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Kapitel 10: Eine bedingungslose Liebe

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Am Abend nach dem Besuch bei meinem Lehrer saß ich in unserem Garten auf meiner Lieblingsbank, von der ich das ganze unter mir liegende Tal überblicken konnte. Ich dachte darüber nach, was er mir alles gesagt hatte. Meine Oma stand unter einem Baum und pflückte Birnen. Als sie ihren Korb gefüllt hatte, setzte sie sich zu mir. Wir führten während des Sonnenuntergangs gerne Gespräche über banale Dinge des Alltags oder tiefgründige über das Leben. Oft erzählte sie mir Geschichten aus ihrer Jugend, in der sie als Hausmädchen bei einem Arztehepaar gearbeitet hatte. Ihre „Herrschaft“, wie sie ihre Arbeitgeber nannte, unterhielten sich bei Tisch oft über die Schicksale ihrer Patienten. Meine Oma hatte einiges davon mitbekommen. Sie war eine hervorragende Geschichtenerzählerin. Während der Bombenangriffe hatte sie die Menschen in den Luftschutzbunkern mit ihrer Erzählkunst so in ihren Bann gezogen, dass sie die Schrecken des Krieges fast vergaßen. Auch ich hörte ihr sehr gerne zu.

Sie reichte mir eine Birne. Gierig biss ich in die saftige Frucht.

„Du siehst so nachdenklich aus. Was beschäftigt dich?“ fragte sie.

„Ich hatte heute ein langes Gespräch mit meinem Klassenlehrer. Er hat behauptet, dass die glücklichsten Liebenden die sind, die nie zusammen kommen. Das ist doch absoluter Blödsinn, oder?“ fragte ich sie kauend.

Meine Oma sah mich mit einem liebevollen Blick an.

„Ich will dir eine Geschichte erzählen. Mein Dienstherr hatte eine Patientin aus Russland. Sie war eine ehemalige Gräfin, die vor den anrückenden Bolschewiken geflohen war. Eine wirklich sehr schöne Frau. Groß, blond, blauäugig. Sie hatte eins dieser makellosen Gesichter, wie sie nur schöne Russinnen haben. Wir waren uns ein paar Mal auf dem Flur begegnet, wenn sie in die Praxis kam. Sie litt an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Eines Tages starb sie in Anwesenheit meines Arbeitgebers. Ihr Tod hatte ihn berührt. Während ich am Abend ihres Todestages das Essen servierte und zwischen den Gängen wartend am Buffet stand, erzählte er seiner Frau, was er von ihr wusste.

„Erst vor ein paar Monaten ist sie mit ihrem alten Diener Nicolai mit dem Zug nach Deutschland geflohen. Nicolai fuhr in der dritten Klasse, sie saß alleine in ihrem Abteil in der ersten. Traurig blickte sie aus dem Fenster und sah die vertrauten Dörfer und Felder vorbeiziehen, die sie nie wieder sehen würde. An jeder Station kam Nicolai und fragte sie, ob er etwas für sie tun könnte. Es wurde dunkel und der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht. Sie war sehr nervös und konnte nicht schlafen. Da kam ihr der Gedanke, das Geld zu zählen, das sie mitgenommen hatte. Sie ließ die Goldstücke aus ihrer Handtasche in ihren Schoß rinnen. Plötzlich wurde die Abteiltür aufgerissen. Schnell warf sie einen Schal über das Geld in ihrem Schoß. Ein junger Mann in Abendkleidung betrat das Abteil. Er keuchte vor Anstrengung und hatte eine blutende Wunde an der Hand. Mit einem kräftigen Ruck ließ er die Tür ins Schloss fallen. Dann setzte er sich in den Sitz ihr gegenüber. Er zog ein weißes Taschentuch aus seinem Smoking und umwickelte damit seine verletzte Hand. Die Gräfin war zu Tode erschrocken. Bestimmt hatte er sie beobachtet und war gekommen, um sie zu berauben und zu töten. In dem Moment sah er sie mit dem irren Blick eines gehetzten Tieres an. Sie dachte, dass er sich jetzt auf sie stürzen und erwürgen würde.

Da sagte er mit einer fein modulierten Stimme:

`Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin kein Verbrecher.`

Sie hörte nur das Wort Verbrecher und erschrak zu Tode. Vor lauter Aufregung machte sie eine plötzliche Bewegung, die das Gold in ihrem Schoß in Bewegung setzte und auf den Boden des Abteils rieseln ließ. Der Fremde sah erstaunt auf den Goldberg zu seinen Füßen. Er beugte sich vor, um das Geld aufzuheben. Sie sprang auf, um aus dem Abteil zu fliehen. Dadurch fiel auch der gesamte Rest des Goldes zu Boden. Er stellte sich vor die Tür, packte sie an ihren Haaren und zwang sie mit Gewalt, sich wieder zu setzen. Sie zitterte am ganzen Körper und erwartete seinen Angriff und den Tod. Tatsächlich ergriff er ihre Handgelenke. Aber er sah ihr flehentlich in die Augen.

´Bitte glauben Sie mir, ich bin wirklich kein Verbrecher. Ich beweise es Ihnen, indem ich Ihr Geld aufheben und es Ihnen wieder geben werde. Aber ich bin verloren, wenn Sie mir nicht behilflich sind, über die Grenze zu kommen. Sie werden mich töten. Ich habe keinen Mord, keinen Diebstahl oder ein anderes Verbrechen begangen, das schwöre ich Ihnen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ohne sie zu gefährden.`

Er ließ ihre Handgelenke los und kniete sich hin. Dann suchte er ihre Goldstücke zusammen, die in jeden Winkel des Abteils gerollt waren. Nachdem er sie alle in ihrer Handtasche verstaut hatte, gab er sie ihr. Ohne ein weiteres Wort setzte er sich wieder auf seinen Platz. Sie war die ganze Zeit unbeweglich sitzen geblieben und hatte ihn argwöhnisch beobachtet. Noch immer war sie wie gelähmt von ihrem Schrecken und sich nicht sicher, ob er sie nicht doch ermorden würde. Erst nachdem er ihr die Tasche gegeben und sich gesetzt hatte, beruhigte sie sich allmählich. Ab und zu warf sie ihm einen flüchtigen Blick zu, schaute aber schnell wieder weg. Er saß bleich wie ein Toter regungslos da und starrte ausdruckslos vor sich hin. Sie schaute ihn sich unter gesenkten Lidern genauer an. Er war ein sehr schöner Mann, etwa dreißig Jahre alt, der auf sie den Eindruck eines wohlerzogenen Gentlemans machte.

An der nächsten Station erschien ihr alter Diener und fragte, ob sie Befehle für ihn hätte. Sie musterte nachdenklich ihren seltsamen Reisegefährten. Dann antwortete sie entschlossen:

´Nicolai, du wirst nach Moskau zurückkehren. Ich brauche dich nicht mehr.`

Der treue Lakai riss verwundert die Augen auf und starrte sie verständnislos an.

´Du musst nicht mit mir ins Exil kommen. Deine Heimat ist Moskau. Du bist zu alt, um noch verpflanzt zu werden. Dir droht keine Gefahr. Du bist ein Mitglied der Arbeiterklasse. Ich gebe dir Geld für die Rückreise und für deinen Lebensunterhalt. Dafür gibst du mir deinen Mantel und deine Mütze.`

Nicolai war fassungslos, aber er war gewohnt zu gehorchen. Er nahm seine Mütze ab und gab ihr auch seinen Mantel. Dann beugte er sich zu ihr herunter, küsste scheu ihre Hand und verließ mit Tränen in den Augen das Abteil. Durch das Fenster sah sie, wie er aus dem Zug stieg und in dem Bahnhofsgebäude verschwand.

Der junge Mann hatte die Szene schweigend beobachtet. Als der Zug anfuhr, sagte sie zu ihm:

`Wir sind gleich an der Grenze. Nehmen Sie die Mütze und den Mantel. Sie sind jetzt mein Diener Nicolai. Ich tue Ihnen den Gefallen unter einer Bedingung: Sie werden niemals ein Wort an mich richten. Nie ein Wort des Dankes oder irgendein anderes. Haben Sie das verstanden?`

Der Fremde nickte.

Der Zug hielt. Uniformierte stiegen ein und wollten die Pässe sehen.

Sie gab sie ihnen.

`Das ist mein Diener. Er ist stumm`, erklärte sie ihnen.

Die Beamten warfen einen flüchtigen Blick auf die Papiere, gaben sie ihr zurück, salutierten und gingen zum nächsten Abteil. Nach der Grenzkontrolle fuhr der Zug weiter. Während der restlichen Nacht saßen sie sich schweigend gegenüber. Keiner sprach mehr ein Wort. Als sie den ersten deutschen Bahnhof erreichten, stand er auf, nickte ihr lächelnd zu und verließ ihr Abteil.

Der Zug durchquerte Deutschland. Wenn sie bei einem Halt ausstieg, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, sah sie ihn, wie er sie aus der Ferne beobachtete. Als sie schließlich in ihrem Zielbahnhof ankamen, bemerkte sie, dass er ihr in gebührendem Abstand zu ihrem Hotel folgte.`

Mein Dienstherr trank einen kräftigen Schluck von dem Beaujolais, den ich ihm zum Essen kredenzt hatte. Dann fuhr er fort.

´Vor ein paar Tagen kam ein junger Mann in meine Praxis und erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand. Ich fragte ihn, ob er ein Verwandter von der Gräfin sei. Er verneinte und ich verwies auf meine ärztliche Schweigepflicht. Da fiel er vor mir auf die Knie und flehte mich an, ihm zu sagen, wie es ihr gehe. Er würde verrückt vor Sorge. Die Ungewissheit über die Schwere ihrer Erkrankung brächte ihn um. Ich bekam Mitleid und vertraute ihm an, dass sie nicht mehr lange zu leben habe. Er brach schluchzend zusammen. Ich musste ihm eine Beruhigungsspritze geben. Dann ging er weinend hinaus. Er taumelte wie ein Betrunkener.

Kurz darauf kam die Gräfin zu mir. Ich erzählte ihr, dass sich ein junger Mann gerade nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt hatte. Sie war sehr bewegt. Dann erzählte sie mir, was ich gerade geschildert habe.`

Mit einem Schluck leerte er sein Glas. Auf seinen Wink füllte ich es erneut und trug den nächsten Gang auf. Während ich servierte, erzählte er weiter.

„Sie vertraute mir an, dass dieser junge Herr ihr seit ihrer Ankunft wie ein Schatten folgt. Sie begegnet ihm jedes Mal, wenn sie ausgeht. Dann sieht er sie mit einem liebevollen, zärtlichen Blick an und lächelt. Ohne sie jemals anzusprechen. Die Gräfin bat mich, mit ihr ans Fenster zu kommen. Er stand vor meiner Praxis und sah zu uns hinauf. Als er sie erblickte, lächelte er und ging davon, ohne sich umzublicken. Sie sah ihm mit Tränen in den Augen nach.

´Ich habe diesen wundersamen Menschen nur ein einziges Mal gesprochen. Ich kenne ihn nicht. Und doch ist er mir so vertraut, als wäre er seit zwanzig Jahren mein ständiger Begleiter,` sagte sie leise.

Ich spürte, dass es sie sehr glücklich machte, so geliebt zu werden. Mit dieser Zurückhaltung und Ausdauer, diesem Idealismus und dieser bedingungslosen Ergebenheit. Aber obwohl sie alleine und todgeweiht in einem fremden Land lebte, lehnte sie es strikt ab, ihn zu empfangen, seinen Namen zu erfahren und mit ihm zu reden. Als ich sie fragte, warum nicht, antwortete sie, dass eine Freundschaft oder gar eine Liebschaft mit ihm ihr Verderben wären. Sie müssten einander unbedingt fremd bleiben. Er war genauso sonderbar wie sie. Bis zu ihrem Tod hielt er sein Versprechen, nie ein Wort an sie zu richten.

Als es anfing, ihr merklich schlechter zu gehen, stand sie oft auf und schaute durch die Gardinen, ob er auf der Bank vor ihrem Hotelfenster saß. Wenn ich zur Visite kam, lag sie in ihrem Bett und lächelte. Dann wusste ich, dass sie ihn gesehen hatte. Heute Morgen starb sie. Ich stellte den Totenschein aus und verließ das Hotel. Er wusste es bereits. Völlig verstört und mit Tränen überströmten Gesicht kam er auf mich zu.

`Ich möchte sie gerne in ihrer Gegenwart ganz kurz sehen,` bat er mich.

Ich konnte ihm seine Bitte unmöglich abschlagen. Also nahm ich ihn am Arm und führte ihn in ihr Zimmer. Als er vor ihrem Totenbett stand, kniete er nieder, ergriff ihre Hand und küsste sie lange mit geschlossenen Augen. Plötzlich sprang er auf und rannte wie irrsinnig aus dem Zimmer. Ein wirklich wunderlicher Kauz. Und sie ebenfalls, findest du nicht?“

Seine Frau und ich hatten Tränen in den Augen, als er geendet hatte. Voller Zärtlichkeit antwortete sie leise: ´Diese Beiden waren weniger wunderlich als du denkst, mein Lieber.`

Meine Oma wischte sich ihre feucht gewordenen Augen.

„Verstehst du jetzt, was dein Lehrer dir sagen wollte?“

Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und musste mich erst räuspern, bevor ich antworten konnte.

„Ja, ich glaube schon. Doch diese Form der Liebe ist nichts für mich. Ich brauche die Sinnlichkeit und die Leidenschaft.“

„Ich weiß, mein Junge. Du bist noch sehr jung. Aber eines Tages wirst du verstehen, was wertvoller und wesentlicher ist.“


Die Schatten des Glücks

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