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Sarah war auf dem Weg zu Roman Dalberg. Die Treppe zum Haupteingang war steil und sehr schmal. An einigen Stufen aus rotem Sandstein hatten sich bereits Bruchstücke gelöst, während das schmiedeeiserne Geländer schon stark verrostet und morsch war. Sie nahm sich vor, Roman diesen bedauernswerten Zustand gleich vorzuwerfen, denn die Sicherheit ging schließlich vor. Am Ende ihres Aufstieges lag das massive, reich verzierte Eichentor mit dem Drachenkopf als Türklopfer. Sie nahm die schwere gusseiserne Plastik in beide Hände und schlug dreimal gegen das Wiederlager und ließ damit den gewaltigen Resonanzkörper des Tores dumpf erklingen. Während sie wartete, bemerkte sie, dass die Bäume und Büsche des Parks das Gebäude schon stark bedrängten, als ob sie im Begriff seien es zu verschlingen. Plötzlich hörte sie ein lautes Knurren vom Fuß der Treppe und schaute verwundert zurück. Einer der Dobermänner musste sich wohl losgerissen haben und schritt langsam aber zielstrebig die Treppe hinauf, die Zähne gebleckt und offensichtlich bereit sich auf sie zu stürzen. Hinter ihr öffnete sich nun das Tor mit einem lauten Quietschen und sie konnte sich gerade noch rechtzeitig in das Gebäude retten, bevor das Tier sie erreicht hatte. Ein Pfleger hatte ihr geöffnet und ging nun mit einer Öllampe in der Hand voraus durch die dunklen Gänge. Er trug eine ziemlich ramponierte Livree und hinkte mit dem linken Fuß. »Ich muss Roman dringend darauf ansprechen, dass er den Pflegern frische Dienstkleidung besorgt. Das ist doch kein Zustand für eine renommierte Klinik.« Sie gingen an zahlreichen Zellen vorbei und Sarah konnte Patienten hinter den verriegelten Holztüren hören, wie sie riefen und randalierten. Der Flur schien endlos. An den grob gemauerten Steinwänden hingen zahlreiche gelbe Zettel, auf denen Parolen standen wie: »Gestern ist das Gegenteil von heute und morgen wird es umgekehrt sein«, oder, »Die Summe der Gedanken ist proportional zur Farbe der Erinnerungen.« Am Ende des endlosen Flurs war die Tür geöffnet. Es war das Labor des Fürsten von Dalberg und hier hing ebenfalls ein gelber Zettel, der mit einem Dolch auf das Türblatt geheftet war.

»Hüte dich vor den wilden Tieren«, stand darauf. Der Pfleger war wie vom Erdboden verschwunden und Sarah trat durch die Tür in das Labor, das nur durch ein paar spärliche Kerzen beleuchtet war. Sie bahnte sich ihren Weg durch Tische mit Glaskolben und gewundenen Kühlrohren darauf, in denen bunte, exotische Flüssigkeiten brodelten. In einer Ecke fand sie Roman Dalberg und Antonio Shira, die um einen kleineren Holztisch herumstanden auf dem ein zylindrischer Glasbehälter stand. Roman sah kurz auf und winkte sie heran, um seinen Blick gleich darauf wieder auf den Behälter zu konzentrieren. »Es ist mir gelungen, die Wahrnehmungen des menschlichen Gehirns sichtbar zu machen«, sagte er triumphierend. »Schau dir das an Sarah.«

Sie trat zwischen die beiden und blickte in den Glasbehälter. In einer durchsichtigen Flüssigkeit schwamm der geöffnete Kopf eines Menschen. Der Schädel war oberhalb der Augenbrauen kreisförmig geöffnet. Das Gehirn lag frei und war mit zahlreichen bunten Drähten verbunden, die nach oben zum Deckel des Behälters führten. Der vordere Schläfenlappen war sorgfältig aufgeschnitten und aufgefaltet worden. Zwischen den Gehirnwindungen konnte man kleine blaue Blitze herumwandern sehen. »Du musst durch das Mikroskop schauen«, sagte Dalberg, »sonst erkennst du nichts.« Sarah trat einen Schritt näher heran, und blickte durch das Mikroskop, das direkt auf das Zentrum des geöffneten Gehirns ausgerichtet war. Sie erkannte Takeda, der in wilder Panik in seinem Zimmer herumlief und nach einem Ausgang suchte, aber es schien, als ob er in einem unsichtbaren Labyrinth gefangen war, mitten in der Bewegung prallte er gegen eine Wand, die nicht vorhanden war und fiel zu Boden. Er rappelte sich wieder auf und versuchte an einer anderen Stelle einen Ausgang zu finden. In der Zwischenzeit konnte Sarah erkennen, dass sich die Zimmerdecke erbarmungslos herabsenkte und Takeda nur eine grausam kurze Frist ließ, bis er am Boden zerquetscht wurde. Der Platz zwischen Boden und Decke war mittlerweile nur noch knapp drei Fuß hoch, so dass er nur noch auf allen Vieren kriechen konnte. »Ihr habt ihn also umgebracht!«, schrie Sarah nun laut und löste sich von dem Mikroskop. »Ja Signora, das ist bedauerlich«, sagte Shira nun, »aber es war unvermeidlich, um hinter sein Geheimnis zu kommen.«

»Das ist Mord!«, schrie Sarah und schlug mit der Faust auf den Tisch mit dem Glaszylinder, worauf sich der Kopf nach oben drehte und die Augen öffnete. Sie blickte in ihr eigenes vom Entsetzen gezeichnetes Gesicht und - wachte schweißgebadet auf.

Sie saß noch eine Weile zitternd in ihrem Bett und versuchte den Traum zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Die Bilder waren zu intensiv, um sie schnell zu vergessen. Schließlich drehte sich der Traum um die Geschehnisse der vergangenen Tage und um das Rätsel, das sie zu lösen versuchte und so kreisten ihre Gedanken immer wieder um das gleiche Thema. Sie nahm ein ausgedehntes Bad während die Musik in ihrem Wohnzimmer laut gestellt war, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Wenn sie traurig oder seelisch aufgewühlt war wie jetzt, hörte sie am liebsten kubanische Salsa-Musik, die sie mit ihren unbeschwerten Rhythmen wieder fröhlich stimmte. Auch nach dem Bad ließ sie die Musik weiterlaufen, und setzte sich an ihren Schreibtisch um ihre Gedanken zu sortieren und um den Traum aus einer nüchternen Perspektive zu betrachten. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und die nassen Fensterscheiben zeigten ein verschwommenes Bild der im Dunkeln liegenden Landschaft. Das laute Trommeln der Regentropfen auf dem Vordach war jedoch nur zu hören, wenn eine Pause zwischen den Liedern es zuließ. Sarah blickte auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch. Sie war ein Geschenk von Erik zu Ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag gewesen und in ihrem Inneren befand sich ein Radfahrer aus Draht, der sich unermüdlich gegen den Lauf der Zeit abstrampelte, ohne jemals anzukommen, denn er fuhr immer im Kreis herum. Auf der Straße standen die Worte: »Der Weg ist das Ziel.« Er hatte es ihr damals geschenkt, weil sie wie eine Besessene mit dem Fahrrad durch die Gegend fuhr und es abgelehnt hatte, wie er es üblicherweise tat, bei jeder Gelegenheit den Wagen zu nehmen. Im Moment jedoch schien der Radfahrer ihre Gedanken zu symbolisieren, die sich immer wieder im Kreis drehten, ohne jemals weiter zu kommen. Es war inzwischen drei Uhr zweiunddreißig in der Nacht und Sarah glaubte nicht, dass sie noch einmal an Schlaf denken konnte. Sie nahm noch einmal die Kopie der Liste zur Hand, die sie für Marc zusammengestellt hatte, und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, was ihr jedoch nicht gelang. Doch plötzlich hielt sie inne, denn ihr war etwas sehr Merkwürdiges aufgefallen.

Hüte dich vor den wilden Tieren

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