Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie tiefliegende Sonne des Spätsommertages tauchte die umliegenden Getreidefelder in ein honigfarbenes Licht. Wie ein warmes, feuchtes Tuch lastete die schwüle Luft schwer auf der Landschaft und nötigte die Grillen zu einem lautstarken Crescendo. Der Asphalt war noch immer heiß genug um die Straße durch zahlreiche Luftspiegelungen trügerisch mit einer kühlen Flüssigkeit zu überziehen, die sich beim Näherkommen in Nichts auflöste; schneller als sie in Wahrheit hätte verdunsten können.
Der Traktor mit dem vollgeladenen Heuwagen kämpfte sich mit quälender Langsamkeit den sanften Hügel hinauf und schob sich, umgeben von einer flirrenden Aura, stampfend und rumpelnd durch die dichte, heiße Luft. Aus entgegengesetzter Richtung näherten sich zwei Fahrzeuge mit angemessener hoher, aber nicht gerade besorgniserregender Geschwindigkeit. Der Traktorfahrer konnte keinen der beiden Personenkraftwagen wahrnehmen. Schon gar nicht akustisch, denn der Lärm seines Diesels erstickte gnadenlos die Durchdringungsversuche anderer Geräusche im Keim. Während der Wagen, der sich frontal näherte, noch immer durch die Hügelkuppe verdeckt wurde, befand sich der zweite noch im breiten Sichtschatten der weit überstehenden Ladung des Anhängers. Ausschließlich das unglückliche Zusammentreffen sämtlicher Voraussetzungen führte schließlich dazu, dass aus einer harmlos erscheinenden Begegnung dreier Fahrzeuge ein groteskes Ballett mit weniger harmlosen Folgen wurde. Der von hinten heraneilende Wagen setzte gerade zum Überholen an, als der Traktorfahrer, der sich noch immer auf einer einsamen Landstraße wähnte, spontan nach links schwenkte, um auf einen schmalen Feldweg abzubiegen. Im selben Moment erreichte der zweite Wagen die Spitze der Kuppe und der Fahrer sah sich plötzlich auf eine Strohwand zurasen, die seine gesamte Fahrspur blockierte. Beide Wagen wurden, wie auf ein geheimes Kommando hin, in perfekter Choreografie herumgerissen um dem Anhänger auszuweichen und im gleichen Sekundenbruchteil durch eine reflexartige Vollbremsung außer Kontrolle gebracht. Es folgte ein nahezu vollendeter Pas de Trois, bei dem der Traktor samt Anhänger die unrühmliche Rolle des fliehenden Schurken übernahm und die beiden Personenwagen sich wie ein tanzendes Liebespaar aufführten. Beide Autos begannen sich sofort im Gegensinn um die jeweils eigene Achse zu drehen, wobei sie sich weiterhin unaufhaltsam aufeinander zu bewegten. Der zwischen ihnen befindliche Anhänger gab exakt in dem Moment den Weg frei, als sich die beiden Flanken der Fahrerseiten theatralisch zu einem finalen Kuss trafen.
Die Rotation hatte den beiden Wagen reichlich Bewegungsenergie genommen; trotzdem war die verbliebene Geschwindigkeit noch viel zu groß um den Fahrern die Chance auf ein glimpfliches Ende einzuräumen. Mit einem dumpfen Knall kamen die beiden Karossen zum Stehen. Der Traktorfahrer rutschte vor Schreck vom Pedal, was den Motor zum langsamen Absaufen veranlasste. Sofort sprang er vom Bock und lief nach hinten um nachzusehen was passiert war. In einer beinahe gespenstisch wirkenden Szene standen die beiden Wagen Tür an Tür in einer rotierenden Staubfahne, die sie eben noch selbst aufgewirbelt hatten. Die beiden Fahrer, ein Mann und eine Frau, lehnten Kopf an Kopf, genau an der Stelle, wo sich die Seitenscheiben befunden hatten. Fast sah es so aus, als hätten sie sich nur für einen kurzen Augenblick aneinandergeschmiegt um sich im nächsten Moment die Benommenheit abzuschütteln, auszusteigen und sich den Schaden zu betrachten. Als der Traktor, der noch immer heftig hustend nachdieselte, mit einem lauten Knall seinen letzten Schnaufer von sich gab, legte sich eine zeitlose Stille über die Landschaft, die erst Minuten später von dem Signalhorn des eilig herbeigerufenen Krankenwagens zerrissen werden sollte. Während der ganzen Zeit, bis der Notarzt an der Unfallstelle eintraf, starrte der Traktorfahrer traumatisiert zu den beiden Verunglückten hinüber und für einen flüchtigen Moment schien sich der Schein eines zarten Lächelns auf das ihm zugewandte Gesicht zu legen.
*
Bereits vom ersten Augenblick an war ihr der Mann sympathisch, ohne dass sie sagen konnte warum. Wie die meisten Frauen bevorzugte sie eher die großen und schlanken, während dieses Exemplar eher klein, wenn auch nicht zu klein und etwas massiger gebaut war - auch wenn man ihn noch nicht dick nennen konnte. Aber irgendetwas faszinierte sie an seiner Erscheinung, wie er so dastand und sich suchend umblickte. Vielleicht waren es diese schmalen, geheimnisvollen, fast schwarzen Augen mit denen er das Restaurant systematisch abrasterte. Nachdem er vom Eingang aus nicht das fand, wonach er so intensiv Ausschau hielt, setzte er sich in Bewegung, um auch die versteckten Nischen zu inspizieren. Sie konnte nicht umhin, ihm mit ihren Blicken zu folgen. Er war mit einem dunklen, perfekt geschneiderten Anzug bekleidet, der seine überaus gepflegte Erscheinung abrundete. Über dem Arm trug er - fein säuberlich zusammengelegt - einen grauen Trenchcoat. Schnell wurde ihr klar, dass er nicht nach einer Person suchte, mit der er hätte verabredet sein können, sondern lediglich auf einen freien Tisch hoffte, an dem er sich niederlassen konnte. Als er, mit einem gefassten, aber deutlich spürbar enttäuschten Gesichtsausdruck den Rückzug antreten musste, weil alle Tische entweder besetzt oder reserviert waren, winkte sie ihm zu und lud ihn mit einer eindeutigen Geste dazu ein, auf dem freien Stuhl an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Für einen kurzen Moment, der nur einen Sekundenbruchteil andauerte, schien er die Frau zu taxieren, bedankte sich aber dann doch nonchalant und nahm den letzten freien Platz dankbar in Beschlag. Es dauerte nicht lange, da fand er sich in ein amüsantes Gespräch mit ihr versponnen. Sie war sehr redselig und schien ein großes Mitteilungsbedürfnis zu verspüren und er, eher von der ruhigen Sorte, schien die Kurzweil offenbar sehr zu genießen. Nach zwei Gläschen Rotwein hatte auch seine Zunge sich etwas mehr gelockert. Im Gegensatz zu einigen Gästen, die manchmal etwas genervt zu ihnen herübersahen, schien es ihm überhaupt nichts auszumachen, dass sie sich keine besondere Mühe gab, ihre Lautstärke zu dämpfen. Auch als sie ihm gestand, psychisch krank zu sein, distanzierte er sich mit keiner Geste von ihrer Gesellschaft und zeigte, im Gegenteil dazu, noch Verständnis und konnte mit einem gewissen Maß an Fachkenntnis sogar das Gespräch darüber vertiefen. Sie erklärte ihm, seit einigen Jahren schizophrene Schübe zu haben und dass sie Rita heiße und jetzt achtunddreißig Jahre alt sei. Die Krankheit habe sich aber bereits in ihrer Jugend durch starke Depressionen angekündigt. Sie sei in der Klinik, ganz in der Nähe, untergebracht, könne sich aber sonst völlig frei bewegen. Sie sprach ganz offen von ihrer Krankheit und erklärte ihm auch die Art ihrer Therapierung, was man in den Sitzungen bespreche und erzählte von der netten Psychologin, die sie betreute. Auch der Mann stellte sich jetzt vor und sagte ihr, er sei zufällig Pharmareferent und auf der Durchreise, weil er an einem Kongress teilnehme, der noch die ganze Woche andauere. Dann erzählte er ihr von neu auf den Markt kommenden Psychopharmaka, die sich allerdings noch in der Testphase befänden, mit denen es möglich sei, jede Art von schizophrener Erkrankung, nicht nur wie bisher zu unterdrücken, sondern gezielt und dauerhaft zu heilen. Sie war natürlich sofort interessiert und so ließ er sich, wenn auch zunächst noch mit Widerstand, dazu überreden, ihr die geeigneten Präparate mitzubringen. Um sicherzugehen, auch die richtigen Medikamente anzuwenden, ließ er sich von ihr das exakte Krankheitsbild schildern. Dann setzten sie ihre Unterhaltung, mit ganz anderen Themen, noch eine Weile fort, um sich schließlich für den nächsten Abend wieder hier zu verabreden.
Am nächsten Abend musste Rita, die sich wieder an denselben Tisch gesetzt hatte und ihr hübschestes Kleid mit dem bunten Rosenmuster trug, das ihr Dekolleté leicht überbetonte, nicht lange auf ihre Verabredung warten. Heute trug der Mann, aufgrund der angenehmeren Witterung, keinen Trenchcoat über dem Arm. Stattdessen hatte er einen kleinen Aktenkoffer in der Hand, den er behutsam neben sich abstellte. Er begrüßte sie förmlich und wirkte zunächst etwas steif, was Rita amüsant fand, brachte sich aber diesmal stärker in die Unterhaltung ein und bald schien es, als ob es den Tag zwischen den beiden Abenden gar nicht gegeben hätte. Kurz vor Mitternacht - sie waren inzwischen fast die letzten Gäste, die sich nach dem Bezahlen noch an einem Glas Wein festhielten - übergab er ihr fast feierlich ein Fläschchen. Es hatte einem Sprühkopf unter dem verschraubten Deckel und eine Aufschrift aus Asiatischen Zeichen, die sie nicht lesen konnte. Sie war jedoch mehr darüber erstaunt, dass es sich nicht um Tabletten handelte, akzeptierte aber schnell seine überzeugenden Erklärungen zu der Verabreichungsform durch Inhalation. Es sei vollkommen ohne Risiko und im schlimmsten Fall würde einfach die Wirkung ausbleiben, was er aber sicher nicht annehme. Sie wollte ihm die Kosten für das Medikament erstatten, aber er winkte ab und erklärte, es handele sich um ein kostenfreies Testpräparat des Pharmakonzerns. Der spätere Preis läge jetzt sowieso noch nicht fest und wenn doch, dann sei es ihm trotzdem eine Freude ihr die Probe zu schenken, schließlich verdanke er ihr zwei recht kurzweilige Abende, die er immer in seinem Gedächtnis behalten würde. Sie solle im Übrigen das Präparat möglichst morgen früh schon einnehmen, denn die Wirkung stelle sich rasch ein und sie könne sicherlich ihre Therapeutin bald durch die ersten Erfolge beeindrucken. Er empfahl ihr jeweils einen Druckstoß in die Nase und einen in den Rachen zu verabreichen und erklärte ihr, dass sie nach einigen Stunden ein heftiges Verlangen nach Wasser haben würde, dem sie dringend nachgeben sollte, egal wie viel ihr Körper auch fordere. Der Zustand würde rasch vorübergehen. Morgen sei übrigens der letzte Tag des Kongresses und er müsse übermorgen früh wieder abreisen. Deshalb verabredeten sie sich noch einmal für den kommenden Abend. Aber am folgenden Abend tauchte der Mann nicht mehr in dem Restaurant auf. Und auch Rita kam nicht mehr. An diesem Abend war Rita bereits tot.