Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 10

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Seit dem Zwischenfall mit Takeda waren mittlerweile einige Wochen ins Land gegangen. Auch sein Tod wurde als Unfall zu den Akten gelegt. Shira hatte auch dieses Mal wieder seine schützende Hand über Roman Dalberg gelegt und die Ermittlungen in die richtige Richtung gelenkt. In der Klinik war jeder Angestellte sicher, dass Dalberg nichts mit den Todesfällen zu tun hatte und letztendlich froh darüber, dass der Betrieb weitergehen konnte. Eine Schließung wäre für alle eine Tragödie gewesen, insbesondere für die fest stationierten Patienten.

Trotzdem blieb bei Sarah ein merkwürdiges Gefühl zurück. Durch ihre jahrelangen Erfahrungen als Eheberaterin war sie besonders darauf sensibilisiert, Geschichten und Situationen, die von unterschiedlichen Standpunkten erzählt wurden, zu bewerten. Sie erkannte schnell, wer etwas gerade heraus erzählte oder wer versuchte, seine Geschichte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie war sich sicher, dass Roman den Tod der beiden Menschen nicht verschuldet hatte, aber sie erkannte auch, dass er Shira nicht alles erzählen wollte.

Einerseits hätte sie Roman zuliebe den Todesfall, deren Zeuge sie an ihrem ersten Arbeitstag geworden war, gerne schnell vergessen, andererseits war er aber so merkwürdig, dass er um so beständiger an ihr nagte, je mehr sie sich bemühte, die Erinnerung daran zu verdrängen. Immer wieder versuchte sie eine Erklärung dafür zu finden, aber der Fall entzog sich jeder Logik. Auch der erste Todesfall, von dem sie inzwischen erfahren hatte, war unerklärlich und passte noch nicht einmal mit dem zweiten zusammen. Es entsprach aber Sarahs Naturell, dass sie nicht locker ließ und immer wieder versuchte, eine Ordnung in die verfügbaren Fakten zu bringen, um letztlich doch noch zu einer Lösung zu gelangen. Eines war zumindest sicher: Um Selbstmord handelte es sich in keinem der Fälle. Also konnte es entweder Mord sein oder ein schrecklicher Unfall. Für beide Möglichkeiten erstickte jedoch jeder Erklärungsversuch im Keim. Aber gerade aufgrund der merkwürdigen und komplexen Indizien erschien ihr ein Mord plausibler, da man sich leichter vorstellen kann, dass jemand so etwas Grausames arrangiert, als dass sich durch eine Verkettung von Zufällen eine dieser Situationen von alleine ergeben könnte. In der Tat war sie davon überzeugt, dass es einen Mörder unter dem Dach der Klinik geben musste, der über Fähigkeiten verfügte, die man sonst nur als Illusionator in einem Zirkus besitzt. Wer in der Lage ist, eine Person in einem Kasten zu zersägen und wieder zusammenzusetzen, ohne dass das Publikum die Illusion erkennen kann, der konnte auch einen solchen Mord begehen, auch wenn sie noch lange nicht verstand, wie er das bewerkstelligt haben sollte. Mit dieser Überzeugung hatte sie begonnen Indizien zu sammeln und kleinere Nachforschungen anzustellen. Von Shira konnte sie hier allerdings keine große Hilfe erwarten, denn er konnte den Fall ja nicht zu den Akten legen und gleichzeitig daran weiterarbeiten. Ob er Sarahs Vermutungen teilte wusste sie nicht, aber immerhin bot er ihr seine Unterstützung an, soweit er es verantworten konnte.

Hilfe kam jedoch aus einer gänzlich unerwarteten Richtung. Sarah hatte sich mit einem Patienten der Klinik in besonderer Weise angefreundet. Es war der vierundzwanzigjährige Autist Marc, der schon seit seinem achtzehnten Lebensjahr, mit einigen Unterbrechungen allerdings, Gast bei Roman Dalberg war. Marcs Eltern hatten in den vergangenen Jahren mehrfach den Versuch unternommen ihm ein Zuhause zu geben. Der Versuch scheiterte jedoch jedes Mal nach einigen Wochen, einmal waren es drei Monate, ein anderes Mal nur zwei Tage. Seine Mutter konnte sich einfach nicht auf die Eigenarten und Bedürfnisse ihres Sohnes einstellen, was regelmäßig dazu führte, dass er sich im Kleiderschrank verkroch und erst wieder ansprechbar war, wenn ein Betreuer kam, um ihn in die Klinik zurückzubringen. Zu Sarah hatte er jedoch sehr schnell Vertrauen gefasst, was für Marc schon ungewöhnlich war. Personen, die er nicht kannte, ignorierte er völlig. Er antwortete nicht auf Fragen und benahm sich so, als ob die Person überhaupt nicht anwesend wäre. Wenn ihm jemand zu nahe kam, versuchte er zunächst auszuweichen. Bot sich keine Möglichkeit zur Flucht mehr, dann ließ er sich auf der Stelle fallen und nahm eine fötale Stellung ein. Dabei verfiel er in ein lautstarkes Jammern, bis sich die Situation bereinigt hatte und manchmal auch Minuten darüber hinaus. Sarah hatte sich sehr intensiv mit Marcs Psyche befasst, bevor sie ihm das erste Mal begegnete. So wusste sie zum Beispiel, dass er die Farbe Grün nicht ausstehen konnte und vermied es, grüne Kleidung zu tragen. Weiterhin kannte sie seine Leidenschaft für interessante Muster und entschied sich daher, eine Bluse mit einem sehr auffälligen Muster anzuziehen, die sie schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Ihre erste Begegnung hatte sie sehr sorgfältig geplant. Marc saß alleine auf einer Bank im Park der Klinik und war darauf konzentriert ein Buch zu lesen. Der Park war sehr weiträumig und bot den Patienten ausreichend Platz für ungestörte Rückzugsmöglichkeiten. Sarah setzte sich auf eine benachbarte Bank schräg gegenüber und war darauf bedacht, nicht zu nahe an ihn heranzutreten. Sie nahm sich ebenfalls ein Buch zur Hand und übte sich in Geduld. Es kam ihr gerade so vor, als ob sie sich daran gemacht hätte scheue Vögel zu beobachten, die bei jeder unbedachten Bewegung davonfliegen würden. Zunächst war sie noch wachsam und versuchte ihr Gegenüber unauffällig im Blick zu behalten. Nach einigen Minuten war sie jedoch so sehr in ihre Lektüre vertieft, dass sie regelrecht erschrak als eine Stimme direkt neben ihr sagte: »Fraktale sind selbstähnliche Strukturen, wie sie häufig in der Natur vorkommen. Sie lassen sich durch einfache Gleichungen erzeugen.« Sarah schaute auf und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte mit der Wahl ihrer Bluse offensichtlich genau ins Schwarze getroffen. Die Muster, so hatte sie später erfahren, stellten so genannte Mandelbrotmengen dar, benannt nach dem Mathematiker Mandelbrot, der sie entdeckt hatte. Sie hatte damit nicht nur die Aufmerksamkeit von Marc auf sich gezogen, sondern auch die ersten Sympathiepunkte gewonnen. Nachdem sie sich von ihm hatte erklären lassen, was Fraktale sind und wie man sie im Park und anderswo in der Natur erkennen könnte, hatte sie schon so viel erreicht, dass er sich zu ihr auf die Bank setzte, wenn auch mit maximalem Abstand. Marc sah sie jedoch während der Unterhaltung nicht einen Moment lang an. Da er nicht in der Lage war die Mimik im Gesicht seines Gegenübers zu deuten, war es für ihn auch nicht notwendig jemanden anzuschauen. Sie verabschiedete sich von ihm, nicht ohne ihn um eine weitere Unterhaltung am nächsten Tag zu bitten. Marc willigte ein, und so trafen sie sich von nun an jeden Tag um die gleiche Uhrzeit, entsprechend seines Bedürfnisses nach verlässlichen Zeitplänen. Nach einigen Tagen kamen sie auf die seltsamen Todesfälle zu sprechen und Marc schien von der Unerklärlichkeit dieser Ereignisse geradezu fasziniert zu sein, denn er liebte es komplexe Aufgaben zu lösen und offenbar betrachtete er auch die Vorfälle als ein Rätsel, das es zu lösen galt. »Was denkst du Marc? Sind die beiden ermordet worden oder sind sie das Opfer von merkwürdigen Unfällen geworden?«, fragte Sarah bei ihrem ersten Gespräch über dieses Thema.

«Ich kann das jetzt noch nicht sehen, Sarah. Wir müssen erst noch ein paar Sachen herausfinden, damit ich ein Muster bilden kann. Dann kann ich die Antwort auf deine Frage vielleicht darin erkennen.«

Also schrieb er ihr eine lange Liste von Fragen auf, deren Antworten sie zu den beiden Fällen zusammentragen sollte. Sarah zog los und versuchte ihre Antworten-Liste zu vervollständigen. Einiges wusste sie selbst, die meisten Fakten konnten von Dalberg beigetragen werden, der zunächst skeptisch und ablehnend reagierte, später aber seine Meinung änderte und nun ebenfalls daran interessiert schien, Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen. Was dann noch unklar blieb, konnte sie vom Rest des Klinikpersonals und natürlich von Shira erfragen. Nach drei Tagen war die Liste komplett und Marc nahm sie bei ihrem nächsten Treffen mit sichtlicher Freude in Empfang. »Danke Sarah. Ich werde gleich ein Muster daraus machen, damit wir wissen ob es ein einzelner Mörder war oder nicht.« Entsprechend kurz fiel an diesem Tag ihr Treffen aus.

Sie gingen noch kurz die Liste durch, zu der auch einige Fotos aus dem Polizeibericht gehörten. Marc notierte was er auf den Fotos gesehen hatte und gab sie anschließend wieder zurück, da er ein fast fotografisches Gedächtnis besaß und Sarah die Bilder nicht so gerne aus der Hand geben wollte. Nachdem sie noch eine Kopie der Liste gemacht hatte, um bei Gelegenheit darauf zurückgreifen zu können, gab sie Marc das Original wieder zurück und dieser verschwand rasch auf seinem Zimmer und widmete sich seiner Lieblingsbeschäftigung, der Erstellung von Mustern.

Auch Sarah ging anschließend in ihr Büro, um an einem Bericht weiterzuschreiben. Wie immer stellte sie sich zunächst einmal ans Fenster, um die grandiose Aussicht zu genießen, die sie immer noch faszinierte. Für kurze Augenblicke verlor sich ihr Blick als auch ihre Gedanken in der Ferne, bis sich etwas Störendes unscharf in ihr Blickfeld schob. Sie drehte sich zur Seite und erblickte einen gelben Klebezettel mitten auf ihrem Computermonitor. In einer ausgesprochen formschönen Schrift, die ihr sofort ins Auge gefallen war, las sie die folgenden Worte:

»Es gibt nur eine Wahrheit, aber es gibt unendlich viele Blickwinkel, um sie zu betrachten. Wer die Wahrheit sucht sollte zunächst die Augen schließen und nach innen blicken. Hüte dich vor den wilden Tieren.«

Hüte dich vor den wilden Tieren

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