Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 6
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ОглавлениеSarah Winter legte die letzte Akte auf ihrem Schreibtisch ab und drehte sich zum Fenster. Sie saß in ihrem neuen Büro und genoss die herrliche Aussicht auf die Berge, die sie an diesem klaren Tag in der Ferne ausmachen konnte. Das Gebäude befand sich, eingerahmt von einem kleinen Park, inmitten der herrlichsten Natur, inmitten von Wäldern und Wiesen. Gestern konnte sie von ihrem Bürofenster aus sogar weidende Hirsche in der Nähe beobachten. Sie genoss diesen angenehmen Arbeitsplatz, so fern der hektischen Betriebsamkeit in der Stadt, wo sie ihre Eheberatungs-Praxis aufgegeben hat. Der Ort war eine Idylle mit dem malerischen Namen Belvedere. Zumindest täuschte er eine Idylle vor, denn zwischen der Parkanlage und der Freiheit der Wiesen und Wälder befand sich ein hoher Zaun, der das unbefugte Verlassen des Anwesens verhinderte. Sarah hatte die Stelle auf das Drängen ihrer Kinder angenommen, die erkannten, dass ihr nach der Scheidung von ihrem Mann ein neues Ziel wieder Kraft geben würde. Nachdem die Kinder nun recht selbstständig waren, ist die Ehe zur Routine geworden, wie in so vielen Fällen – ironischerweise auch in ihrem Fall. Sie hatten sich in Frieden getrennt und alles schien zunächst nur positive Seiten zu haben. Mit der Zeit fühlte sie sich jedoch einsam. Erik hatte wieder geheiratet. Nicht, dass Sarah eifersüchtig war, aber sie erkannte, was sie durch die Scheidung verloren hatte und sehnte sich nach einer neuen Beziehung, die sich aber nicht einstellen wollte. Vielleicht waren ihre Ansprüche zu hoch, aber an jedem verfügbaren Kandidaten hatte sie irgendetwas auszusetzen. Entweder waren sie ihr intellektuell zu flach geraten oder sie waren intelligent, aber vollkommen uninteressant und nicht in der Lage auf die Bedürfnisse einer Frau einzugehen oder sie waren einfach hässlich. Offensichtlich gibt es ein Alter um die dreißig herum, in dem die Natur eine Auslese der Männer vornimmt. Die eine Sorte, wahrscheinlich die Mehrheit, bekommt einen beträchtlichen Leibesumfang oder verliert die Pracht ihrer Haare oder gar beides und wird mit wachsendem Alter immer unansehnlicher. Die andere Sorte jedoch behält einen sportlichen Körperbau, verliert die Haare nicht, bekommt höchstens graue Schläfen und wird mit steigendem Alter immer charmanter, interessanter und begehrenswerter. Diese Sorte ist jedoch selten und gehörte bisher nicht zu Sarahs neuen Verehrern.
Das wiederum war äußerst unverständlich, denn Sarah war noch immer sehr attraktiv zu nennen und könnte leicht jüngere Konkurrentinnen ausstechen. Vielleicht aber war es gerade ihr Beruf, der die Männer abschreckte. Denn wer lässt sich gerne mit einer Frau ein, die es sich als zur Aufgabe gemacht hat, die Psyche von Männern zu analysieren. Wer möchte gerne unter dem Deckmantel einer Partnerschaft sein Inneres nach außen gekehrt bekommen.
Sie war gerade wieder im Strudel dieser zermürbenden Gedanken versunken, als das Telefon läutete.
Es war Roman Dalberg, ihr neuer Chef. Er war ein Freund aus alten Tagen, als sie noch mit Erik verheiratet war. Sie hatte geglaubt, ihn aus den Augen verloren zu haben, bis er überraschend anrief um ihr die Stelle anzubieten, da er sie für die passende Besetzung hielt.
»Hallo Sarah, wie geht es dir? Hast du dich schon in die Patienten-Akten eingelesen? Ich würde gerne mal einen Rundgang durch die Klinik machen, um dir alle Patienten einmal persönlich vorzustellen.«
»Hallo Roman«, erwiderte Sarah. »Du verblüffst mich mit dem Zeitpunkt deines Anrufs, denn ich habe tatsächlich gerade die letzte Akte hinter mich gebracht.«
»Dann komm einfach in mein Büro und lass uns sofort damit beginnen. Bis gleich.« Sarah Winter zog den weißen Kittel an, der sie eindeutig als Angehörige des Personals auswies und verließ das Büro, nicht ohne noch einmal sehnsüchtig in die Ferne zu schauen.
*
Roman empfing sie mit einem warmherzigen Lächeln. »Na, was sagst du? Bereust du deine Entscheidung oder denkst du, dass es ein Schritt in die richtige Richtung war?«
»Nun, bis jetzt habe ich nur ein wenig Akteneinsicht genommen, aber ich glaube, dass es eine sehr interessante Arbeit werden wird und ich freue mich darauf. Außerdem tut es richtig gut hier draußen, ohne die ständige Hektik der Stadt im Hintergrund zu fühlen. Die Zeit scheint hier langsamer und ruhiger zu fließen.«
»Ja, das ist sicher der Fall. Gerade für unsere Patienten ist das extrem wichtig. Sie lassen sich leicht aus der Ruhe bringen, aber hier gibt es keine nennenswerte Aufregung. Ein idealer Ort also für unsere Klinik.«
Dalberg deutete zur Tür und schloss: »Dann lass uns zur Tat schreiten. Ich werde dir Belvedere und seine Gäste vorstellen.«
Sie verließen das Büro und gelangten über eine nahe liegende Treppe ins Erdgeschoss, wo sich der größte Teil des Gebäudekomplexes erstreckte. Über einen ganz in Pastellfarben gehaltenen Gemeinschaftsraum erreichte man einen Flur, in dem die Schlafräume der Patienten lagen. »Wir haben absichtlich eine Farbwahl getroffen, die aufregende Kontraste vermeidet«, meinte Dalberg, der mit einer ausladenden Geste die gesamten Räumlichkeiten mit einschloss. Er bewegte sich langsam auf eine Frau zu, die auf einem zartblauen Sofa saß und in die Lektüre einer Zeitschrift versunken war. Als sie näher kamen, bemerkte sie die Frau und blickte ihnen freundlich und erwartungsvoll entgegen. »Hallo Nora, wie geht es dir? Alles ruhig heute?«
Nora antwortete, während sie neugierig auf Sarah blickte: »Danke Dr. Dalberg. Heute ist ein wundervoller Tag. Ich glaube, dass das Medikament langsam zu wirken scheint. Noch keine Musik, seit ich aufgestanden bin. Großartig.«
»Darf ich dir unsere neue Mitarbeiterin Sarah Winter vorstellen. Sie wird mich in Zukunft bei der therapeutischen Betreuung entlasten, so dass mir etwas mehr Zeit für meine Forschungsaufgaben bleibt.«
Nora, eine hübsche junge Frau von etwa zwanzig Jahren, gab Sarah artig die Hand und lächelte, erwiderte aber nichts und vertiefte sich sofort wieder in die Zeitschrift. Als sie weitergegangen waren, sagte Dalberg zu Sarah: »Es handelt sich bei Nora Andrews um eine Patientin, die unentwegt Musik hörte, ohne dass es wirklich Geräusche in ihrer Umgebung gab. Teilweise so laut, dass sie kein Gespräch mehr führen konnte. Sie war so stark beeinträchtigt, dass ein Leben außerhalb der Klinik unmöglich gewesen wäre.«
»Ja, ich erinnere mich jetzt, was in der Akte stand« erwiderte Sarah. »Sie hörte immerzu einen monotonen Rhythmus. Dazu Gesang von einer unangenehm, fast schmerzhaft hohen Stimme, ohne dass es irgendeine sinnvolle Textzeile enthielt. Seltsam.«
»Ja, das ist es. Aber dies ist wohl die verbreitetste Form von Halluzinationen, bei der die Menschen Musik hören oder auch Stimmen. Im einfachsten Fall handelt es sich um Tinitus-Geräusche, also ein Piepsen im Ohr. Wir haben es hier mit einer kortikalen Aktivität zu tun. Man könnte es auch eine musikalische Epilepsie nennen, bei der eine bestimmte Stelle der Hirnrinde angeregt wird. Bereits Wilder Penfield hat bei zahlreichen Versuchen durch Stimulation der Hirnrinde von Patienten mit ähnlichen Symptomen an unterschiedlichen Stellen die verschiedensten auditiven Reaktionen hervorrufen können.« Dalberg räusperte sich kurz, als habe er selbst bemerkt, dass er unbewusst zu dozieren begonnen hatte. »Ich habe Nora krampflösende Mittel verabreicht, die offensichtlich die Halluzinationen zum Verstummen bringen. Sie wird die Klinik bald verlassen können.«
Der nächste Patient, den sie aufsuchten, war Robert Donovan, ein etwa vierzigjähriger abgemagerter Mann, der sich unter seinem Bett versteckte, als sie angeklopft und die Tür geöffnet hatten. »Sie sind schon wieder drin!«, rief er voller Ärger. »Helfen Sie mir, sie aus dem Schrank herauszuholen Dr. Dalberg.« Er bedachte Sarah mit einem ängstlichen Blick und fragte: »Wer ist die denn? Ist sie eine von denen?«
Dalberg beruhigte ihn und band Sarah gleich geschickt mit ein: »Nein Robert, sie ist auf unserer Seite und wird uns in Zukunft helfen, die Chiopteren fernzuhalten. Nicht wahr Sarah?« Sarah wusste nicht so recht, wie ihr geschah, wusste auch nicht wirklich, was ›Chiopteren‹ sein sollte, nickte aber eifrig und versuchte, einen zuversichtlichen Blick an den Tag zu legen. In der Zwischenzeit hatte sich Dalberg an den Schrank herangepirscht und öffnete ihn langsam, aber ohne zu zögern. »Sind sie noch drin?«, fragte Donovan hoffnungsvoll. »Du weißt doch, dass ich sie nicht sehen kann, Robert. Nur du kannst nachschauen, ob sie noch drin sind.« Donovan kroch unter dem Bett hervor und lugte vorsichtig um die Schranktür. Er schrie auf und raufte seine Haare, die danach in alle Richtungen standen, so dass er selbst aussah wie ein wildgewordener Kobold. »Da sind sie noch! Drei Kerle sind da drin und grinsen mich unverschämt an. Wirf sie raus Dr. Dalberg. Wirf Sie raus!«
Dalberg schlug den Schrank wieder zu und verriegelte anschließend die Tür. »Da ich sie nicht sehen kann«, meinte er, »werde ich sie auch nicht erwischen. Aber jetzt sind sie im Schrank eingesperrt und können nicht mehr raus. Wir werden den Schrank nach draußen bringen. Dann bist du sie los. Was hältst du davon Robert?«
»Gute Idee!«, rief Donovan und schlug zur Bestätigung mit der Faust auf den Tisch, dass der ganze Raum erbebte. Dalberg drückte auf einen Schalter und Sekunden später erschien ein Mitarbeiter. Ein kurzer Blick auf den Schrank und die Tür genügten. Als der Schrank draußen war, blickte Donovan dankbar zu Dalberg. »Denen haben Sie’s aber mal wieder gezeigt. Danke Dr. Dalberg.« Er ließ sich geräuschvoll auf sein Bett fallen und wirkte völlig entspannt.
Draußen erklärte Dalberg: »Bei Robert Donovan handelt es sich um einen ausgeprägten Fall von Schizophrenie mit visuellen Halluzinationen. Er nimmt Wesen in seiner Umgebung wahr, die andere einfach nicht sehen können. Häufig wird er von ihnen geärgert. Dann entstehen Situationen wie eben. Man kann ihm aber kein Theater vorspielen. Wenn ich so getan hätte, als ob ich sie auch sehen würde, dann hätte er das sofort gemerkt. Für ihn sind die Wesen genauso real vorhanden wie du und ich und sie spielen ihm auch reale Streiche. Die einzige Methode damit umzugehen ist die beiderseitige Anerkennung des Problems. Er sieht etwas und akzeptiert, dass ich es nicht sehe. Ich akzeptiere, dass er etwas wahrnehmen kann, was ich wiederum nicht sehe.«
»Was meinst du Roman, kann man ihn irgendwann heilen?«
»Ich bin mir nicht sicher? Man müsste tiefer in seine Welt vordringen, um das entscheiden zu können. Er ist jedoch noch einer der harmloseren Fälle.« Wie zur Bestätigung seiner Worte klingelte plötzlich eine Alarmglocke und der Flur war unversehens gefüllt mit weißen Kitteln, die etwas ratlos dreinblickend nach der Ursache für den Alarm suchten. Ein Assistent kam auf Dalberg zugelaufen und berichtete noch völlig außer Atem: »Es ist Takeda, Herr Dalberg. Schrecklich. Sie müssen es sich selbst anschauen.« Dalberg rannte den Flur entlang, während Sarah ihm auf dem Fuß folgte. Vor einer der Türen hatte sich schon eine weiße Kittelwolke gebildet, die sich nun langsam teilte, um Roman Dalberg Zugang zu dem dahinter liegenden Zimmer zu verschaffen. Dalberg blieb wie angewurzelt stehen und schaute entgeistert auf die Szene, die sich ihm bot. Auf dem Boden lag ein Mann mit merkwürdig verkrampfter Haltung.
Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, hatte asiatische Gesichtszüge und trug Jeans, ein einfaches T-Shirt und war barfuß. Seine glasigen Augen starrten zur Tür und in seinem Gesichtsausdruck lag irgendwie noch so etwas wie Erstaunen. Seine linke Hand war leicht geöffnet. Es schien, als sei er aus großer Höhe abgestürzt. Aber das Zimmer hatte eine Deckenhöhe von kaum drei Metern.