Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 5
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ОглавлениеEs regnete in Strömen. Dichte, scheinbar undurchdringliche Vorhänge aus Wasser hingen vom Himmel herab. Ich zog mir den Hut noch dichter in den Nacken, mit dem Erfolg, dass sich ein eiskaltes Rinnsal seinen Weg über meinen Rücken bahnte. Nun legte ich noch einen Schritt zu, immer darauf achtend, die allmählich größer und tiefer werdenden Pfützen in mehr oder weniger eleganten Sprüngen zu umgehen. Breite Bäche, die sich ergiebig aus den überlaufenden Dachrinnen nährten, vereinigten sich zu reißenden Strömen, die sich entlang der Bürgersteige wanden, um sich wiederum mit ihresgleichen in einen See zu ergießen. Ein Gewässer, das seine Existenz nur der Tatsache zu verdanken hatte, dass die Kanalisation mit der Aufgabe, das Wasser in sich aufzunehmen, hoffnungslos überfordert war. Auch mein Regenmantel sah sich seiner ursprünglichen Bestimmung nicht mehr gewachsen, was die Straße zwar in keiner Weise entlastete, mir jedoch das Gefühl vermittelte, immer mehr ein Teil der mich umgebenden Naturgewalten zu werden. Das zusätzlich aufgesaugte Gewicht verlieh mir eine Trägheit, die meinen ursprünglich nur mäßig elfenhaften Hüpfern nunmehr jegliche Eleganz raubte. Ich schaukelte von Pfütze zu Pfütze, elegant wie ein Flusspferd, das man in einen nassen Sack eingenäht hat. Die anfängliche Sicherheit, den Wasserlachen und Bächen auszuweichen, kehrte sich mehr und mehr in eine ausgezeichnete Trefferquote. Die Strümpfe saugten gierig die ihnen angebotene Feuchtigkeit auf und vermittelten mir das Gefühl, durch einen tiefen Sumpf zu waten. Dies war der Moment, in dem ich mich entschloss, einen trockenen Platz zu suchen, um nicht in Gefahr zu geraten in meiner eigenen Kleidung zu ertrinken. Die schwarzen Regenwolken hatten den Nachmittag zur Nacht werden lassen und nur die gelegentliche Aufhellung meiner Umgebung durch einen herabzuckenden Blitz ermöglichten mir die Orientierung. Ich folgte der nächsten Seitenstraße in der Hoffnung, nun doch noch einen trockenen Unterschlupf zu finden. Nur einige Schritte weiter erspähte ich einen Ladeneingang. Das einzige Schaufenster erstrahlte in einem warmen, einladenden Licht. Ohne zu zögern riss ich die Eingangstür auf und trat ein.
Eine altmodische Türglocke ertönte in vier klaren Glockentönen, die sich in umgekehrter Reihenfolge wiederholten, als sich die Tür hinter mir wieder schloss. Ich befand mich offensichtlich in einem Antiquariat. Vom Eingang des Raumes führten einige Stufen hinab in einen unerwartet großen Raum, der sich mir aus meiner erhöhten Position in seiner ganzen Fülle offenbarte. An den Wänden und in der Raummitte befanden sich schwere dunkle Holzregale, die mit Büchern vollgestopft waren. Nicht etwa in der gewohnten Weise, aufrecht stehend, Rücken neben Rücken, sondern wild durcheinander, wie sie gerade aus der Hand gelegt wurden. Stehend, liegend, mit dem Rücken nach vorne, mit dem Rücken nach hinten oder gar auf den geöffneten Seiten liegend. Zwischen den Regalen standen Tische, die ebenfalls bis zum Bersten mit den verschiedensten Büchern belastet waren. Da auch der Platz auf den Tischen nicht auszureichen schien, war der Zwischenraum auf dem Boden ebenfalls mit Bücherstapeln gefüllt. Inmitten dieses Chaos saß an einem ebenfalls überfüllten Schreibtisch eine Gestalt, die mich im ersten Moment an den Filmklassiker ›Die Fliege‹ erinnerte. Der über dem Tisch befindliche Oberkörper war vollständig mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Nur der rechte Arm schaute heraus, während der verhüllte linke Arm Raum für atemberaubende Spekulationen ließ. Durch den Klang der Türglocke erwachte ›die Fliege‹ aus ihrer Erstarrung und die rechte Hand hob in einer langsamen, fließenden Bewegung das Tuch empor. Entgegen meinen Erwartungen entpuppte sich das Wesen nicht als insektoides Monster.
Ein Mann, rötlich blonde Haare, gedrungene Gestalt, dessen Alter sich allerdings nur schwer schätzen ließ, kam zum Vorschein und grinste mich freundlich an: »Entschuldigen Sie bitte mein Auftreten, aber bei diesem Wetter kann man sich nur zu leicht eine Erkältung einfangen. Zur Vorbeugung inhaliere ich täglich heißen Kamillendampf. Die meisten Leute machen das erst, wenn es zu spät ist, aber ich greife meinem Schicksal gerne voraus, müssen Sie wissen.«
Er faltete das Tuch gewissenhaft zusammen, was in dieser Umgebung eher befremdlich wirkte. Unterdessen stieg ich die Stufen hinab, sorgsam darauf achtend, den umherliegenden Büchern auszuweichen. »Kommen Sie nur und legen Sie Ihren Mantel ab«, forderte er mich auf. »Wasser reinigt die Seele, aber die Knochen muss man sich schon trocken halten.« Er komplimentierte mich mit deutlichen Gesten zu einer Garderobe, wo er mir Hut und Mantel entgegennahm. Ich zog ebenfalls die Schuhe und die tropfnassen Strümpfe aus, die ich über einem altertümlichen Kohleofen zum Trocknen aufhängte. Der Buchhändler, ich hielt ihn jedenfalls für einen, streckte mir ein Paar Filzpantoffeln entgegen und meinte: »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Sie suchen sich das Buch und ich mache uns in der Zwischenzeit etwas zu trinken. Kaffee oder Tee?«
»Wie bitte, äh- ja, Tee. Vielen Dank auch« stammelte ich verblüfft. «Welches Buch meinen Sie? Ich suche kein Buch.«
»Warum sind Sie dann zu mir gekommen, wenn Sie kein Buch suchen?«, erwiderte er mit gedämpfter Stimme mittlerweile aus dem Nebenraum.
«Ich bin rein zufällig hier herein gestolpert, um mich vor dem Regen zu schützen. Ich wusste nicht einmal, dass hier eine Buchhandlung ist.«
Mit einer einzelnen Teepackung in der Hand kam er wieder zum Vorschein, fragte allerdings ernsthaft: »Schwarz, grün, fruchtig, Vanille, Mandel, Kamille, Pfefferminze? Alles, was Sie wollen.«
Ich musste schmunzeln, da ich sicher war, dass er nur seine Hausmarke anzubieten hatte. Das Etikett konnte ich nicht lesen. »Vanille«, sagte ich spontan. Er hob das Päckchen hoch und zu meiner Überraschung stand dort in deutlichen Buchstaben: ›VANILLE‹
»Sehen Sie, jetzt bekommen Sie Ihren Tee und inzwischen können Sie in aller Ruhe Ihr Buch suchen«.
»Ich bin wirklich nur zufällig hier«, behauptete ich nun schon etwas unsicherer. »Ich suche kein Buch.«
»Papperlapapp«, sagte er wiederum. »Sie sind ein Mann, der gerne liest, das sehe ich auf den ersten Blick. Und Menschen, die gerne lesen, sind immer auf der Suche nach einem Buch.« Kichernd fügte er noch hinzu: »Sie wissen das nur nicht immer.« Mir gefiel diese fast schon philosophische Erkenntnis, konnte aber nicht umhin zu erwidern: »Vielleicht haben Sie recht, aber trotzdem hat mich der Zufall zu Ihnen geführt.«
»Es gibt keinen Zufall. Nicht in dieser Welt«, sagte er daraufhin ernst. »Zufälle gibt es nur in der unbelebten Natur, manchmal noch nicht einmal da. Ich meine aber jetzt nicht diesen esoterischen Kram, mit Schicksal, Karma, göttlicher Fügung und all dem Zeug. In unserer Welt ist alles miteinander verwoben. Und ich meine das wörtlich. Wenn sie jetzt eine bestimmte Entscheidung treffen, dann beeinflusst das andere, die wiederum ihre Entscheidungen treffen und so weiter. Irgendwann kommt die Reaktion der Welt auf ihr momentanes Handeln als Rückkopplung auf sie zurück. Dabei verhalten wir uns wie ein riesiger Schwarm von Tieren, der sich nach ganz einfachen Regeln richtet. Meist ist es nur eine einzige Regel, die unser Handeln bestimmt. Wir versuchen einen Zustand einzunehmen, in dem es uns gut geht. Das kann man übrigens auch bei Fischen gut beobachten. Die Fische fühlen sich wohl, wenn sie dicht bei ihren Artgenossen sind. Allerdings nicht zu dicht, damit sie nicht zusammenstoßen. Meist folgen sie gewissen chemischen Signalen, die ihnen Futter verschaffen und wenn ein Räuber kommt, treten sie die Flucht an. Mehr muss ein einzelner Fisch nicht tun. Beobachtet man den Schwarm aber von außen, so sieht es aus, als bewege sich ein zentral gesteuerter Organismus. Es ist faszinierend. Unser Verhalten ist da etwas komplizierter, denn unsere Wünsche sind ja auch vielfältiger. Aber prinzipiell tun wir nichts anderes; wir folgen unseren Regeln. Man nennt das Selbstorganisation. Die Vielfalt allen Lebens auf der Welt entsteht durch dieses Prinzip. Der Zufall spielt hier nur eine ganz untergeordnete Rolle. Und auch Sie handeln nach dem gleichen Muster. Und damit war Ihr Weg hierher ein breiter Pfad, dem Sie irgendwann folgen mussten.«
Ich war stark beeindruckt von diesem unerwarteten Vortrag. Es war eine faszinierende Idee, die mich sofort in ihren Bann zog. Nichtsdestotrotz konnte ich Sie nicht so einfach gelten lassen. »Sie vergessen, dass ich wegen des starken Regens die Orientierung verloren hatte, und ebenso gut in einer anderen Gegend hätte landen können. Also doch reiner Zufall!«, triumphierte ich.
»Sie sind ein Freund von guten Büchern«, entgegnete er. »Irgendwann wären Sie auf diesen Laden gestoßen, auf der Suche nach einem ausgefallenen Titel, einer vergriffenen Ausgabe oder einfach durch den Rat eines Bekannten. Jetzt haben Sie eine Abkürzung gefunden.«
Inzwischen war der Tee fertig. Er stellte die Tasse mitten zwischen einige Stapel unsortierter Bücher und machte kehrt, um wie er sagte ›noch einiges zu erledigen‹. »Verraten Sie mir noch, woher Sie wissen konnten, welche Teesorte ich wählen würde?«, rief ich ihm nach. »Oh, das war reiner Zufall«, antwortete er grinsend und verschwand im Nebenraum.
Etwas irritiert, aber nicht minder beeindruckt, setzte ich mich auf einen Stapel nicht ausgepackter Atlanten, der mir für diesen Zweck gerade noch stabil genug erschien. Die Untertasse und die Zuckerschale platzierte ich vorsichtig auf der Encyclopaedia Britannica, die hochkant in einer Kartonage vor mir aufgebaut war. Während ich vorsichtig an dem noch heißen Getränk nippte, zog ich mit der freien linken Hand willkürlich ein Buch aus dem am nächsten stehenden Regal heraus. Als ich den Titel las, konnte ich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es war ein Mathematik-Schulbuch, das ich noch aus meiner eigenen Schulzeit kannte. Der rubinrote Leineneinband war schon stark abgegriffen und der Buchrücken war unvermeidlich in Auflösung begriffen, was durch einige Streifen Klebefilm verhindert werden sollte. Ein Lesezeichen, offensichtlich noch ein Relikt des letzten Besitzers, veranlasste mich, das Buch an der markierten Stelle zu öffnen. Ich begann zu lesen:
Aufgabe 1: Sie sitzen vor einer Schublade, die 48 vollständige Paare von Socken enthält, die jedoch einzeln und nicht sortiert abgelegt wurden. Die eine Hälfte der Socken ist blau und die andere Hälfte weiß. Sie ziehen nun nacheinander blind, paarweise sämtliche Socken aus der Schublade und legen sie in drei Kategorien sortiert ab. Der erste Stapel enthält weiße Sockenpaare, der zweite Stapel enthält blaue Sockenpaare und der dritte Stapel enthält die gemischten Paare. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Stapel mit den weißen Socken genau so groß ist, wie der Stapel mit den blauen Socken?
Ich musste unwillkürlich auflachen, denn die Aufgabe schien mir sehr weit an der Realität vorbei gestellt zu sein. In welcher Schublade findet man schon vollständige Paare von Socken? Ich schätzte die Wahrscheinlichkeit, eine Schublade mit vollständigen Sockenpaaren zu finden, war etwa genauso gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass beide Stapel gleich groß waren.
»Na, haben Sie nun Ihr Buch gefunden?«, fragte der Buchhändler, der wieder aus der Tür kam, durch die er eben noch entschwunden war. Ich hielt das Mathematikbuch hoch und las dann die Aufgabe daraus noch einmal vor. Er lachte. »Da sehen Sie mal, dass ich recht hatte. Passt das nicht perfekt zu unserer Unterhaltung? Haben Sie die Aufgabe gelöst?«
»Nein«, erwiderte ich. »Vermutlich kommt da eine sehr kleine Zahl heraus - außerdem ohne Papier und Bleistift? Na, Sie wissen schon ...« Er schaute lange Zeit nachdenklich zur Decke, bevor er wieder zu reden begann. »Es ist schon verblüffend, wie zielsicher Sie zugegriffen haben. Diese kleine Aufgabe ist sozusagen der Schlüssel zu meiner Argumentation von eben. Das Ergebnis ist Eins.«
»Wie bitte?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Stapel gleich groß sind, ist Eins - also 100%. Die Stapel sind immer gleich groß, verstehen sie?«
»Nein«, sagte ich erstaunt. »Ich glaube ich kann Ihnen da nicht so schnell folgen.«
»Na, dann passen Sie mal auf. Wenn Sie zufällig immer nur zwei blaue Socken ziehen, dann sind am Schluss nur noch weiße Socken übrig und beide Stapel sind gleich groß. Umgekehrt gilt das natürlich genauso. Ziehen sie aber zufällig nur gemischte Farben, dann bleiben der blaue und der weiße Stapel leer und sind daher ebenfalls gleich groß.«
Er machte eine rhetorische Pause, bevor er seine Erklärung fortsetzte:
»Jetzt wird es etwas kniffliger«, fuhr er dann plötzlich fort, riss dabei die Augen auf und hob schulmeisterlich den rechten Zeigefinger.
»Für jedes gemischte Paar Socken das sie herausfischen, bleibt immer ein gemischtes Pendant im Stapel zurück. Mit jedem einfarbigen Paar, das sie ziehen, bleibt genau ein einfarbiges Gegenstück liegen. Nur das Verhältnis von gemischten Farben zu gleichen Farben kann sich ändern, nicht aber das Verhältnis von blau und weiß. Der Schlüssel, mit dem hier scheinbar das Schicksal ausgetrickst wird, liegt in der vollständigen Entnahme aller Kleidungsstücke.«
Ich war erstaunt und sprachlos. Die Lösung war verblüffend. Was mich jedoch fassungslos machte, war die Tatsache, dass ich scheinbar zufällig zugegriffen hatte, aber offensichtlich zielgerichtet ins Schwarze traf. Ich nahm einen meinen Kugelschreiber und den Notizblock aus der Hemdentasche und wollte die Aufgabe aufschreiben, da ich sie so erstaunlich fand, aber der Notizblock war völlig durchgeweicht und war unbrauchbar geworden. Der Buchhändler schmunzelte und sagte: »Schreiben Sie die Lösung einfach in das Buch. Das ist sowieso total vollgekritzelt, da kommt es auf eine Schmiererei auch nicht mehr an. Außerdem können sie das Buch behalten. Es ist nicht viel wert.«
»O.K.«, sagte ich und schrieb mit dem Kugelschreiber unter die Aufgabe: »Die Lösung ist gleich Eins.«
»Wie sind sie nur so schnell auf die Lösung gekommen?«, fragte ich den Buchhändler, als ich den Satz vollendet hatte.
»Ich kenne eine ganze Menge solcher mathematischer Knobeleien. Ein Hobby von mir, sozusagen. Die gleiche Aufgabe ist mir mit Schachfiguren, anstelle der Socken, schon einmal begegnet.« Er setzte sich auf einen Stapel von Kochbüchern und starrte mich eine Zeitlang an. Dann streckte er mir spontan die Hand entgegen und sagte: »Ich möchte mich doch erst mal vorstellen. Carl Kramer ist mein Name. Ich habe den Laden hier von meinem Onkel geerbt. Eigentlich bin ich Lehrer, Mathematiklehrer wie Sie sich sicher denken können. Aber da ich finanziell unabhängig bin habe ich meinen Job an den Nagel gehängt und führe den Laden hier nun weiter. Ohne Gewinn, aber mit viel Muße um meiner Leidenschaft, dem Lesen zu frönen. Und Sie? Ich glaube mittlerweile, dass Sie das Schicksal nicht zu einem meiner Bücher führen wollte, sondern vielleicht doch eher zu mir. Was treibt Sie bei diesem Wetter in diese Gegend, um dann nass wie ein Badeschwamm bei mir im Laden zu erscheinen?«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, erwiderte ich. »Ich bin Gerald Borman. Eigentlich bin ich auf der Suche. Genau genommen geht es um einen guten Freund, den ich mal wieder besuchen wollte. Ich habe seine alte Adresse heraus gekramt und bin einfach losgezogen. Es muss hier ganz in der Nähe sein. Dann hat mich jedoch das Unwetter überrascht und ich habe ein wenig die Orientierung verloren. So habe ich Ihren Laden gefunden.«
»Und was treiben Sie den ganzen langen Tag, wenn Sie mal nicht gerade durch den Regen spazieren?«, fragte er weiter.
»Nichts Aufregendes. Ich bediene im Déjà-vu. Das ist eine Kneipe in der Innenstadt. Meist stehe ich hinter der Theke und zapfe Bier.«
»Und Ihr Freund? Arbeitet er auch in der Gastronomie?«
»Wer? Ach so, nein. Er ist Psychologe und beschäftigt sich mit der menschlichen Wahrnehmung.«
»Interessante Arbeit«, meinte Kramer.
»Ja, das denke ich auch. Er hat auch schon einige interessante Artikel in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.«
»Und jetzt ist er aus dem Bereich Ihrer Wahrnehmung einfach verschwunden und Sie haben die Hoffnung, dass er noch in seiner Studentenbude haust. Wie lange ist es denn schon her, dass Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben?«
»Eigentlich kommt es mir vor als sei es erst gestern gewesen, aber es müssen wohl ein paar Monate vergangen sein. Vielleicht mehr als ein Jahr.«
Ich schaute Kramer verschmitzt an und sagte: »Vielleicht kommt mir ja der Zufall zu Hilfe, um ihn zu finden.«
Kramer erwiderte jedoch, ohne auf meine Anspielung einzugehen: »Ich bin sicher, dass Sie ihn finden werden. Ebenso zielsicher, wie Sie eben das Buch gegriffen haben. Aber lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn er nicht schon an der nächsten Straßenecke steht. Übrigens vergessen Sie nicht, das Buch mitzunehmen.«
Wir plauderten noch eine Weile über Psychologie, über Zufälle und deren Gesetzmäßigkeiten bis meine Sachen trocken genug waren, dass ich sie wieder anziehen konnte. Dann verabschiedeten wir uns und ich versprach bald wieder zu kommen, um zu berichten, ob ich meinen Freund gefunden hätte. Ich stieg die Stufen wieder hinauf und wurde nun von den zweimal vier Glockentönen der Tür ins Freie begleitet.
*
In der Zwischenzeit hatte der Regen aufgehört und die Sonne lugte zaghaft durch eine kleine Wolkenlücke. Ich setzte meinen Weg fort. Ich hatte jedoch Kramer nicht die ganze Wahrheit erzählt. Allerdings kann ich beim besten Willen nicht sagen, was mich dazu bewogen hat. Vielleicht erschien er mir nur etwas zu kauzig mit seinen Marotten und abstrusen Theorien. Ich bediene tatsächlich im Déjà-vu, aber nur an zwei Tagen in der Woche. Ich bin eigentlich Psychologiestudent und ganz nebenbei auch noch Schriftsteller. Ich schreibe Novellen und Kurzgeschichten für Zeitschriften. Zurzeit arbeite ich an meinem ersten richtigen Roman, der die Störungen menschlicher Wahrnehmungen zum Inhalt hat, also ein Thema, das sehr eng mit meinem Studium verknüpft ist. Irgendwie habe ich dann die Realität mit meiner Fantasie durchmischt, denn ich wollte heute tatsächlich einen Freund aufsuchen, der jedoch mindestens ebenso kauzig und verschroben ist wie Kramer. Er ist ein begnadeter Programmierer und Computerspezialist und arbeitet für eine Firma, die Simulatoren für Verkehrsmittel aller Art und für die Luftfahrt im Besonderen vertreibt. Ich hatte ihn neulich angerufen, nachdem es mir gelungen war seine Telefonnummer, die natürlich nicht im Telefonbuch verzeichnet war, über verschlungene Wege ausfindig zu machen. Ich bat ihn um ein paar Erläuterungen zu seiner Arbeit, da ich plante, diese Technologie in die Geschichte mit der Wahrnehmung einzubauen. Er willigte sofort ein und lud mich in seine Wohnung ein, wo er mir sein Lieblingsspielzeug, wie er es nannte, einmal vorführen wollte. Wir hatten den heutigen Nachmittag vereinbart und nun war ich nach einem Abstecher in Kramers Reich der Zufälle und unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten wieder auf dem Weg zu meiner Verabredung.
Ich kannte mich in dieser Gegend nur ungenügend aus und in den unübersichtlichen Straßenschluchten mehrstöckiger Wohngebäude konnte man leicht die Orientierung verlieren. Daher beschloss ich, meinen Standort noch einmal im Stadtplan zu ermitteln und blieb abrupt auf dem breiten Gehweg vor der Häuserzeile einer unbelebten Seitenstraße stehen. Gerade wollte ich in die Innentasche meines Mantels greifen, als das Unerwartete, das Entsetzliche geschah. Mit einem dumpfen Laut schlug direkt vor mir ein Mann auf das harte Pflaster. Das grauenhafte Geräusch werde ich wohl immer in meiner Erinnerung tragen müssen. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, hatte asiatische Gesichtszüge und trug Jeans, ein einfaches T-Shirt und war barfuß. Seine glasigen Augen starrten mich an und in seinem Gesichtsausdruck lag irgendwie noch so etwas wie Erstaunen.
Der Tod musste schlagartig eingetreten sein und seine Muskeln entspannten sich rasch. Seine linke Hand war zur Faust geballt und öffnete sich nun zaghaft. Heraus kam ein silberner Zylinder, der sich langsam rollend, eine kleine Staubwolke aufwirbelnd, in Bewegung setzte und genau auf mich zusteuerte. Aus einem unbegreiflichen Reflex heraus griff ich zu und ließ den Zylinder blitzschnell in meinem Mantel verschwinden, als von oben ein Geräusch zu vernehmen war. Ich schaute hinauf und konnte gerade noch eine schemenhafte Figur im geöffneten Fenster des fünften und letzten Stockwerks vor dem Dachgeschoss verschwinden sehen. Ohne zu zögern, und vor allem ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, öffnete ich die Haustüre und hechtete die Treppe nach oben.
Nach zwei Stockwerken wurde mein Spurt jedoch jäh unterbrochen. Eine Frau kam mir von oben mit gezückter Waffe und kompromisslosem Blick entgegen. Ich hielt an und begann vorsichtig mit dem Rückzug nach unten. Sie folgte mir jedoch langsam aber unerbittlich. »Geben Sie mir das Utsúwa. Es gehört Ihnen nicht.«
Ich erwiderte verständnislos: »Das Utsu-was? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Sie wurde sichtlich ungehalten. Mittlerweile hatten wir das Erdgeschoss wieder erreicht. Linkerhand ging es zum Hinterausgang, nach rechts zur Haustüre, die mittlerweile wieder ins Schloss gefallen war. Von oben kamen die hastigen Schritte von mehreren Personen. Sie hob die Waffe an und musste offensichtlich den Abzug durchgezogen haben, denn ich spürte einen fürchterlichen Stoß auf der Brust, vernahm einen lauten Knall und wurde ruckartig nach hinten gerissen. Das Letzte was ich im Fallen noch sehen konnte war, dass meine Mörderin in Richtung Hintertür verschwand und von zwei Gestalten in schwarzen Mänteln und Hüten verfolgt wurde, die mittlerweile den Fuß der Treppe erreicht hatten. Dann hüllte mich Dunkelheit ein.
*
Mit starken Schmerzen in der Brust rappelte ich mich wieder auf und richtete meine Kleidung. Bei meinem Sturz hatte ich einen Wäschestapel mitgerissen, der wohl auf seine Abholung wartete und mir vollständig die Sicht nahm, nachdem er auf mir gelandet war. Ich tastete unter dem Mantel nach meiner Verletzung und erwartete zumindest einen warmen Strom von Blut, der sich über meine Hand ergießt, konnte aber nichts fühlen. Stattdessen schien mein Mantel ungewöhnlich hart und schwer auf meiner Hand zu lasten.
Ein Griff in die weite Innentasche des Kleidungsstücks beförderte das Mathematik-Schulbuch mit dem roten Leineneinband zu Tage, das mir Kramer gerade eben noch geschenkt hatte. Das Projektil, das mich sicher ins Jenseits befördern sollte, hatte ein Loch hineingebohrt und steckte tief in den Seiten. Ich schlug den Einband auf und ließ mich mit einem Aufschrei und weichen Knien auf dem nun ungeordneten Haufen von Wäschestücken nieder. Auf der ersten Seite standen mit blauer Tinte die Worte: ›Gerald Borman, 10c‹ und einen knappen Zentimeter darunter schaute die Spitze des Projektils heraus. Das war mir etwas zu viel an merkwürdigen Zufällen für nur einen einzigen Tag. Ich hatte mein eigenes altes Mathematik-Schulbuch wiedergefunden, das mir nur wenige Momente später das Leben gerettet hat.
In diesem Augenblick fiel mir wieder der merkwürdige Zylinder ein und ich griff in die andere Innentasche meines Mantels. Er war noch da. Was immer auch ein Utsúwa sein sollte, ich würde die Lösung des Rätsels auf später verschieben. Offensichtlich haben mich alle Verfolger nach dem sauberen Schuss für tot erklärt und es war weit und breit nichts mehr von ihnen zu sehen. Ich öffnete die Haustür und trat ins Freie in der Erwartung eines Menschenauflaufs wegen des Mannes, der vor wenigen Minuten aufs Pflaster gestürzt war Aber zu meiner Verblüffung war der Gehsteig leer. Extrem leer sogar, denn auch der Tote war spurlos verschwunden. Es war keine Spur des Fenstersturzes mehr zu erkennen. Keine Leiche, kein Blut, rein gar nichts. Nachdem ich meine Kinnlade wieder geschlossen hatte, öffnete ich mit zittrigen Händen den Stadtplan und stellte fest, dass es zur Wohnung meines Freundes nur noch zwei Häuserblocks waren. Ich beschloss, die jüngsten Erlebnisse später zu verarbeiten und setzte meinen Weg fort. Ich erreichte mein Ziel ohne weitere, nennenswerte Erlebnisse.