Читать книгу Verdächtige Stille - Veronika Wetzig - Страница 19

Sonntag, 30. Oktober, 02:50 Uhr

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Felix ist drei Jahre älter als Ben. Er ist der typische große Bruder, immer verantwortungsbewusst, vorausschauend und irgendwie scheint er auch immer für alles eine Lösung zu haben. Zugegeben, damals ging er ihm damit unglaublich auf die Nerven, aber seit sie beide erwachsen und noch dazu verheiratet waren, hatte sich ihr Verhältnis deutlich gebessert. Felix in seiner ruhigen und bedachten Art würde ihm sicher weiterhelfen. Ben lenkt das Auto wieder auf die Fahrbahn und gibt Gas. Wenn alles gut ging, könnte er schon in einer viertel Stunde dort sein.

Ben parkt den Wagen am Straßenrand direkt vor dem kleinen Einfamilienhaus. Sämtliche Jalousien im oberen Stockwerk sind geschlossen. Als er aussteigt und auf die Eingangstür zugeht, hüllt der Bewegungsmelder den Eingang sofort in warmes Licht. Zaghaft drückt er auf die Klingel, in der Hoffnung, nicht die gesamte Familie aus dem Bett zu holen. Nichts passiert. Nervös tritt er von einem Bein auf das andere und merkt, wie die kalte Nachtluft ihn wieder einhüllt. Er klingelt noch einmal, diesmal etwas energischer. Ben geht zwei Schritte zurück und sieht hinauf zum ersten Stock, ob sich etwas tut. Aus dem Inneren hört er Schritte die Treppe herunterkommen und kurz darauf steht er Felix gegenüber, einen klassischen Morgenrock über seinem Pyjama und Puschen an den Füßen. Verschlafene Augen sehen ihn fragend an, seine Haare stehen in alle Richtungen.

„Ben? Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich um diese Uhrzeit aus dem Bett zu klingeln.“ Erst jetzt bemerkt er, dass Ben am ganzen Körper zittert.

„Alles klar bei Dir? Du siehst echt Scheiße aus. Komm erst mal rein, ziemlich kalt da draußen.“ Ben tritt seine verdreckten Schuhe an der Matte ab und betritt das Haus.

„Reicht ein Bier oder brauchen wir was Stärkeres?“ Felix geht durch den kleinen Flur direkt ins Wohnzimmer. Typisch Felix, hält sich nicht lange mit umständlichen Begrüßungsfloskeln auf.

Erst jetzt merkt Ben, wie erschöpft er eigentlich ist. Ächzend lässt er sich auf den weichen Sessel fallen und hat das Gefühl nie wieder aufstehen zu können. Die behagliche Wärme des Wohnzimmers und das Klappern von Felix auf der Suche nach Gläsern geben ihm endlich wieder ein Gefühl von Geborgenheit. Felix tritt mit einer guten Flasche Whisky und zwei Gläsern an den Wohnzimmertisch. Wortlos schenkt er ein und reicht Ben ein Glas. Dankbar nimmt dieser es entgegen und nimmt einen beherzten Schluck. Sofort breitet sich der Whisky wie Feuer von seinem Hals bis hinab in den Magen aus. Felix hat sich inzwischen ihm gegenüber gesetzt und betrachtet ihn besorgt.

„Also, was ist passiert?“ Ben schluckt noch einmal und dann beginnt er zu berichten. Zuerst ist er unsicher, stockt und hat Angst sich völlig lächerlich anzuhören, doch dann entscheidet er sich, Felix alles ohne Ausnahme zu erzählen. Felix sitzt völlig reglos in seinem Sessel, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und hört schweigend zu. Mit beiden Händen hält er sein Glas, im Gesicht ungläubiges Entsetzen.

„Eine Million Euro?“

„Ja.“

„Und du sagt, du hast den Mann nicht erkannt? Was ist mit seiner Stimme, seine Art zu sprechen. Hatte er einen Akzent?“

Kurz denkt Ben über Felix' Frage nach. Irgendetwas war da, auch wenn er den Mann nicht erkannt hatte. „Ich glaube, es war ein Osteuropäer, ein Pole oder Russe, aber ich kenne mich damit nicht besonders gut aus.“

„Hm. Und sonst?“

„Nein, nichts. Ich kenne diesen Mann nicht, bin ihm noch nie begegnet. Glaube ich jedenfalls.“

Nachdenklich betrachtet Felix seinen Bruder und wartet einen Moment, für den Fall, dass ihm vielleicht doch noch etwas einfällt.

„Ich kann es mir ja auch nicht erklären. Ich zerbreche mir schon die halbe Nacht den Kopf deswegen. Und viel schlimmer: ich hab keinen Plan, wo ich eine Million Euro hernehmen soll.“ Tränen steigen ihm in die Augen.

„Okay, okay, beruhige dich erst mal und lass uns noch einmal nachdenken.“ Felix steht auf und fängt an im Wohnzimmer auf- und abzugehen.

„Wie kommt der Typ darauf, dass bei euch so viel Geld zu holen ist?“

„Ich weiß es doch auch nicht! Marie und ich, wir leben absolut bescheiden. Du weißt das und die Leute in der Umgebung wissen das auch. Jeder weiß das. Ich meine, wir sind froh, wenn unser Wagen den nächsten Winter überlebt, unser Haus, wir leben gerne dort, aber ich kenne niemanden, der freiwillig mit uns tauschen würde.“ Bens Stimme überschlägt sich fast. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Wenn es nicht das Geld ist, muss es ja irgendetwas anderes sein. Hattet ihr Probleme in letzter Zeit? Was ist mit Marie, hat sie sich irgendwie seltsam benommen?“

„Nein, ich sage doch, da war nichts“, fährt Ben seinen Bruder genervt an und stockt sofort als er merkt, dass seine Stimme gleichzeitig lauter geworden ist. „Tut mir leid“, flehend sieht er Felix an. „Das ist alles nur so absurd. Gestern Nachmittag haben wir uns noch gemeinsam alte Fotos angesehen, wir haben die Zeit genutzt, die Annely mal bei den Großeltern ist. Wir haben zusammen gekocht und dann“, Ben stockt, „dann haben wir uns geliebt“, sehnsüchtig verliert Ben sich in seinen Gedanken. Wie aus dem Nichts steht er auf, reißt seinen Arm zurück und wirft sein halbleeres Whiskyglas in den Kamin.

„Welches kranke Schwein tut so etwas“, brüllt er durch das schlafende Haus und bricht zitternd in sich zusammen.

Felix geht auf Ben zu und legt ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter.

„Los, komm hoch! Ich denke das Beste ist, wenn du dich erst mal ausruhst. Du bist ja völlig fertig. Heute kommen wir hier eh nicht weiter. Ich würde vorschlagen, du legst dich jetzt 'ne Runde hin und morgen können wir uns dann überlegen, wie wir das Geld zusammenbekommen. Mach dir nicht so viele Sorgen. Zusammen schaffen wir das schon. Bis jetzt haben wir doch immer alles irgendwie geregelt bekommen.“

Ben ist zu keiner Reaktion fähig. Fast willenlos lässt er sich in das Gästezimmer führen. Dort pellt er sich aus seinen Sachen und lässt sich aufs Bett fallen. Seine Gedanken schweifen in alle Richtungen. Immer wieder geht er sämtliche Möglichkeiten der Geldbeschaffung durch. Endlich, nach langem Hin- und Herwälzen fällt er in einen unruhigen Schlaf. Doch dieser dauert nicht lange an. Schon wenige Stunden später ist er wieder wach. Er sieht auf den Wecker: 6:13 Uhr. Mühsam klettert er aus dem Bett, er fühlt sich wie zerschlagen.

Verdächtige Stille

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