Читать книгу Hüte dich vor den wilden Tieren - Valérian Vandyke - Страница 14
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ОглавлениеSarah war auf dem Weg zur Klinik. Dieses Mal aber träumte sie nicht. Es regnete mittlerweile, als ob sich der Ozean über das Land ergießen wollte. Das Prasseln der Wassertropfen auf dem Autodach war so laut, dass es keinen Sinn hatte das Radio noch weiter aufzudrehen, da man ohnehin nichts mehr von der Musik hören konnte. Sogar auf höchster Stufe hatten die Scheibenwischer nicht die geringste Chance für klare Sicht zu sorgen. Zähflüssige Schlieren strömten die Scheiben hinab, und verzerrten die Sicht auf die Straße, von der man kaum zwei Wagenlängen voraus erkennen konnte. Der Wagen bildete ein zerbrechlich wirkendes, in sich geschlossenes aber trockenes Universum; ein winziges Unterseeboot, das sich tapfer aber unaufhaltsam die gewundene Landstraße auf dem Grund des Regenmeeres entlang schob, um irgendwann die trockene Insel zu erreichen.
Sarah beugte sich unbewusst nach vorn, obwohl ihr völlig klar war, dass sie auf diese Weise auch nicht weiter blicken konnte. Trotz der sehr niedrigen Geschwindigkeit war das Fahren unter diesen Umständen sehr anstrengend und erforderte ihre volle Konzentration. Daher war es kein Wunder, dass sie beinahe die Gestalt übersehen hätte, die sich plötzlich aus dem Regenvorhang schälte und leicht unbeholfen wirkend durch die Pfützen stapfte. Halb auf der Fahrbahn – auf dem unbefestigten Fußweg wäre man wohl knöcheltief im Matsch versunken – war es bei diesen Sichtverhältnissen ein Spiel mit dem Leben sich hier entlang zu wagen. Sie bremste noch weiter ab, um der Gestalt sicher ausweichen zu können. Als sie auf gleicher Höhe waren blickte sie aus dem Seitenfenster – und glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
Die Gestalt entpuppte sich als Robert Donovan, der sich mit gehetztem Blick seinen Weg durch die unwirtliche Regenwelt bahnte, scheinbar auf dem Weg zurück in die Klinik. Sarah blieb neben ihm stehen und ließ die Seitenscheibe einen schmalen Spalt herunterfahren und rief so laut sie konnte nach draußen: »Robert! Kommen Sie zu mir in den Wagen. Ich fahre in die Klinik und nehme sie mit.«
Donovan, der seinen Kopf mit einer Wolldecke aus der Klinik geschützt hatte, die jetzt natürlich völlig durchnässt war, drehte den Kopf und sein Gemüt hellte sich augenblicklich auf. Er riss die Beifahrertür auf und ließ sich mit einem lauten Platschen auf den Sitz fallen, bevor er rasch die Tür hinter sich zuschlug. Sarah blickte entsetzt auf den durchnässten Sitz und auf die gewaltige Pfütze, die sich auf dem Wagenboden ausbreitete. Donovan sah den Schlamassel ebenfalls und erwiderte schuldbewusst Sarahs Blick.
»Schon gut«, versuchte sie ihn nun zu beruhigen. »Das trocknet schon wieder.«
Als sie den Weg fortgesetzt hatte fragte sie ihren nassen Passagier: »Was haben Sie eigentlich bei diesem Wetter auf der Straße gemacht? Für einen Morgenspaziergang wäre es mir eindeutig zu feucht da draußen.«
»Ich bin vom Regen überrascht worden. Ich konnte nicht besonders gut schlafen heute Nacht und habe mir die Beine ein wenig vertreten.«
Sarah wusste, dass es schon die ganze Nacht geregnet hatte. Donovan sagte also nicht die Wahrheit, aber sie ging nicht direkt darauf ein. Vielmehr stimmte sie mit ein und meinte: »Ja, das kann ich gut nachempfinden. Ich habe heute Nacht auch nicht schlafen können.«
Damit hatte sie zu erkennen gegeben, zumindest darüber Bescheid zu wissen, dass der Regen nicht überraschend gekommen war, ohne ihm direkt zu widersprechen. Donovan, der die ganze Zeit zur Seitenscheibe hinausblickte, konnte die Andeutung eines verschämten Grinsens nicht unterdrücken.
»Wussten Sie eigentlich, dass ich nachts keine Halluzinationen habe?«, fragte er daraufhin. Ihm war klar geworden, dass Sarah ihm keinen rechten Glauben schenkte.
»Das ist wirklich ungewöhnlich«, meinte sie nur. »Was ist nachts anders als am Tag. Ich meine, Ihr Gehirn ist zu jeder Uhrzeit dasselbe, oder?«
»Ich kann es mir eigentlich auch nicht erklären, aber ich kann mich nicht daran erinnern, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang jemals halluziniert zu haben. Mittlerweile kann ich häufig an der Reaktion anderer erkennen, ob ich mir etwas oder jemanden nur einbilde, oder nicht.«
»Erstaunlich«, sagte Sarah nur noch. Dann konzentrierte sie sich auf die steile Einfahrt zur Klinik und parkte den Wagen dicht am Eingang, um sich dem Regen möglichst wenig preiszugeben.
*
Als sie trotz der Kürze des Weges durch den Regen völlig durchnässt in der Klinik angekommen war, suchte Sarah zunächst Zuflucht in ihrem Büro. In der Schublade ihres Schreibtischs verwahrte sie eine Kopie des Polizeiberichts über den Fall Takeda auf, der neben einer schriftlichen Abhandlung auch Fotos enthielt. Diese Fotos hatte sie auch Marc gezeigt, als er sie um die Liste von Fakten gebeten hatte.
Ein Punkt auf dieser Liste war mit ihrer Erinnerung absolut nicht in Einklang zu bringen und darum wollte sie sich das entsprechende Foto noch einmal genauer ansehen. Da sie Marcs Beobachtungsgabe und seinen Sinn für Details kannte, zweifelte sie keinen Augenblick an seiner Notiz.
Und tatsächlich. Takeda trug auf dem Polizeifoto Schuhe. Es waren weiße, ziemlich abgetragene Turnschuhe. In ihrer Erinnerung jedoch war der Mann barfuß. Sie war sich dessen sehr sicher, da ihr eine kleine Tätowierung auf dem Spann des linken Fußes aufgefallen war, die ein chinesisches Zeichen zeigte. Auf diesem Foto lag Takeda in der gleichen verkrümmten Haltung auf dem Fußboden, die sie in ihrem Gedächtnis behalten hatte, aber der linke Fuß, ebenso wie der rechte waren aufgrund der Schuhe nicht zu sehen. Genau diese Turnschuhe hatte Marc auf der Liste erwähnt, deren Kopie Sarah in der Nacht noch einmal betrachtet hatte. Was hatte das wohl zu bedeuten? Sarah konnte sich keinen Reim darauf machen. Draußen schien der Regen kein Ende zu nehmen. Das Licht des neuen Tages hatte kaum eine Chance die Wand aus dicht gewobenen Wasserfäden zu durchdringen. Eigentlich hätte sie die Deckenbeleuchtung einschalten können, aber sie liebte es im gemütlichen Halbdunkel der nur schwachen Schreibtischbeleuchtung zu arbeiten. Als sie sich, noch immer in Gedanken versunken, auf ihrem Stuhl herumdrehte und zum Fenster hinüberblickte, entdeckte sie, dass der Unbekannte eine weitere Botschaft hinterlassen hatte. Dieses Mal hatte er, oder vielleicht war es ja auch eine Sie, ein größeres Blatt beschrieben und mit einem Klebestreifen an das Fenster geheftet. Sarah ging zum Fenster und ergriff das Dokument, nicht ohne sich noch einmal in alle Richtungen umzuschauen, falls der Verfasser noch irgendwo im Raum war. Aber da war niemand. Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, während sie begann die Nachricht zu lesen.
»Was bist du? Was macht dich zu dem was du bist? Es ist deine Wahrnehmung und die Erinnerung an Wahrgenommenes. Ständiges Wahrnehmen verändert die Struktur deines Gehirns, bis das Gehirn ein getreues Abbild dieser Wahrnehmung geworden ist. Bewegst du deinen Arm und zeigst mit dem Finger auf deine Brust, dann wird ein Teil deines Gehirns aktiv, der das exakte Abbild dieser Bewegung ist. Schon wenn du nur daran denkst es zu tun, wird dieser Teil des Gehirns aktiv. Wenn du etwas siehst, dann prägen sich die Muster auf der Netzhaut in die Sehrinde ein und du kannst dieses Muster später verwenden um neue und alte Eindrücke miteinander zu vergleichen. Immerfort strömen über all deine Sinne Informationen ein, die dein Gehirn und damit auch dich selbst ständig verändern. Du siehst dich selbst als isoliertes Individuum, das mit Kamera und Mikrofon die Welt erfährt, aber das bist du nicht. Du bist ein Teil dieser Welt und diese Welt ist in dir. Durch deine Handlungen aber veränderst Du die Welt; du prägst sie durch deinen Willen. Ihr seid ein und dasselbe, du und die Welt. So lebt ihr also in harmonischer Symbiose und durchdringt euch gegenseitig wie das Salz und die Suppe. Aber diese Harmonie kann auch gestört werden. Hüte dich vor den wilden Tieren.«
Sarah konnte es nicht fassen. Irgendjemand versuchte sie zu belehren und ihr seine Theorien über die Wahrnehmung unterzuschieben. Warum hatte er gerade sie ausgesucht und welches Ziel verfolgte er. Er, oder sie! Vielleicht war es ja auch eine Frau; die wunderschöne Handschrift ließ diesen Schluss durchaus zu. Ihr Gefühl sagte ihr aber, dass der Verfasser männlich war, ohne dies im Besonderen begründen zu können. War es jemand der wusste, dass sie sich um die Aufklärung der Todesfälle bemühte und ihr versteckte Hinweise geben wollte? Oder wollte sich jemand nur aufspielen, um sie zu beeindrucken? Tatsache aber war, dass er ein feines Gespür für den geeigneten Augenblick zu haben schien, denn gerade heute hatte sie diese Unstimmigkeit ihrer eigenen Beobachtungen mit der offensichtlichen Tatsache auf dem Foto zur Kenntnis nehmen müssen. Sarah beschloss die Botschaften, zumindest für diesen Moment zu ignorieren, auch wenn sie zugeben musste, dass sie deren Inhalt ebenso interessierte wie die Frage nach dem Verfasser. Aber alles zu seiner Zeit. Sie legte den Zettel zu der ersten Botschaft in ihre Schreitischschublade und schloss sie wie gewohnt ab. »Was meint er wohl mit: ›Hüte dich vor den wilden Tieren‹ «, überlegte sie noch, als sie sich schon auf dem Weg zu der täglichen Arbeitsbesprechung bei Roman Dalberg befand.