Читать книгу Verdächtige Stille - Veronika Wetzig - Страница 11
Samstag, 29. Oktober, 23:29 Uhr
ОглавлениеBen durchfährt den Ortseingang und muss feststellen, dass der Sturm auch hier nicht weniger wirkungsvoll gewütet hat. Nur noch vereinzelt leuchten Straßenlaternen, die vermutlich durch Notstromaggregate versorgt werden. Das erste Haus, an dem Ben vorbeifährt, lädt nicht gerade zum Verweilen ein. In dem einst so liebevoll angelegten Vorgarten verteilt sich der Müll einer umgekippten Mülltonne, abgebrochene Äste und eine umherfliegende Plastikplane vervollständigen das Bild. Ein Fensterladen ist aus den Angeln gerissen und schlägt unkontrolliert an die Scheibe, als wolle er sie einem Dauertest unterziehen. Dunkelheit umhüllt das Haus. Wahrscheinlich waren die Bewohner am Abend zuvor unterwegs als sie von dem Sturm überrascht wurden und haben sich kurzfristig dazu entschlossen abzuwarten, bis sich das Wetter einigermaßen wieder beruhigt hat, bevor sie den Heimweg antreten. Das volle Ausmaß der Schäden werden sie dann wohl erst am nächsten Morgen zu Gesicht bekommen.
Langsam fährt Ben weiter die Straße entlang bis er schließlich ein Hinweisschild mit der Aufschrift Route 66 – open 24 hours entdeckt. Darunter ist ein dicker Wirt mit einem Bierkrug in der Hand abgebildet.
Erstaunlich, wie schnell sich der hübsche Ort in eine Art Geisterstadt entwickelt hat. Auf der Straße ist niemand zu sehen und Ben hofft inständig, dass sich zumindest ein paar einsame Seelen in die Bar geflüchtet haben und diese tatsächlich geöffnet hat. Er fährt um die nächste Ecke. Hier sollte eigentlich schon die Leuchtreklame zu sehen sein, doch alles liegt im Dunkeln. Was soll er nur machen, wenn tatsächlich niemand dort ist? Bleibt nur zu hoffen, dass auch dort zumindest ein Notstromaggregat läuft oder der Wirt wenigstens ein paar Kerzen vorrätig hat.
Ben fährt direkt auf die Bar zu und beim Näherkommen erkennt er unter dem Dachvorbau drei aufgemotzte Harleys. Er parkt den Wagen auf dem Parkplatz neben der Bar, steigt aus, überprüft noch einmal, ob er das Foto von Marie dabei hat und macht sich auf den Weg zum Eingang.
Als er an den drei Harleys vorbeikommt, erkennt er, dass die Fenster zur Straße hin mit schwarzer Farbe übermalt wurden, so dass man tatsächlich meinen könnte, vor verschlossenen Türen zu stehen. Beim Näherkommen bemerkt er jedoch einige Stellen, an denen vereinzelt Licht durch die schmalen Ritzen nach draußen dringt. Dumpfe Bassklänge gefolgt von hämmerndem E-Gitarren-Sound dringen ihm aus dem Inneren entgegen. Na Super!, denkt er sich und atmet noch einmal tief durch.
Vielleicht nicht unbedingt ein Ort, wo Marie einkehren würde, aber egal, irgendwo musste er ja anfangen.
Die Tür öffnet sich nur schwer unter seinem Druck. Er muss sich mit dem gesamten Oberkörper fest dagegenstemmen und sobald der Spalt ihm breit genug erscheint, huscht Ben hindurch. Dröhnend fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Vor ihm ist es jetzt fast noch dunkler als eben noch auf der Straße. Er braucht einen Moment, um sich zu orientieren. Dann ertastet er den schweren Samtvorhang, der den kleinen Eingangsbereich von der Bar trennt. Ben wühlt in den Stoffen bis er endlich die Öffnung findet. Er schlägt den Vorhang zurück und betritt den Raum.
Sofort umhüllt ihn beißender Zigarettenqualm und laute Rockmusik dröhnt ihm entgegen. Ben steht am Eingang und versucht sich einen Eindruck von dem Laden zu verschaffen. Zu seiner Linken stehen wahllos Tische und Stühle durcheinander, zu seiner Rechten befinden sich kleine Nischen und ein Billardtisch. Ihm gegenüber erstreckt sich ein langer Tresen aus dunklem Holz, hinter dem der Wirt Gläser poliert. Mehrere Männer in kurzärmeligen Lederwesten, mit langen Haaren und wilden Tätowierungen stehen an der Bar und unterhalten sich lautstark. Bei ihrem Anblick zuckt er unweigerlich zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen. Die Musik verstummt und plötzlich sind alle Blicke auf ihn gerichtet.
Ben merkt, wie ihm das Blut in den Kopf schießt. In diesem Moment ist er dankbar für das schummrige Licht und ringt sich ein schiefes Grinsen ab.
„Mensch, das ist vielleicht ein Wetter da draußen!“
Die Kerle glotzen immer noch. Ben entschließt sich, zunächst nicht zu viel Wirbel zu machen. Er lässt sich lässig auf einen der Barhocker fallen, winkt den Wirt heran und bestellt ein Bier. Sein Plan scheint aufzugehen. Langsam verlieren die Männer das Interesse und wenden sich wieder ihren Gesprächen zu. Ben atmet erleichtert aus. Erst jetzt merkt er, dass jeder Muskel in seinem Körper zum Zerreißen gespannt ist. Er versucht sich zu entspannen und nippt an seinem Bier. Dabei lässt er den Blick unauffällig über die anderen Gäste schweifen. Die Biker scheinen die einzigen hier zu sein. Zwar kann er die Nischen am Billardtisch von hier aus nicht alle einsehen, aber wer sollte sich in eine so schummerige Ecke setzen? Das Licht der Bar leuchtet gerade mal den Bereich um den Tresen herum aus. Der Wirt hat sich inzwischen wieder seinen Gläsern gewidmet. Ben beschließt, ihn so unauffällig wie möglich herüberzuwinken und ihn dann nach Marie zu fragen.
Er hebt die Hand Richtung Wirt und dieser kommt gemächlich auf ihn zu.
„Entschuldigung, ich habe da mal eine Frage.“
„Hm?“ Der Wirt konzentriert sich weiter auf seine Gläser.
„Ich bin auf der Suche nach einer Frau.“ Der Wirt verzieht das Gesicht, wobei er seine Augenbrauen fragend anhebt.
Lässig erwidert er: „Sind wir das nicht alle irgendwie?“
„Äh ja, mag sein“, stottert Ben. „Aber ich suche eine ganz bestimmte Frau.“ Ben rutscht ungelenk vom Hocker und kramt umständlich in seiner Hosentasche nach dem Foto von Marie. Es ist jetzt ziemlich zerknittert. Sehnsüchtig fährt er mit den Fingern über das Foto und versucht es wieder glattzustreichen. Vorsichtig schiebt er dem Wirt das Foto entgegen, der es sich mit schiefem Kopf ansieht, während er weiter sein Glas poliert.
„Kennen Sie diese Frau vielleicht?“, versucht es Ben noch einmal.
Der Wirt stößt einen leisen Pfiff aus und Ben schluckt.
„Nicht übel, die Kleine.“ Der Kopf des Wirtes wackelt rhythmisch auf seinen Schultern, die ungefähr so breit sind, wie ein Kleiderschrank.
„Kennen Sie sie? Ist sie vielleicht schon einmal hier gewesen?“, hakt Ben noch einmal vorsichtig nach. Der Wirt hebt den Kopf und sieht Ben direkt in die Augen.
„Tut mir Leid Junge. Aber wenn eine Lady in so einem Outfit in meinem Laden erscheinen würde, würde ich mich mit Sicherheit daran erinnern.“
Ben atmet hörbar aus. Sein ganzer Körper ist noch immer angespannt und seine Hände zittern leicht. Er nimmt einen weiteren Schluck von seinem Bier und versucht es noch einmal.
„Vielleicht erinnern Sie sich ja, wenn Sie sich das Kleid wegdenken?“ Der Wirt verschluckt sich fast an seinem Kaugummi, räuspert sich und betrachtet das Foto erneut.
„Ja, also so gesehen.“ Er macht eine kurze Pause, betrachtet das Foto eingehender und nickt zuversichtlich mit dem Kopf. „So gesehen … dann würde ich sagen … echt scharfe Braut.“
Ben ist entsetzt und reißt ihm empört das Foto aus der Hand. Wütend leert er sein Bier mit einem Schluck.
„Ey Mann, war nur `n Scherz.“ Mitleidig sieht der Wirt Ben an. „Du bist ja echt fertig, Mann. Zeig noch mal her das Foto.“ Zögernd schiebt er es wieder Richtung Wirt.
„Deine Frau?“
„Hm.“
„Also mal im Ernst. Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren in diesem Laden und ich kann mir Gesichter eigentlich echt gut merken. Schon allein wegen der Zechpreller.“ Er betrachtet das Foto noch einmal genauer, schüttelt aber den Kopf. „Ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn ich die Lady hier schon mal gesehen hätte. Die würde schon auffallen zwischen den ganzen Bikern, selbst wenn sie nicht dieses schicke Kleid an hätte.“
Entmutigt sackt Ben auf seinem Stuhl zusammen und lässt enttäuscht den Kopf hängen. Blind greift er nach seinem Bierglas, stellt fest, dass es leer ist, und stellt es gedankenverloren wieder ab.
„Wie kommste denn darauf, dass sie hier gewesen sein soll?“
„Ich habe eine Quittung in ihren Sachen gefunden.“ Der Wirt sieht Ben an als wenn ihm diese Aussage nicht genügen würde und so fährt Ben einfach fort: „War kein Name drauf, aber ich dachte, ich versuch's einfach mal.“
„Quittung?“ Der Wirt sieht Ben erneut fragend an. „Und dann kommste hierher?“ Plötzlich fängt er lauthals an zu lachen. Ben guckt ihn entgeistert an. Langsam neigen sich auch die Köpfe der anderen Biker in ihre Richtung.
„Meinst du nicht, ich habe Besseres zu tun, als den Leuten auch noch `ne Quittung für ihr Bier auszustellen, kurz bevor sie vom Hocker fallen? Am besten noch zum Absetzen bei der Steuer.“ Der Wirt lacht laut weiter und haut sich dabei mit der rechten Hand auf den Oberschenkel. Auch die anderen Biker stimmen dem Gelächter ein.
Starr vor Schreck dämmert es Ben langsam. Mit beiden Händen stützt er seinen Kopf, lässt die Arme dann gerade auf den Tresen fallen und knallt hart mit dem Kopf auf die Bar. Der Wirt macht einen Schritt auf ihn zu.
„Ich bin so blöd!“, fluchend schlägt Ben mit der rechten Faust auf den Tresen. Mit dem Kopf noch immer auf dem Tresen liegend haut er immer wieder zu. Fast wirft er dabei sein leeres Glas um. Die anderen Biker betrachten das Schauspiel achselzuckend. Langsam hebt er den Kopf und Tränen steigen ihm in die Augen.
„Ey Kumpel, entspann dich.“ Der Wirt verpasst Ben einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, der gerne etwas zärtlicher hätte ausfallen können. Dann schiebt er ihm ein neues Bier zu und sagt aufmunternd: „Hier. Trink erst mal noch einen. Geht aufs Haus.“
Ben greift nach dem Glas, doch eher um sich daran festzuhalten als um zu trinken.
Wieder lehnt sich ihm der Wirt entgegen:
„Nun flipp mal nicht gleich aus! Ich meine, sieh dich doch mal um. In so eine Bar würde deine Frau doch sicher niemals gehen. Ich an deiner Stelle würd´ es mal weiter runter in der Stadt versuchen. Da gibt es so einige Bars die – na sagen wir mal 'etwas höhere Ansprüche bedienen' und in die eine Lady sich auch allein wagen kann. Gut möglich, dass man da auch Quittungen ausstellt.“
Mühsam hebt Ben den Kopf. Er ist einfach so müde. Die ganze Zeit hatte er gehofft, Marie wie durch ein Wunder hier zu finden. Jetzt fordern die Aufregung, die Ungewissheit und nicht zuletzt auch der Schlag auf den Kopf ihren Tribut. Am liebsten würde er sich einfach in eine der schmuddeligen Nischen zurückziehen und schlafen. Vielleicht würde er ja auch aufwachen und das alles wäre nie passiert.
Ben sieht auf die Uhr. Schon nach Mitternacht.
„Am besten fährste erst mal wieder nach Hause und ruhst dich aus. Du bist ja völlig durch `n Wind. Morgen sieht die Welt doch gleich viel besser aus. Vielleicht sitzt deine Frau auch schon zu Hause und wartet auf dich, vielleicht sogar mit einer kleinen Überraschung…“, der Wirt blinzelt Ben neckisch an „Verstehste?“, und schnalzt mit der Zunge.
Ben kann nicht umhin, die Augen zu verdrehen und leert sein Bier in einem Zug.
„Gibt es hier vielleicht ein Telefon? Eins, was funktioniert?“
„Gerade durch, bei den Toiletten.“ Der Wirt reckt das Kinn und zeigt in die Richtung. „Brauchste Kleingeld? Sonst kannste auch mein Handy nehmen. Ich bin da flexibel wie ‘n Schlüppergummi.“ Mit einem kräftigen Schenkelklopfer unterstreicht der Wirt sein Wortspiel, über das er sich scheinbar immer wieder selbst prächtig amüsieren kann.
Fahrig wühlt Ben in seinen Jackentaschen herum und legt eine Hand voll Münzen auf den Tresen. „Geht schon, Danke.“ Dann rutscht er vom Hocker und geht Richtung Toiletten.
Der schmuddelige Flur, von dem die Türen zu den Toiletten abgehen, ist in schummriges Licht getaucht. Gleich vorn ist das Herren-WC. Irgendein Scherzbold hat dem Mann auf dem Toilettenschild einen Krückstock in die Hand und einen Hut aufgezeichnet. Direkt gegenüber hängt ein altersschwaches Münztelefon. Ben nimmt den Hörer ab und wirft 50 Cent in den Schlitz. Umständlich kramt er seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche. Er hatte schon immer ein schwaches Zahlengedächtnis. Telefonnummern und Geburtstage kann er sich einfach nicht merken.
Er erinnert sich noch genau, wie er damals das Datum seines ersten Hochzeitstages an allen nur erdenklichen Stellen notierte. Er hatte nicht nur die Erinnerungsfunktion seines Handys mobilisiert, sondern auch einen Zettel in seiner Brieftasche und einen gelben Post-It an seinem Fach im Badezimmerschrank befestigt. Als er Marie später davon erzählte, hatten sie beide herzhaft darüber gelacht. Jedenfalls hat er seitdem immer einen Zettel mit allen wichtigen Telefonnummern in seiner Brieftasche griffbereit. Den gilt es jetzt zu finden.
Als erstes versucht er es noch einmal zu Hause. Aber die Leitung ist nach wie vor tot. Die Nummer von Maries Handy steht ganz oben auf der Liste. Er wählt und wartet. Endlich erscheint das Freizeichen. Sein Herz fängt spürbar an zu pochen und der Hörer in seiner Hand zittert. Angespannt drückt er ihn fester an sein Ohr und lauscht. Nach endlosen Freizeichen schaltet sich die Mailbox an. „Hallo, dies ist der Anschluss von Marie Wagner. Zurzeit bin ich leider nicht zu erreichen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht oder versuchen Sie es später noch einmal.“
Piep.
„Marie, ich bin's, Ben.“ Aufgeregt hält er den Hörer noch dichter an sein Ohr und seine Stimme überschlägt sich fast beim Sprechen. „Bitte geh ran. Was ist denn passiert? Ich bin unten im Dorf. Ich suche dich überall. Zu Hause funktioniert unser Telefon nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wo bist du denn nur, was ist passiert? Geht es dir gut? Bitte melde dich, sobald du diese Nachricht abhörst, damit ich ...“ Erneut ertönt ein schriller Piepton und die Verbindung wird unterbrochen. „Scheiße!“ Wütend knallt Ben den Hörer auf die Gabel und wühlt wieder in seinen Taschen nach Kleingeld.
Diesmal wirft er einen Euro in den Münzautomaten. Er findet Felix' Nummer und wählt. Wahrscheinlich würde sein Bruder längst schlafen. Aber er wusste, dass dieser das schnurlose Telefon für gewöhnlich immer mit ans Bett nimmt. Er kann also nur hoffen, dass er mit seinem Anruf nicht das ganze Haus aufweckt. Das Freizeichen ertönt und Ben atmet erleichtert aus. Zumindest scheint sein Telefon nicht vom Sturm beeinträchtigt zu sein. Vielleicht hatte dort das Unwetter ja gar nicht so schlimm gewütet wie bei ihnen. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht schickt Ben ein Stoßgebet gen Himmel: Bitte, lass ihn da sein! Plötzlich bricht das Rufzeichen ab und aus der Leitung dringt nur noch ein Rauschen an Bens Ohr.
Verwirrt dreht Ben den Kopf und zuckt erschrocken zurück als er plötzlich in der kleinen Nische neben dem Apparat die Umrisse einer dunklen Gestalt wahrnimmt, die die Taste vom Telefon blockiert.