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Kapitel 9: Ein denkwürdiger Nachmittag
ОглавлениеWährend der nächsten Unterrichtspause hatte mein Mathematiklehrer Aufsicht auf dem Schulhof. Als ich mit einem Freund an ihm vorbeispazierte, winkte er mich zu sich.
„Uwe, ich möchte, dass Sie mich heute Nachmittag bei mir zu Hause besuchen. Können Sie um sechzehn Uhr bei mir sein? Es gibt auch Kaffee und dazu selbstgebackenen Kuchen meiner Frau.“
Ich sah ihn misstrauisch an. Es war einerseits eine Auszeichnung, von ihm eingeladen zu werden. Nur den besten Schülern seines Unterrichts war diese Ehre bisher zuteil geworden. Sie alle hatten hinterher immer in den höchsten Tönen von seiner Gastfreundschaft, Liebenswürdigkeit und den Weisheiten geschwärmt, die er ihnen mit auf den Weg gegeben hatte. Auch den exzellenten Kuchen seiner Frau hatten sie in den höchsten Tönen gelobt.
Aber ich hatte Bedenken, weil ich nicht zu dieser Elite gehörte. Das Fach Mathematik interessierte nicht besonders. Ich hielt es für überflüssig, die Fülle des Lebens auf Zahlenspiele und abstrakte Formeln zu reduzieren. Was brachte es mir, wenn ich dank mathematischer Gleichungen berechnen konnte, wie schnell ein Apfel von fünfzig Gramm aus zwei Metern Höhe zu Boden fällt? Es steigerte meinen sinnlichen Genuss nicht im Geringsten, wenn ich das Volumen und die Größe von Charlottes makellosen Brüsten bestimmen würde. Um mein logisches Denkvermögen zu schulen, zog ich Latein vor. Ich beteiligte mich sehr selten am Mathematikunterricht und erzielte nur durchschnittliche Noten bei unseren Klassenarbeiten. Diese Einladung war also nicht wegen meiner guten Leistungen erfolgt. Der Grund war wahrscheinlich die Szene mit Pedro, die er beobachtet hatte. Vermutlich wollte er versuchen, mich doch noch umzustimmen. Aber es würde ihm nicht gelingen, mich zu einer Anzeige gegen den Umtam zu bewegen.
„Das größte Schwein im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“
Das war eine Maxime, die mein Opa mir beigebracht hatte. Von der würde ich keinen Millimeter abweichen. Andererseits war es nicht meine Art, vor einer Herausforderung davon zu laufen.
„Vielen Dank, ich komme sehr gerne zu Ihnen“, erwiderte ich gepresst. Trotz meines Unbehagens lächelte ich ihn freundlich an, bevor ich zu meinem wartenden Freund zurück ging.
Der sah mich erstaunt an, als ich ihm von der Einladung berichtete.
„Hast du eine Ahnung, was er von dir will?“
„Nein, ich lass mich überraschen“, antwortete ich. Auf einmal hatte ich ein sehr mulmiges Gefühl im Magen.
Pünktlich um vier Uhr läutete ich an der Klingel des Mehrfamilienhauses, in dem mein Mathematiklehrer eine kleine Wohnung bewohnte. Er öffnete mir und begrüßte mich sehr freundlich. Im Gegensatz zu seinem sonst üblichen Sacco mit Krawatte trug er eine legere blaue Strickjacke und karierte Filzpantoffeln. Die warmherzige Begrüßung und sein gemütliches Outfit beruhigten mich etwas. Trotzdem war ich nach wie vor auf eine Androhung von Repressalien gefasst, wenn ich seinem Wunsch nach einer Anzeige gegen Pedro nicht nachkäme.
Er führte mich ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch des mit Antiquitäten geschmackvoll eingerichteten Raumes hatte seine Frau einen selbstgebackenen Gugelhupf mit zwei Kaffeetassen und Tellern platziert. Zwischen ihnen standen ein Strauß frischer Schnittblumen und eine brennende Kerze. Das liebevolle Arrangement irritierte mich. Immer noch erwartete ich eine heftige Auseinandersetzung. Um meine Anspannung zu überspielen, nahm ich mir ein Kuchenstück. Während ich genussvoll auf dem in der Tat köstlichen Kuchen kaute, sah mich mein Gastgeber nachdenklich an.
„Uwe, ich habe Sie heute eingeladen, weil ich mich mit Ihnen über ihre schulischen Leistungen unterhalten möchte. Mir ist aufgefallen, dass Sie seit einiger Zeit sehr abwesend während des Unterrichts sind. Ich weiß, dass Mathematik nicht Ihr Lieblingsfach ist. Aber früher haben Sie sich wenigstens ab und zu am Unterricht beteiligt. Auch meine Kollegen haben mir berichtet, dass Sie in ihrem Unterricht merkwürdig passiv geworden sind und nur noch zum Fenster hinaus starren. Sie sind ein sehr intelligenter Junge und Sie könnten ein exzellentes Abitur machen, das Ihnen viele Studienmöglichkeiten und sogar Stipendien im Ausland ermöglichen würde. Das setzen Sie gerade aufs Spiel. Ihr Notendurchschnitt ist im letzten Quartal um durchschnittlich eine Note gesunken wie Sie wissen. Zufällig habe ich Sie vor ein paar Tagen mit einer sehr hübschen Blondine gesehen, mit der sie händchenhaltend im Wald spazieren gingen. Ist sie der Grund für ihr komplettes Desinteresse an allem Schulischen und Ihrem Leistungsabfall?“
Überrascht atmete ich tief ein, verschluckte mich an den Kuchenbröseln und musste husten. Ich fühlte, wie ich puterrot anlief. Selbst meine Ohren schienen zu glühen. Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Mit so einem Vortrag hatte ich nicht gerechnet. Gottseidank konnte ich wegen des Hustenanfalls sowieso nicht sprechen.
Mein Mathematiklehrer stand auf und klopfte mir auf den Rücken. Ich räusperte mich und mein Hals wurde frei. Er setzte sich wieder und lächelte mich freundlich an.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, Uwe. Entschuldigen sie bitte.“
Er sah mir direkt in die Augen.
„Sie denken, sie zu lieben, nicht wahr?“
Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Was kommt denn jetzt? Will er mich aushorchen, um ein Druckmittel in die Hand zu bekommen?“, fragte ich mich misstrauisch.
Dann verwarf ich den Gedanken und beschloss, ihm zu vertrauen. Ich nickte.
„Wie heißt sie?“
„Charlotte.“
„Ein schöner Name. Passt zu ihr. Sie ist eine Schönheit, wie ich gesehen habe.“
Er beugte sich vor und legte seine Hand auf meine Schulter. Unvermittelt ging er zum „du“ über.
„Du meinst also, sie zu lieben. Nun, Liebe ist ein großes Wort. Die meisten benutzen es leichtfertig, ohne eine Ahnung zu haben, was es bedeutet. Ich will versuchen, dir etwas Grundlegendes zu erklären. Hier auf der Erde gibt es nur vier Ebenen, auf denen ein Mensch seine Erfahrungen machen und sich entwickeln kann. Auf der untersten Ebene geht es um Fortpflanzung, ein Dach über dem Kopf zu haben und seine Familie zu ernähren. Damit sind etwa 70% der Menschen beschäftigt. Die zweite Ebene ist die Ebene der Macht. Dort tummeln sich z.B. die Politiker. Die dritte ist die der egoistischen, der bedingten Liebe, mit der sich alle auseinander setzen müssen, wenn sie eine Beziehung oder Ehe eingehen. Die vierte Ebene ist die der bedingungslosen Liebe. Nur etwa fünf Prozent der Menschen befinden sich bewusstseinsmäßig auf dieser, der Rest ist auf den drei anderen unterwegs. Im Lauf deines Lebens wirst du lernen, die Menschen danach zu beurteilen, auf welcher Ebene sie sich befinden. Hast du eine Ahnung, was den Unterschied zwischen der egoistischen der dritten und der bedingungslosen Liebe der vierten Ebene ausmacht?“ fragte er mich. Ich dachte angestrengt nach, aber mir fiel keine passende Antwort ein. Verlegen schüttelte ich den Kopf.
„Ich weiß es nicht.“
„Das muss dir nicht peinlich sein. Die Antwort auf diese Frage kennen nicht viele. In der Theorie scheint es ganz einfach zu sein: Die egoistische Liebe der dritten Ebene wird zu einem Vertrag zwischen Geschäftspartnern, der durch die Eheschließung besiegelt wird. Es war nur konsequent, dass die arrangierte Ehe bis ins letzte Jahrhundert üblich war. Diese von den Eltern abgesprochenen Verbindungen hielten übrigens länger als die auf der sogenannten romantischer Liebe basierenden. In Indien sind sie heute noch üblich. Mit der Hochzeit entstehen gegenseitige Erwartungen, die der andere zu erfüllen hat. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob nicht einer der Gründe für das in der katholischen Kirche praktizierte Zölibat ist, dass die alten Äbte und Kirchenfürsten erkannt hatten, dass jede Ehe der Tod der Liebe ist. Sie wollten nicht, dass die Kirchendiener so lieblos werden wie Ehemänner, deren Liebe auf ihre Frau und Kinder begrenzt ist und die allen anderen Menschen nur Gleichgültigkeit entgegen bringen. In der Ehe hat jeder Gatte seine genau festgelegten Aufgaben. Es führt automatisch zu Konflikten, wenn einer der Ehepartner diese Pflichten verletzt. Selbst der kleinste Ausbruchsversuch kann zu einem Zusammenbruch des gesamten Systems führen. Stell dir vor, was passieren würde, wenn ein Bauer und seine Knechte abends hungrig von der Arbeit kommen und die Bäuerin und ihre Mägde haben kein Abendessen zubereitet, weil sie einen Ausflug unternommen haben.
In unserer Gesellschaft wird das Wort Liebe als Waffe eingesetzt. Menschen hauchen sich ´ich liebe dich` ins Ohr. Sie meinen aber in Wirklichkeit, ab sofort gehörst du mir. Die Erwartungshaltungen beginnen: Du musst mir treu sein, du musst immer gut aussehen für mich, du musst mir jederzeit für Sex zur Verfügung stehen, du musst mir das Essen kochen, du musst mich versorgen, du musst mich absichern usw., usf. Das hat mit wahrer Liebe nicht das Geringste zu tun.“
Ich schaute ihn fassungslos an, weil er gerade dabei war, meine romantischen Vorstellungen von der Liebe zu zerstören. Er bemerkte meine Verwirrung und schmunzelte. Dann wurde er wieder ernst und fuhr fort.
„Wahre Liebe stellt keine Ansprüche, sie ist bedingungslos. Ein wahrer Liebender hat keine Erwartungen an die Geliebte. Er hat gelernt, allein zu sein. Das geliebte Wesen ist ein Luxus in seinem Leben. Er „braucht“ es nicht, weil er sein Leben auch alleine gestalten kann und er das Alleinsein, das mit dem All-eins-sein, kennen und lieben gelernt hat. Ohne diese wesentliche Voraussetzung kann es keine bedingungslose Liebe geben. Erst dann genießt der Liebende alles, was ihm von der Geliebten geschenkt wird. Ohne es jemals zu fordern oder als selbstverständlich vorauszusetzen.
Wahre Liebe ist niemals begrenzt, sie braucht absolute Freiheit. Wenn der Geliebten ein anderer Mensch begegnet und sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt, sie der Blitzschlag, der „Coup de Foudre“, trifft, muss sie frei sein, ihren Partner verlassen und sofort gehen zu können. Es gibt diese Geschichte von einem Ehepaar, das abends vor dem Fernseher sitzt. Es klingelt. Sie geht zur Tür und öffnet. Draußen steht ein junger Mann. „Entschuldigung, ich habe mich in der Tür geirrt“, sagt er und schaut sie fasziniert an. Sie mustert ihn ebenfalls von Kopf bis Fuß. Dann lächelt sie ihn an. „Warte einen Moment, ich komme gleich“, sagt sie zu ihm. Sie geht ins Schlafzimmer und packt einen Koffer. „Was machst du Liebling?“ ruft ihr Mann. „Vor der Tür steht die Liebe meines Lebens. Ich verlasse dich jetzt, um mit ihm zu gehen“, erwidert sie. Wenn der Ehemann sie wirklich liebt, lässt er sie ohne Groll weiter ziehen. Er ist ihr dankbar für jede Sekunde ihres Lebens, die sie ihm geschenkt hat, und wünscht ihr für die Zukunft alles Glück dieser Welt.“
Mein Lehrer machte eine kleine Pause, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Meine Fassungslosigkeit wuchs. Was sagte er gerade? Ich sollte Charlotte einfach weiter ziehen lassen, wenn sie sich in jemand anders verliebte? Was sollte das denn?
Er schien meine unausgesprochene Frage gehört zu haben.
„Wahre Liebe ist nie als Beziehung möglich, sondern nur als Gemütszustand. Wenn man liebevoll ist, dann ist man es immer. Man knipst sie nicht an und aus, wenn man mit der Geliebten zusammen ist oder sie verlässt. Sie ist ein Phänomen, Uwe. Je mehr wir verschenken, desto größer wird unser Vorrat. Sie ist im Überfluss in uns vorhanden und hat kein Verfallsdatum.
Wahre Liebe ist nicht wählerisch. Es ist vollkommen egal, wen oder was man liebt. Das können Gleichgeschlechtliche, Tiere oder sogar Pflanzen sein. In dem Film ´Léon der Profi`, der zwar voller Gewalt, aber in Wirklichkeit ein großartiger Liebesfilm ist, schleppt der Auftragsmörder immer eine Pflanze mit sich herum, die er wie seinen Augapfel hütet, obwohl dieses Gewächs niemals blüht. Als ein von den Killern ihrer Eltern verfolgtes Mädchen bei ihm Schutz sucht, verliebt er sich in sie. Er opfert schließlich sein Leben, um für sie ihre ermordeten Eltern zu rächen.
Wenn man wirklich liebt, muss man bereit sein, für den Geliebten zu sterben. Das heißt nicht nur physisch. Man muss sein Ego auflösen und aufgeben, sonst ist Liebe unmöglich. Egoistische Liebe bedeutet das Ende jeder Freiheit. Sie wird zu einem Gefängnis. Im besten Fall zu einem goldenen Käfig, in dem eine Frau wie eine gefangene Lerche ihre traurigen Lieder singt. Oder weniger romantisch ausgedrückt, in dem eine unzufriedene Frau ihrem Mann mit ihrer ständigen schlechten Laune das Leben zur Hölle macht. Von Zuneigung, Zärtlichkeit und Leidenschaft bleibt dann nichts mehr übrig. Eine egoistische Liebe ist keine wirkliche Liebe. Sie ist, wie der Name sagt, Teil des Egos. Und das Ego verlangt immer nach Ruhm und Macht, weil es sich bestätigt sehen will. Deshalb kann eine solche Liebe nur gewalttätig, eine Art von Krieg sein. Ehe- oder Beziehungspartner lieben einander nicht mehr. Sie sind zu Feinden geworden. Sie kämpfen ununterbrochen miteinander. Wenn sie zwischen zwei Gefechten eine Pause machen, denken sie, das sei Liebe. Aber das ist nur ein Waffenstillstand. Diese Atempause vor der nächsten Schlacht, die alle als Liebe bezeichnen, ist nicht Liebe. Das ist nur eine Pause zwischen zwei Kämpfen.“
Unwillkürlich dachte ich an die Ehe meiner Eltern. Ihre vielen Streits, wenn mein Vater wegen irgendwelcher Kleinigkeiten unzufrieden mit meiner Mutter gewesen war. Irgendwann hatte meine Mutter aufgegeben und einfach geschwiegen, wenn er wieder einmal schlecht gelaunt von einem Geschäftsmeeting heimgekommen und wegen des Essens genörgelt hatte. Ich hatte ihren unterdrückten Zorn immer gespürt, den sie durch viel Stricken und ihre Handarbeiten ausgeglichen hatte.
Selbst als kleiner Junge war mir aufgefallen, wie selten meine Eltern sich zärtlich berührten oder sich mit strahlenden Augen angelächelt hatten. Ich wusste genau, dass die scheinbare Harmonie zwischen ihren Konflikten sehr trügerisch war.
Mein Lehrer biss in sein Kuchenstück und kaute genießerisch. Dann nahm er einen großen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und fuhr fort.
„Die bedingungslose Liebe der vierten Ebene ist ein Gemütszustand. Das heißt, Du bist voller Liebe oder du bist es nicht. Es ist wie mit der Gesundheit. Wenn du gesund bist, bist du vierundzwanzig Stunden gesund. Du kannst nicht dreiundzwanzig Stunden gesund und eine Stunde krank sein. Gesundheit ist keine Beziehung, sie braucht keinen Partner, sondern ist ein Zustand deines Seins. Wahre Liebe bedarf ebenfalls keiner Beziehung zwischen zwei Personen. Sage ich zu einer Frau, dass ich nur sie liebe, hieße das, dass ich keine Liebe empfinde, wenn sie nicht da ist. Also bin ich nur dann liebevoll, wenn sie mit mir zusammen ist. Das ist nicht möglich. Man kann nicht einen Moment lieben und im nächsten nicht. Aber genau das verlangt die egoistische Liebe.
Wenn du liebevoll bist, bist du es immer. Und nicht nur zu Menschen, sondern allem gegenüber. Nur wenn du diesen Zustand erreicht hast, bist du zu einer glücklichen Partnerschaft ohne Aggressionen in der Lage. Ein egoistisch liebender Mensch kann sogar eifersüchtig werden auf ein Tier oder eine Pflanze. In seinem Wahn kann er das Tier, die Pflanze und dich umbringen. Deshalb ist diese egoistische Liebe der dritten Ebene sehr gefährlich. Deine wahre, bedingungslose Liebe hingegen strömt auch zu Tieren und Pflanzen. Selbst wenn du allein bist, wenn niemand da ist, bist du liebevoll.
Es ist wie das Atmen. Schwöre ich meiner Frau, nur zu atmen, wenn sie bei mir ist, bedeutet das meinen Tod. In der Ehe oder einer Beziehung wird aber erwartet, dass man genau das macht. Man darf kein liebevoller Mensch sein. Man soll nur noch seine Frau lieben. Diese permanente Unterdrückung seines stärksten Gefühls macht jeden Menschen ungeheuer aggressiv. Er fängt an, seinen Partner zu hassen. Nur aus Gewohnheit bleibt man zusammen. Das ist der Wahnsinn der Ehe. Aber wenn man die Freiheit hat, zu lieben und liebevoll zu sein, egal zu wem und zu was, dann wird man einen Sinn fürs Wohlbefinden, eine positive Gelöstheit und Gelassenheit entwickeln. Die Träume werden zu Poesie. Egal wo man ist, ist man vom Flair der Liebe umgeben.“
Ich dachte daran, dass ich in den Armen und in Gesellschaft von Charlotte, Beate und auch Anika dieses „Flair der Liebe“ gefühlt hatte, von dem mein Lehrer gerade sprach. In diesen Momenten hatte ich mich geborgen und verstanden gefühlt. Ich hätte vor Glück die ganze Welt umarmen können. Dann dachte ich an die Schmerzen, die ich dafür erleiden musste.
„Führen alle Beziehungen zwischen Mann und Frau denn immer zur Gewalt?“ fragte ich.
„Meistens“, antwortete er. „Du musst ein paar grundlegende Dinge begreifen. Mann und Frau sind einerseits Hälften voneinander, andererseits polare Gegensätze. Diese Gegensätzlichkeit macht sie füreinander so anziehend. Je größer der Abstand desto stärker der Zauber und die Schönheit ihrer Anziehung. Darin liegt das ganze Problem. Wenn sie sich tatsächlich näherkommen, wollen sie miteinander verschmelzen, wollen eins werden, ein harmonisches Ganzes. Das heißt, ihre individuellen, verschiedenen Persönlichkeiten müssten sich auflösen. Harmonie verlangt die Auflösung dieses Gegensatzes, auf dem die ganze Anziehung beruht. Das ist ein Paradoxon und deshalb sind alle Liebenden in Schwierigkeiten. Das Problem liegt nicht auf der persönlichen Ebene, sondern es liegt in der Natur der Sache.
Sicher haben du und Charlotte euch eines Tages plötzlich geküsst und ineinander verliebt. Du kannst aber keinen Grund angeben, warum ihr so einen unwiderstehlichen Drang zueinander verspürtet. Ihr seid euch der dahinterliegenden Ursachen nämlich nicht bewusst. Sie interessieren Euch auch gar nicht, wenn Ihr zusammen seid. Nur wenn Ihr getrennt seid, fängst du an, dir vorzustellen, was du alles an Charlotte liebst. Allmählich wird sie in deinem Geist zu einer idealen Frau. Jeder Gedanke an sie lässt dich lächeln. Deshalb geschieht etwas sehr Seltsames: die glücklichsten Liebenden sind jene, die nie zusammen kommen.“
Ich sah ihn entgeistert an und schüttelte heftig meinen Kopf. Alles, was ich bisher gehört hatte, verstand ich zwar nicht hundertprozentig, aber es erschien mir nachvollziehbar und sinnvoll. Aber etwas derart Absurdes hätte ich aus dem Mund des von mir so hoch geschätzten Lehrers nicht erwartet. Die glücklichsten Liebenden sollten die sein, die nie zusammen kommen? Bevor ich heftig protestieren konnte, sprach er mit leiser Stimme weiter.
„Nichts regt deine Phantasie mehr an, als wenn eine geliebte Frau nicht in deiner Nähe ist. Dann malst du dir euer nächstes Zusammensein in den rosigsten Farben aus. Allein diese Vorstellung macht dich glücklich. Aber es ist nicht die geliebte Frau, es ist deine Phantasie, die dich glücklich macht.
Zum Schluss möchte ich dich noch auf folgendes hinweisen: Ein Mann sieht die Welt grundsätzlich anders als eine Frau. Er interessiert sich zum Beispiel für weit entfernte Dinge – die Zukunft der Menschheit, ob es Leben auf anderen Planeten gibt und wie es nach dem Tod weiter geht. Die Frau kichert nur über diesen ganzen Unsinn. Sie interessiert sich für einen kleinen, eng umgrenzten Kreis – die Familie, die Nachbarschaft, welche ihrer Freundinnen einen Geliebten hat und welcher Ehemann seine Frau betrügt. Sie interessiert sich für das Nahe, das Menschliche und kümmert sich keinen Deut um das Leben nach dem Tod. Ihre Anliegen sind im Hier und Jetzt.
Der Mann ist nie in der Gegenwart, er ist immer irgendwo anders.
Sobald Liebende zusammenkommen, wird dieser Gegensatz zu einem ständigen Konflikt. In jedem kleinen Punkt weichen ihre Ansichten voneinander ab und gehen ihre Vorgehensweisen auseinander. Sie sprechen zwar die gleiche Sprache, aber sie können sich nicht verstehen. Nur, wenn sich beide Partner darüber im Klaren sind, dass die in ihnen vorhandenen Gegensätze aufeinander treffen, braucht daraus kein Konflikt mehr zu entstehen. Dann ist ihr Zusammensein eine großartige Gelegenheit, um den entgegengesetzten Standpunkt kennen zu lernen, zu verstehen und zu akzeptieren. In diesem Fall können Mann und Frau in ihrem gemeinsamen Leben zu einer wunderbaren Harmonie finden. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass Mann und Frau seit Jahrtausenden zusammenleben und sich immer noch fremd sind. Sie bringen Kinder zur Welt, aber sie kennen sich nicht.“
Ich war überzeugt, dass ich das besser wusste.
„Ich bin seit über einem Jahr mit Charlotte zusammen. Wir sehen uns fast täglich. Wir reden viel miteinander und ich kenne sie genauso gut wie mich selbst. Ich akzeptiere sie und liebe sie so wie sie ist“, protestierte ich empört und trotzig. Langsam wurde ich wütend. Mein Lehrer lächelte milde und sah mich mit einem liebevollen Blick an.
„Du irrst bezüglich der Einschätzung deiner Selbsterkenntnis und deiner angeblichen Kenntnis von Charlotte. Aber das würde jetzt zu weit führen, wenn ich dir das erklären würde. Ich weiß, dass ich dich gerade ein Wenig überfordert habe. Erst in einigen Jahren wirst du mich besser verstehen. Nur zur Klarstellung: Deine aufrichtigen Gefühle für Charlotte stelle ich gar nicht in Frage, lieber Uwe. Ich nehme sie sogar sehr ernst, weil ich weiß, wie authentisch sie in deinem Alter sind. Versprich mir aber, dass du dich ab sofort wieder intensiv deinen schulischen Aufgaben widmest. Frauen lieben nämlich erfolgreiche Männer, die ihnen Sicherheit und Wohlstand bieten können. Wenn dir deine schulische Laufbahn egal ist, dann stell dir vor, dass du es für Charlotte und Eure gemeinsame Zukunft machst. Also, wie sieht´s aus. Versprichst du mir, die Schule zu deinem Projekt zu machen?“
Ich nickte und reichte ihm die Hand. Der ehemalige Wehrmachtsoffizier, der aus der DDR geflohen war, bevor die Mauer gebaut wurde, war nicht nur ein Pauker. Er war ein väterlicher Freund und hatte ein Herz aus Gold.
„Versprochen!“
Ich hielt mein Versprechen. Vermutlich ist es nur diesem denkwürdigen Nachmittag zu verdanken, dass ich einige Jahre später das Abitur schaffte.