärztin, die sich zu meiner Überraschung im Keller einer Klinik befand. Mit zitternder Hand füllte ich das Anmeldeformular aus. Danach wurde ich sofort von der Sprechstundenhilfe in ihr Behandlungszimmer geführt.

Als sie mich aufforderte, meinen Pullover auszuziehen, konnte ich ihn mir ohne ihre Hilfe nicht über den Kopf ziehen. Sie schüttelte besorgt den Kopf und maß meinen Puls. Ihre Miene wurde sehr ernst.

„Ich weise Sie sofort in die Klinik ein.“

Wenig später holte mich eine Schwester mit einem Rollstuhl ab. Ich in einem Rollstuhl! Mein Leben lang hatte ich mir geschworen, dass es nie so weit kommen würde, weil ich mich vorher umbringen würde. Doch gerade saß ich zusammengesunken und apathisch in so einem Gerät, weil ich tatsächlich keine Kraft mehr hatte, um alleine laufen zu können. Sie schob mich in ein mit einem Tisch, Stuhl, Bett und Schrank spärlich möbliertes Einzelzimmer. Es erinnerte mich an eine Gefängniszelle. Charles Bukowsky hatte geschrieben, dass die wahren Universitäten des Lebens die Krankenhäuser und Gefängnisse sind. Kein Wunder, dass sie sich in der Ausstattung ähnelten. Ich war so schwach, dass ich die Schwester bitten musste, meine Tasche mit meinen Utensilien aus meinem Auto zu holen. Danach half sie mir, auszupacken und meinen Schlafanzug anzuziehen. Ich legte mich ins Bett und schloss erschöpft die Augen. Ein Arzt betrat das Zimmer. Er stellte sich als Dr. Meyer vor. Routiniert nahm er mir Blut ab und ließ die Kanüle in der Vene meines rechten Arms stecken.

„Die brauchen wir noch“, erklärte er mir. „Bringen Sie ihn sofort zum Röntgen“, befahl er der wartenden Schwester.

Eine Stunde später hatte er einen Plastikschlauch an der Kanüle angeschlossen, der mit einem an einem Galgen hängenden Beutel Blut verbunden war. Das Lebenselixier eines anonymen Spenders strömte in meine Adern. Es war ein merkwürdiges Gefühl für mich, diesen besonderen Saft von einem mir Unbekannten zu erhalten. Ohne zu wissen, was er für eine Persönlichkeit war, deren Eigenschaften sich über seine DNA mit meinen vermischten. Aber ich vertraue grundsätzlich in die Gerechtigkeit des Universums. Alles hat seinen Sinn.

Die sofort durch geführte Laboruntersuchung der Blutprobe hatte nämlich ergeben, dass ich einen Hämoglobinwert Wert von nur noch 3,8 hatte. Also weniger als ein Drittel des normalen Wertes von 12 bis 13 bei gesunden Menschen.

„Sie haben eine schwere perniziöse Anämie. Es ist ein Wunder, dass Sie es noch alleine zu uns geschafft haben. Die meisten Menschen fallen mit so einem Wert um wie die Fliegen“, sagte Dr. Meyer, als er mir das Laborergebnis und die inzwischen angefertigten Röntgenbilder erklärte. „Ihr Rückenmark produziert zwar rote Blutkörperchen, aber die zerplatzen alle sofort wieder. Warum das so ist, wissen wir noch nicht. Wir müssen eine Rückenmarkpunktur machen, um die Ursache heraus zu finden. Es könnte Leukämie sein. Sind sie erblich vorbelastet?“

„Meine Mutter ist an Leukämie gestorben“, antwortete ich ruhig. Trotz der gerade gehörten Möglichkeit, dass ich an einer tödlichen Krankheit litt, blieb ich gelassen. Die Bluttransfusion fing an zu wirken und es ging mir etwas besser. Ich fühlte, wie meine Kraft langsam zurück kehrte.

„Leukämie passt nicht in mein Lebenskonstrukt“, ergänzte ich.

Er sah mich ernst an.

„Ich wünsche Ihnen, dass Sie Recht haben. Nach dem Laborergebnis der Bioskopie ihres Rückenmarks werden wir mehr wissen.“

Nachdem er gegangen war, erhob ich mich aus dem Bett und stellte mich mitsamt dem Galgen und dem Blutbeutel ans Fenster. Mein Zimmer befand sich im vierten Stock der Klinik und bot mir eine wunderbare Aussicht. Eine fahle Wintersonne beschien die geschwungene Hügellandschaft des Allgäus. In den Tälern waberten Nebelschwaden. Die Bergkuppen waren mit Schnee bedeckt. Am Horizont erstreckten sich die weißen Gipfel der Alpen, die viele Jahre mein Lebensmittelpunkt gewesen waren (siehe mein Buch „Limit up – Sieben Jahre schwerelos“). Die Nebelschwaden aus den Tälern stiegen langsam an den Hängen empor und verschmolzen mit den Wolken, die ein starker Wind über den Himmel jagte. Er trieb sie spielerisch vor sich her, wirbelte sie durcheinander und zerfetzte sie. Der Anblick erinnerte mich an meine erste Reise in die Südsee, bei der ich die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe kennen lernte.

Die Schatten des Glücks

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