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Kapitel 1: Liebe und Tod

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PrologGlück ist ein großes Thema der Menschheit. Warum sind so viele Menschen nicht glücklich? Wenn ein Kind geboren wird, ist es im Nabelzentrum, im Hara verwurzelt. Es wurde neun Monate durch die Nabelschnur ernährt und am Leben erhalten. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf diese Stelle seines Körpers konzentriert. Es atmet mit dem Bauch, es lebt aus dem Bauch. Der Kopf und das Herz spielen noch keine Rolle. Kopf, Herz, Hara – das sind drei wesentliche Zentren, Chakras, des Menschen. Das Nabelzentrum ist im Sein, das Herzzentrum im Gefühl und das Kopfzentrum im Wissen. Das Wissen ist am Weitesten vom Sein entfernt, das Gefühl ist ihm näher. Wenn das Gefühlszentrum fehlt, ist es schwierig, eine Verbindung zwischen Kopf und Hara, zwischen Wissen und Sein herzustellen. Ein Mensch, der liebt, kann leichter erkennen, dass er einfach nur Sein muss als ein Mensch, der durch den Intellekt lebt. Nach und nach entfernt das Kleinkind sich von dem Hara. Das Kind lernt die Liebe kennen. Das Herzzentrum des Kindes muss sich entfalten, damit es zum Bindeglied zwischen den beiden anderen Zentren werden kann. Wenn ein Kind in einer lieblosen Situation groß wird, dann kann sich das Herzzentrum nicht entfalten. Ohne einen Menschen, der es liebt und ihm Wärme und Geborgenheit spendet, wird sich sein Herzzentrum nicht entfalten. In erster Linie helfen die Liebe der Mutter oder des Vaters, dieses Zentrum zu entwickeln. Es ist aber in der gestressten westlichen Gesellschaft nicht leicht, eine liebesfähige Mutter und schon gar nicht, einen liebesfähigen Vater zu finden. Vielen Menschen fehlt daher das Liebeszentrum. Wenn ein Kind aber ohne Liebe aufwächst und kein entwickeltes Herzzentrum hat, wird es niemanden wirklich lieben können. Darum lebt fast die ganze Menschheit ohne Liebe und ist unglücklich. Aber es gibt Ausnahmen. Der Dokumentarfilm „Flucht aus dem Todeslager – Camp 14“ erzählt die Geschichte eines jungen Nordkoreaners namens Shi, der in einem Arbeitslager der kommunistischen Diktatur geboren und aufgewachsen ist. Um in so ein Lager eingesperrt zu werden, reicht es, beim nennen des Namens des Parteivorsitzenden das Wort „Genosse“ zu vergessen. Oder sich eine Zigarette mit dem Papier des Volksorgans zu drehen, wenn es in der Volksrepublik mal wieder keine Zigarettenfilter gibt. Die meisten Lagerinsassen wissen nicht, warum sie dort sind. Sie wurden eines Abends heimlich von der Geheimpolizei abgeholt und ohne Angabe von Gründen verschleppt. Ihre Verwandten und Nachbarn wurden nicht informiert. Niemand hatte eine Ahnung, was mit ihnen geschehen war. In diesen Lagern des Terrorregimes herrscht die totale Willkür der Wachen, die ohne Konsequenzen fürchten zu müssen über Leben und Tod der Insassen entscheiden. Beim geringsten Vergehen wird man erschossen. Eine junge Frau wurde vor den Augen des sechsjährigen Shi wegen des Diebstahls von vier Weizenkörnern öffentlich exekutiert. Ein ehemaliger Wärter berichtet in dem Film, dass er Gefangene erschoss, nur weil er keine Lust hatte, sie zu ihren Unterkünften zu bringen. Wenn er selbst sich nicht die Hände schmutzig machen wollte, befahl er acht Insassen, einen von ihnen zu töten. Hätten sie es nicht innerhalb einer Stunde erledigt, würde er sie alle erschießen. Ohne jeden Grund, nur aus einer Laune heraus. Die schönsten Frauen des Lagers wurden von den Wärtern regelmäßig vergewaltigt. Wurden sie schwanger, wurden sie aufgehängt und zu Tode gepeitscht. Alle Lagerinsassen arbeiteten von fünf Uhr morgens bis elf Uhr abends in einer Mine. Die Erwachsenen schlugen mit Hacken die Kohle aus dem Felsen, die Kinder mussten die zentnerschweren, mit Kohlestücken vollgeladenen Loren zum Ausgang schieben. Zu essen gab es jeden Tag zwei Maisklumpen mit Chinakohlsuppe. Ohne Ausnahme. Das ganze Jahr. Die Portionen waren viel zu klein und die Insassen hungerten. Viele starben wegen der unzureichenden Ernährung. Essen war ein großes Thema im Lager. Ein älterer Mitgefangener hatte Shi von gebratenen Hähnchen und gegrilltem Fleisch erzählt. Das wollte er auch einmal essen. Deswegen riskierte er die Flucht, obwohl er wusste, dass darauf die Todesstrafe stand. Shi lebt jetzt in Seoul. In der letzten Szene des Films steht er in einer U-Bahn und spielt mit seinem Handy. Im Hintergrund sieht man die Hochhäuser der Metropole Südkoreas, die in jeder Stadt der westlichen Hemisphäre stehen könnten. „Nur mein Körper lebt hier“, sagt Shi leise. „Ich kann mich nicht darin gewöhnen, dass hier alles mit Geld geregelt wird. Ich bin sehr traurig, weil ich die Unschuld meines Herzens verloren habe.“ Genau das ist der Punkt. Die Unschuld des Herzens bedeutet die Fähigkeit, zu fühlen, ein entwickeltes Herzzentrum zu haben. Im Lager war er der einzige Lebensinhalt seiner Mutter. Sie muss ihn abgöttisch geliebt haben. Und er sie. In jeder Sekunde ihres Zusammenseins hat sie ihn diese Liebe spüren lassen. Deswegen sehnt er sich ins Lager zurück. Ihrer beider Herzzentren waren weit geöffnet und ihre Energien strömten zueinander und verschmolzen. Die äußeren Umstände werden bedeutungslos, wenn man in der Liebe lebt. Aber in der westlichen Zivilisation, zu der auch das amerikanisierte Seoul gehört, wird das Kopfzentrum zum Mittelpunkt. Nur das Wissen, mit dem man zu Geld kommt, zählt. Das Herz wird nicht benötigt. Die Menschen sind entwurzelt und hasten falschen Idealen hinterher. Während der U-Bahn Fahrt erzählt Shi dem Filmteam, dass es in Seoul mehr Selbstmorde gibt als in dem Todeslager. Seine Augen leuchten, als er erklärt, dass die Menschen in dem Lager manchmal sehr glücklich waren. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Wie ein Krieger, der mit dem Schwert kämpft, haben sie keine Zeit zum Denken. Denken bedeutet Tod. Zögern sie bei der Ausführung eines Befehls werden sie auf der Stelle wegen Befehlsverweigerung erschossen. Sie müssen die Befehle der Wachen wie eine Maschine auf Knopfdruck befolgen und reflexartig handeln. Das Denken wird ausgeschaltet und ihr Bewusstsein fällt vom Kopf zum Hara herunter. Nietzsche sagt: Lebe Gefährlich! Dann lebst du im Hier und Jetzt. Du wirst zum Sein. Deshalb übt der Krieg eine solche Faszination aus. Krieg und Sex sind die Hauptattraktionen der Menschen. Auch beim Sex kommt es vor, dass der Mensch sein Hara berührt. Das Bewusstsein wird im Sex nach unten gezogen. In einem tiefen sexuellen Orgasmus fällt man nach unten zum Hara. Der Kopf ist vergessen. Es ist in Wirklichkeit die Erfahrung des Haras, die den Sex so faszinierend macht. Aber für den modernen Menschen ist sogar Sex zu einer Hirnfunktion geworden. In der zweidimensionalen Welt des Denkens ist Sexualität eine Frage der Bilder. Deshalb gibt es so viel Pornographie. Der Mensch denkt über Sex nach und das ist absurd. Je weniger der Mensch in den Sex hinein gehen kann, desto mehr denkt er darüber nach. Desto mehr wird er zu einer langweiligen Routine. Man fühlt sich am Ende frustriert und betrogen, weil man nur das tierische Element des Sexes erfahren hat. Deshalb heißt es: Omne animale post coitum triste est – jedes Tier ist nach dem Sex traurig. Wenn Sex aber in der dreidimensionalen Welt des Handelns stattfindet, man sich auf Bewegungen und Berührungen konzentriert und das Bewusstsein nach unten fällt, wird das Hara berührt und man empfindet Seligkeit. Man ist bewusst, aber denkt nicht. Man IST! Bei vielen Völkern war die Vereinigung von Mann und Frau die Transzendenz zu einem Gott. Das ist der Augenblick der Meditation. Wenn Sex zur Meditation wird, erfährt man Glückseligkeit. Der Mensch hat im Kampf, in Duellen, in Kriegen immer nach dem höchsten Bewusstsein in der Gefahr gesucht. Im Angesicht des Todes wird das Denken ausgeschaltet. Plötzlich bricht ein Glücksgefühl aus, explodiert und rieselt durch den wohlig erschauernden Körper. Egal aus welchem Anlass das Hara berührt wird, man ist wieder verwurzelt wie als Neugeborenes. Es gibt keinen tieferen Sinn im Leben, als für Liebe und Selbsterfüllung zu leben. Wenn man für die Liebe und die Freude des Selbst lebt, dann werden diese Momente der Ekstase und des Frohsinns in der Seele aufgezeichnet. Was noch mehr Augenblicke des Glücks und der Freude erschafft. Der Haken an der Sache ist das Wörtchen „wenn“ …

Jeder Tag meiner Kindheit war ein Abenteuer. Die beiden Häuser meiner Eltern und Großeltern standen etwa vierzig Meter entfernt von einander auf unserem dreitausend Quadratmeter großen Grundstück, das auf der hinteren Seite durch eine lange Weißdornhecke von einem ausgedehnten Mischwald getrennt wurde. Es war leicht abschüssig und schmiegte sich terrassenförmig an einen bewaldeten Hang, an dessen Fuß sich ein kleiner Fluss durch eine liebliche Auenlandschaft schlängelte. Auf der anderen Seite des Tales standen die ersten Häuser einer der schönsten Städte des Ruhrgebiets, die wegen ihrer mittelalterlichen Altstadt mit vielen Fachwerkhäusern als Ausflugsziel sehr beliebt war. Ein staubiger, ungeteerter Weg führte von ihr hinunter ins Tal und über eine kleine Brücke steil zu unserem Anwesen hinauf. Diese exklusive, erhöhte Wohnlage gab mir das Gefühl, in einer Burg auf einem Berg zu leben. Meine beiden Spielkameraden und besten Freunde waren zwei Schäferhunde, mit denen ich den ganzen Tag durch den Wald streifte oder in den Auen des Flusses herumtollte. Ich brauchte keine Spielsachen. Mein phantasievoller und kreativer Großvater inspirierte mich ständig mit neuen Ideen. Er brachte mir bei, aus einem Haselnussstrauch Pfeil und Bogen zu schnitzen, aus Decken und Stöcken ein Indianerzelt zu errichten und mit dem Luftgewehr zu schießen. Der handwerklich sehr geschickte Mann zeigte mir, wie man eine Schaukel an einem Ast anbringt, ein Baumhaus konstruiert oder sich eine unterirdische Höhle baut und sie mit Farnblättern gegen Regen schützt. Zum Entsetzen meiner Mutter kletterte er mit mir in hohe Baumgipfel, um mir die aus Lehm und Zweigen kunstvoll konstruierten Nester der Elstern zu zeigen. Im Herbst kraxelten wir zum Ernten der Früchte in unseren Obstbäumen herum. Wenn nötig nahm er mich zum Austauschen von kaputten Dachziegeln mit auf die Dächer unserer Häuser.

Oft überraschte er mich mit spontanen Ausflügen zu besonderen Sehenswürdigkeiten oder Museen. So war es nicht wirklich etwas Besonderes, dass er sich eines Nachts in mein Zimmer schlich und mich sanft an der Schulter rüttelte. Verschlafen sah ich ihn an. Diesmal war er zu meinem Erstaunen mit einer grünen Cordhose, einem grünen Pullover, einer grünen Lodenjacke und einem Jägerhut bekleidet.

„Was hast du vor, Opa?“ fragte ich ihn verwundert.

„Steh auf und zieh dich an. Wir gehen mit Paul auf die Jagd“, sagte er leise und lächelte mich an. „Du bist jetzt fünf Jahre und alt genug.“

Paul war sein bester Freund. Im Zweiten Weltkrieg war er Leutnant in dem Bataillon meines Großvaters gewesen. Er war ein dünkelhafter Freiherr, der einen Gutshof mit großen Ländereien geerbt hatte. Wegen der gemeinsamen Kriegserlebnisse hatte er ein sehr inniges Verhältnis zu meinem Opa. Wenn sie sich trafen, lachten sie oft laut und herzhaft. Meistens aber steckten sie die Köpfe zusammen und redeten sehr leise mit angespannten Gesichtern. Paul hatte dann immer einen hämischen, brutalen Zug um den Mund. Ich mochte ihn, weil mein Opa ihn gern hatte. Begeistert sprang ich aus dem Bett. Er hatte gerade den Urinstinkt des Jägers in mir geweckt. Ich war ein Raubtier wie alle Menschen.

„Psst, sei leise. Deine Mutter muss unseren frühen Aufbruch nicht mitbekommen“, flüsterte er warnend. Aus meinem Schrank suchte er eine warme Winterbekleidung zusammen und half mir, mich anzuziehen. Wenig später fuhren wir mit seinem Motorrad zu dem Wald – und Sumpfgebiet, das das Jagdrevier seines Freundes war. Die schwere BMW meines Opas hatte einen Beiwagen. Trotz der beißenden Kälte der Herbstnacht war es für mich das Höchste, in dem Wägelchen zu sitzen und unter dem wolkenlosen Sternenhimmel durch die schlafende Landschaft zu brausen.

Paul erwartete uns mit seinen beiden Jagdhunden Harras und Greif, die ungeduldig an ihren Leinen zerrten. Er war ein rothaariger, kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem breiten Gesicht, das mich immer an einen Metzger erinnerte. Nachdem er uns herzlich begrüßt hatte, ging er zum Kofferraum seines Mercedes und holte zwei Gewehre, mehrere Schachteln mit Munition, ein Fernglas und zwei Jagdtaschen heraus. Eine Flinte, ein paar der Munitionsschachteln und eine Tasche gab er meinem Opa.

„Wir werden heute Enten jagen. Mein Sumpf ist voll von ihnen. Es wird ein Vergnügen werden, du wirst sehen“, sagte er zu ihm.

Im Schein des Mondes liefen wir durch seinen über hundert Jahre alten Wald, der aus mächtigen Bäumen und dichtem Unterholz bestand. Paul erklärte uns, dass seit Generationen viele Zugvögel hier Rast machten, weil ihnen das dichte Gehölz Schutz bot auf ihrer jährlichen Reise gen Süden. Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichten wir den Waldrand. Vor uns lag ein von einem Flüsschen durchzogenes Tal, an dessen Ufern sich saftige Wiesen ausbreiteten. Weiter unten verlor sich der Bach, der im oberen Teil des Tales noch kanalisiert dahin strömte, in einem weitem Sumpf und Moor. Wir liefen entlang des Flusslaufes, bis wir den Rand des Sumpfgebietes erreichten. Dort sah ich, dass aus dem dichten Schilf, das den Sumpf überall bedeckte, ein Weg herausgeschnitten worden war, der zu der Anlegestelle eines Kahns führte.

„Der Sumpf hat sein eigenes Leben. Er hat seine festen Bewohner und seine Wandergäste, die hier gerne zu Besuch sind, weil sie reiche Beute finden. Er ist das ideale Biotop für seltene Lebewesen, die es sonst nirgendwo gibt“, sagte Paul mit gedämpfter Stimme. Ich saß auf der schmalen Bank seines Holzkahns und schmiegte mich eng an meinen neben mir sitzenden Opa, während sein Freund uns über das morastige Gewässer ruderte. Mir war unheimlich zumute. Die mysteriöse Wasserebene mit ihrem schlammigen Untergrund flößte mir Angst ein. Wir fuhren durch dichten Nebel, dessen Schwaden seltsame Phantasieungeheuer bildeten. Unbekannte Geräusche aus dem Schilf und das ständige leise Glucksen und Plätschern des Wassers verstärkten mein Unbehagen. Ich war heilfroh, als Paul den Kahn endlich an ein Ufer steuerte, anlegte und ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Auch die beiden Hunde, die sich während der Überfahrt flach an den Holzboden gepresst hatten, schienen erleichtert zu sein. Sie sprangen ans Ufer und rannten fröhlich bellend um uns herum. Wir liefen im Gänsemarsch durch das dichte Schilf, bis wir eine Lichtung erreichten, auf der eine kleine Holzhütte stand. Paul schob ein paar Holzscheite in den Eisenofen, der in der Mitte des kleinen Raumes stand und von dem ein langes Rohr zum Dach führte. Er entzündete die Holzstücke und die nasskalte Luft in der Hütte fing an, sich langsam zu erwärmen.

„Wir haben noch eine gute Stunde Zeit, bis die Sonne aufgeht und die Zugvögel aufbrechen. Also macht es euch bequem“, sagte Paul zu uns. Wir folgten seiner Aufforderung und legten uns auf die zusammengefügten Holzbretter, die an den vier Wänden der Hütte befestigt waren und als Bänke dienten. Ich dämmerte vor mich hin, als plötzlich ein Schrei ertönte, der mein Herz berührte. Anscheinend hatte der schwache Schein des anbrechenden Tages die ersten Vögel aufgeweckt.

„Kommt mit raus, es ist soweit“, sagte Paul. Die beiden Freunde nahmen ihre Waffen und wir traten vor die Hütte. Tatsächlich war der Himmel bleich geworden und ganze Schwärme von Wildenten flogen über das Firmament. In langen Ketten schwirrten sie durch die Luft. Ein Feuerstrahl blitzte neben mir auf. Paul hatte geschossen und die beiden Hunde stürmten davon. Auch mein Opa feuerte. Von nun an knallte es abwechselnd links oder rechts von mir, sobald über dem Schilf der Schatten eines über uns fliegenden Schwarmes erschien. Harras und Greif apportierten unaufhörlich blutüberströmte, gefiederte Körper. Wedelnd und außer Atem legten sie mir die abgeschossenen Enten zu Füßen, deren starre Körper ich gleichmäßig auf die beiden Jagdtaschen verteilte. Einige der Vögel lebten noch und sahen mich klagend an, bevor ihre Augen brachen. Schließlich stieg die Sonne über dem Sumpf empor und der Strom der abziehenden Vögel verebbte.

„Lass uns aufbrechen. Wir haben genug erbeutet“, sagte Paul und deutete auf die prall gefüllten Taschen, die neben mir am Boden standen.

Mein Opa nickte. Da tauchten am Himmel noch zwei Vögel auf, die mit weit vor gestrecktem Hals und ausgebreiteten Flügeln über uns dahin zogen. Mein Opa schoss und einer der beiden fiel ihm fast vor die Füße. Es war eine Krickente mit fein ziselierten, silbernen Bauchgefieder, die blutend und still vor ihm lag. Ich bewunderte ihre Schönheit, als in dem weiten Raum über uns eine Stimme erklang. Es war die Stimme ihres Gefährten, der verzweifelt nach ihr rief. Ein kurzer, herzzerreißender Schrei, der sich ständig wiederholte. Das kleine Tier, das seinem Schicksal bisher entronnen war, fing an, über uns zu kreisen. Mit klagenden Rufen suchte es seine tote Begleiterin, deren langsam erkaltenden Körper ich aufgehoben hatte und in den Händen hielt. Paul blieb von seinem Wehklagen völlig unberührt. Er hatte sein Gewehr angelegt, zielte und wartete darauf, dass der Vogel nahe genug heran kam.

„Du hast das Weibchen herunter geholt und das Männchen wird nicht von hier weichen“, sagte er zu meinem Opa. Tatsächlich zog es seine Kreise über uns und stieß dabei die ganze Zeit seine klagenden Laute aus. Mein Opa beobachtete es mit versteinerter Miene. Seine Kiefer mahlten. Mir liefen die Tränen über die Wangen. Nie wieder hat mir etwas so das Herz zerrissen, wie dieser ständige Schrei der Qual, dieser klagende Ruf der Verzweiflung des armen Vogels dort oben in den luftigen Höhen. Manchmal entfernte er sich etwas von unserem Standpunkt, als sei er sich des Gewehrlaufes bewusst, der ihm drohend folgte. Ich dachte hoffnungsvoll, er würde seinen Weg am blauen Himmel alleine fortsetzen. Doch er konnte sich nicht dazu entschließen und kam immer wieder zurück, um sein Weibchen zu suchen.

„Leg sie mal auf den Boden. Er wird dann schon näher kommen“, sagte Paul zu mir, ohne den Gewehrlauf sinken zu lassen und den Blick von dem über uns kreisenden und unaufhörlich klagenden Erpel zu nehmen. Ich tat, wie er mir befohlen hatte. Das Männchen erspähte endlich seine Gefährtin. Ohne sich um die Gefahr zu kümmern und verrückt in seiner Liebe flog es auf sie zu. Paul schoss. Es war, als hätte man eine Schnur zerschnitten, an der der Vogel gehangen hatte. Ich sah einen schwarzen Schatten vom Himmel herunter fallen und hörte das Aufschlagen seines kleinen Körpers im Schilf. Harras rannte los und legte das tote Tier neben seine Gefährtin. Mein Opa ging zu ihnen und steckte ihre beiden kalt und starr gewordenen Körper in seine Jagdtasche. Als wir nach Hause kamen, gingen wir in den Garten und er begrub sie nebeneinander unter einem Kirschbaum. Meine Oma hatte ihn von ihrer Küche aus beobachtet. Sie kam zu uns und fragte ihn, was er machte. Er erzählte ihr mit gesenktem Kopf die Geschichte.

Sie sah ihn schweigend eine Weile an. Ihre Augen schimmerten feucht. Ohne ein Wort zu sagen drehte sie sich um und ging in ihr Haus zurück. Als ich am Abend den Garten betrat, sah ich, dass ein Strauß Veilchen auf dem kleinen Grab blühte. Veilchen waren die Lieblingsblumen meiner Oma.

Die Schatten des Glücks

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