Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 8
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ОглавлениеDie Tür zu Roman Dalbergs Büro stand einen Spalt breit offen und Sarah, die ihn gerade aufsuchen wollte, konnte hören, dass sich noch eine andere Person bei ihm befand, mit der er lautstark diskutierte. Sie dachte es sei besser, das Ende der Unterhaltung abzuwarten und nicht in diese hitzige Diskussion hinein zu platzen und ließ sich auf der kleinen Bank neben der Tür nieder. Während eines Gesprächs, das sie nach dem Vorfall geführt hatten, erläuterte ihr neuer Chef die aktuelle Situation. Roman Dalberg zeigte sich erschüttert. Offensichtlich konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie es möglich war, dass so etwas passierte.
Und das Schlimmste daran war, dass es nicht das erste Mal war. Es war noch nicht viel Zeit vergangen, seit es in seiner Klinik einen mysteriösen Unfall gegeben hatte. Damals war es eine Frau, die man seiner Obhut anvertraut hatte. Ihr Name war Rita. Man hatte sie mitten in der Nacht in ihrem Zimmer gefunden. Unter dem Türspalt war eine Wasserlache ausgetreten und ein Patient, der einen nächtlichen Spaziergang unternommen hatte, war darauf aufmerksam geworden. Er hatte sofort das Klinikpersonal alarmiert. Die Tür ließ sich zunächst von außen nicht öffnen, was ungewöhnlich war, denn die Schlafräume der Patienten konnten aus Sicherheitsgründen nicht von innen verriegelt werden. Man hatte sie schließlich gewaltsam geöffnet und festgestellt, dass ein Stuhl sehr geschickt unter die Klinke geklemmt war um das Öffnen der Tür zu verhindern. Die Frau lag auf dem Boden in einer ausgedehnten Wasserlache, die jedoch auf einen geringen Umkreis um den Körper beschränkt war. Lediglich ein schmaler Strom hatte sich entsprechend dem schwachen Gefälle des Fußbodens von der Pfütze gelöst und war unter der Tür durchgekrochen. Die Frau lag auf dem Rücken und der geöffnete Mund war vollständig mit Wasser gefüllt. Offensichtlich war sie ertrunken, was auch der spätere Obduktionsbefund ergab. Niemand konnte sich einen Reim auf das Geschehene machen. Wie konnte eine Wasserleiche in das Zimmer gelangen, ohne dass sich Spuren eines Transports im Flur befanden, geschweige denn im Zimmer selbst. Ebenso unerklärlich war die Verriegelung der Tür. Es gab aber zahlreiche Spekulationen über die Möglichkeit, den Stuhl so zu platzieren, dass er beim Schließen der Tür von außen automatisch in die Verriegelungsposition rutschte. Allerdings waren sämtliche Versuche diesen Trick nachzustellen gescheitert. Das Merkwürdigste war jedoch das Untersuchungsergebnis des Wassers, in dem die Frau ertrunken war. Es handelte sich um Meerwasser. Meerwasser aus dem ostasiatischen Teil des Pazifischen Ozeans. Die enthaltenen Mikroorganismen gaben Aufschluss darüber. Der Fall war mehr als sonderbar und konnte schließlich nicht aufgeklärt werden. Dass es kein überregionales Echo in den Medien gab, hatte Roman Dalberg seinem Freund Antonio Shira zu verdanken. Er war der verantwortliche Hauptkommissar, der die Ermittlungen führte und während der ganzen Zeit den Ball flach gehalten hatte, um keine allzu hohen Wellen in der Presselandschaft zu schlagen. Der Fall wurde schließlich als tragischer Badeunfall zu den Akten gelegt und es blieb lediglich ein fader Nachgeschmack für die Mitarbeiter und ein ungelöstes Rätsel für Antonio zurück. Dalberg war jedoch noch längst nicht über den Verlust dieser Patientin hinweggekommen, denn er fühlte sich für ihren Tod verantwortlich.
Auch jetzt war Antonio wieder in seinem Büro, wie man an seiner unverwechselbaren Ausdrucksweise leicht erkennen konnte, und auch diesen Fall würde er höchstpersönlich übernehmen. Sarah konnte so dicht an der Tür jedes Wort des Gesprächs verfolgen. »Mi dispiace, Romano, aber ich glaube, dass du wieder mal tief in der Scheiße steckst. Können sich deine Patienten nicht einfach mal erschießen oder erhängen? Warum muss es immer ein Zauberkunststück sein, das wir nicht durchschauen? Vielleicht sollten wir mal diesen Copperfeld befragen, du weißt schon diesen Zauberer aus dem Fernsehen, vielleicht kann der uns weiterhelfen.«
»Immerhin war die Tür dieses Mal nicht versperrt. Eigentlich haben wir nur einen Toten auf dem Fußboden. Oder?«, meinte Dalberg beschwörend. Sarah schielte durch den Türspalt und sah Shira, der vor dem Fenster ständig im Kreis herum lief und sich abwechselnd an die Stirn griff oder sich nachdenklich sein ausgeprägtes Charakterkinn rieb. »Non dire sciocchezze. Der Mann auf dem Fußboden hat mehr Knochenbrüche als es Brücken in Venezia gibt und er hat zahlreiche innere Verletzungen. Wie soll er sich das alles in seinem Zimmer zugezogen haben?«
»Vielleicht hat ihn jemand gefunden und in seinem Zimmer abgelegt? Möglich wär’s ja.«
»Eine halbe Stunde, bevor er gefunden wurde, hat man ihn noch putzmunter im Speisesaal gesehen. Welches ist das höchste Gebäude in einem, für ihn in einer halben Stunde, erreichbaren Umkreis?«
»Nun ja. Ich denke es ist die Klinik. Sonst gibt es keine Gebäude in der Nähe.«
»Aha!«, meinte Shira. »Die Stadt ist etwa eine halbe Autostunde von hier entfernt. Selbst wenn ihn jemand gefahren hätte, würde das nicht ausreichen. Außerdem ...«
Nun hatte Sarah entschieden nicht länger zu warten, denn es schien kein Ende des Gesprächs in Sicht zu sein, und klopfte an die Tür.
»Ja bitte!«, rief Dalberg routinemäßig. Sarah öffnete die Tür vollständig und Shira hielt in seiner fortwährenden, harmonischen Umkreisung eines imaginären Zentrums inne, verbog seinen Oberkörper und schielte in Richtung der Störquelle. »Der Dottore hat jetzt keine Zeit für sie, Signora.«
Dalberg wiedersprach jedoch: »Nein, warte. Komm bitte herein Sarah.« Er erhob sich von seinem Stuhl und führte sie zu ihm. »Darf ich dir vorstellen? Das ist Sarah Winter, meine neue Mitarbeiterin. Wir kennen uns allerdings schon eine geraume Zeit und sind auch privat befreundet. Sarah war gerade mit mir in der Klinik unterwegs, als Takeda gefunden wurde.«
Das Gesicht von Antonio Shira hellte sich kurz auf und offenbarte interessante Züge, da seine dunklen, tief schwarzen Augen hinter dünnen Schlitzen hervorlugten. Er brachte ein charmantes: »Che piacere, Signora Winter.« zustande, um gleich wieder seine finstere Maske des intensiv Nachdenkenden aufzulegen. Nach einem kurzen Moment scheinbarer Verwirrung setzte er sowohl seine Kreisbewegung als auch den Satz fort, den er vor der Unterbrechung begonnen hatte: «Außerdem hätten das die Überwachungskameras am Tor aufgezeichnet, wenn ein Wagen gekommen wäre.«
»Damit bleibt noch ein Sturz vom Dach der Klinik«, meinte Dalberg.
»Also, wenn du mich fragst. Die Klinik ist aber gerade mal zwei Stockwerke hoch. Außerdem befindet sich rund um das Gebäude nichts als weicher Rasen oder Gebüsch«, brachte sich Sarah, die es sich in der Zwischenzeit auf der Schreibtischkante bequem gemacht hatte, in die Diskussion mit ein.
»Gut beobachtet, Signora«, erwiderte Shira. »Man kann sich unter diesen Umständen zwar das Genick brechen, wenn man es nur ungeschickt genug anstellt. Aber die inneren Verletzungen, die dieser Ragazzo davongetragen hat, sind damit nicht zu erklären, geschweige denn die Zahl der Knochenbrüche. Glaub mir Romano, ich bin zwar kein Arzt, aber ich kenne mich mit solchen Dingen aus.« Sarah machte eine aufmunternde Geste in Richtung Dalberg, der in der Zwischenzeit wieder in seinem Schreibtischsessel zusammengesunken war. Dieser nickte dankbar, aber sichtlich resigniert zurück. Es folgte eine Zeit der nachdenklichen Stille, die nur durch das gelegentliche »Mmmh.« oder »Strano, wie seltsam«, unterbrochen wurde, während Shira weiterhin wie ein Raubvogel seine Kreise zog. Plötzlich blieb er unvermittelt stehen und drehte sich zu Roman Dalberg um. »Welche Krankheit hatte er eigentlich? Dieser Takeda.«
»Das ist ja gerade das Unangenehme an der ganzen Geschichte«, erwiderte dieser und streckte sich wieder zu einer halbwegs aufrechten Haltung. »Takeda gehörte eigentlich zum Personal.«
Shira legte die Stirn in lange, fleischige Falten, verkniff sich aber eine entsprechende Bemerkung.
»Er war Neurobiologe«, fuhr Dalberg, unbeirrt Shiras Mimik, fort. »Ein verdammt guter sogar. Aber seine Begabungen lagen wohl mehr im theoretischen Bereich. Er fühlte sich nur wohl, wenn er ungestört seinen Forschungen nachgehen konnte. Der Kontakt mit den Patienten irritierte ihn eher. Dieser Widerspruch machte seine Arbeit nicht gerade leicht. Meist vergrub er sich in seinem Büro und arbeitete am Computer. Für die Arbeit mit den Patienten ließ er sich gerne von seinen Assistenten unterstützen, manchmal sogar vertreten. Trotz dieser Marotte hatten sie großen Respekt vor ihm. Man konnte ihn durch aus als Koryphäe auf seinem Gebiet bezeichnen.«
An dieser Stelle wurde er von dem Kommissar unterbrochen, der stehengeblieben war und sich genüsslich und deutlich hörbar über den Stoppelacker seines Dreitagebartes strich.
»Was heißt denn nun, dass er eigentlich zum Personal gehörte? Gehörte er dazu oder gehörte er nicht dazu?«
»Na, ja«, wand sich Dalberg, dem die Situation sichtlich unangenehm war. »Ich weiß nicht so recht, wie ich es formulieren soll. Scheinbar konnte Takeda nicht den rechten Abstand zu den Patienten aufbauen, wie es für einen Mediziner oder Psychologen unerlässlich ist. Irgendwann begann er sich auf eine merkwürdige Art zu verändern. Es schien, als ob er sich zunehmend mit den psychischen Störungen, mit denen er täglich konfrontiert wurde, identifizierte. Zunächst dachten alle, er hätte sich noch ein paar Marotten mehr zugelegt und kam noch eine Zeitlang mit dem Klischee des verwirrten Professors durch. Aber er wurde zunehmend seltsamer. Ich habe so etwas in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Er zeigte die Symptome unterschiedlichster psychischer Störungen.
Das eine Mal hatte er Wahnvorstellungen, das andere Mal war er depressiv, dann unterhielt er sich mit Stimmen in seinem Kopf. Einmal war er autistisch, verkroch sich in eine heile Welt und rastete förmlich aus, wenn auch nur ein Gegenstand in seinem Zimmer im falschen Winkel lag. Später wurde er aggressiv und obszön und zertrümmerte das Mobiliar. Manchmal setzte sein Erinnerungsvermögen vollständig aus und er erfand abstruse Geschichten. Er konnte sich dann teilweise nicht mehr an Dinge erinnern, die nur zwei Minuten her waren. Später fiel ihm wieder alles ein. Einmal saß er in der Kantine vor seinem Essen und begriff nicht mehr, was er vor sich auf dem Tisch stehen hatte und wozu es gut sein sollte. Er zeigte Symptome von Parkinson, Alzheimer, Demenz, Schizophrenie, Autismus. All seine Sinneswahrnehmungen waren gestört.
Zwischendurch aber war er wieder vollständig normal. Ein gesunder Mensch, mit dem man ein aufgeschlossenes Gespräch führen konnte. Das Merkwürdigste war jedoch, dass wir nichts feststellen konnten. All diese Krankheiten sind auf Fehlfunktionen des Gehirns zurückzuführen. Jeder Teil dieses Organs übernimmt bestimmte Funktionen für die Wahrnehmung oder Steuerung unseres Körpers. Zusätzlich gibt es verschiedene Botenstoffe, die ganz bestimmte Aufgaben übernehmen. Bei einem gesunden Menschen sind sie im Gleichgewicht. Bei psychisch gestörten Personen sind entweder Teile des Gehirns geschädigt, beziehungsweise verändert oder aber das Gleichgewicht der Botenstoffe mit den entsprechenden Rezeptoren ist gestört. Bei Takeda traten zwar alle Symptome auf, aber die unterschiedlichen Krankheitsbilder hätten sich als Fehlfunktionen gegenseitig widersprochen. So bewirkt zum Beispiel ein Mangel des Neurotransmitters Dopamin eine Bewegungsarmut, wie sie für Parkinson typisch ist. Dies widerspricht aber eklatant seinen aggressiven Schüben.«
»Ich würde erwarten, dass sich das Gleichgewicht der Neurotransmitter ständig von einem Extrem ins andere verschoben hat. Konnte man solche Schwankungen bei ihm nachweisen?«, fragte Sarah.
»Tatsächlich war eine Fehlfunktion überhaupt nicht nachweisbar. Sein Gehirn war sowohl biochemisch als auch physisch vollständig intakt.«
»Vielleicht hat er euch das nur vorgespielt. Aus welchem Grund auch immer«, meinte Shira schließlich.
»Nein das ist unmöglich. Ein guter Schauspieler kann vielleicht eines dieser Krankheitsbilder imitieren und einem ungeschulten Publikum plausibel darstellen. Aber nicht alles zusammen. Außerdem kenne ich zahlreiche Tests, mit deren Hilfe ich einen Betrug sofort entlarven würde.«
Wieder versanken alle in nachdenkliches Schweigen. Dalberg verschwand wieder in den Tiefen seines Sessels und Shira kreiste unbeirrt durchs Zimmer. Dieses Mal war es Sarah, die den Bann der Stille durchbrach: »Vielleicht liegt der ganze Fall ja ganz anders, als wir es bisher betrachtet haben. Hat jemand von euch damals den Film ›Der Exorzist‹ gesehen?«
Shira schien gegen eine Wand gelaufen zu sein, während Dalberg wie eine Sprungfeder aus seinem Sitz schnellte.