Читать книгу Verdächtige Stille - Veronika Wetzig - Страница 5

Samstag, 29. Oktober, 19:00 Uhr

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Entspannt tritt Ben vor die Haustür. Endlich mal ein Abend ohne endlose Diskussionen mit seiner fünfjährigen Tochter. Nur er und Marie. „Herrlich“, denkt er und streckt die Schultern nach hinten.

Hinter sich hört er das Klappern von Geschirr und als er die Tür bis auf einen schmalen Spalt zuzieht und durch eines der kleinen Fenster ins Haus hinein späht, sieht er, wie seine Frau Marie die Reste des Abendessens zusammenräumt.

Ben genießt diesen kurzen Augenblick als stiller Beobachter. Es kam nicht allzu oft vor, dass sie einen Abend ohne ihre Tochter Annely verbringen konnten und so hatten sie sich für heute Abend etwas ganz Besonderes vorgenommen. Sie hatten zusammen gekocht, das heißt eigentlich hat Marie ihn zum Zwiebelschneiden verdonnert und anschließend Anweisungen für die Zubereitung der Lasagne erteilt, während sie selbst in Kochschürze und mit erhobenem Kochlöffel jeden seiner Handgriffe mit Argusaugen verfolgte. Weil er sich aber immer wieder von ihren unter der Kochschürze verborgenen Rundungen hatte ablenken lassen, erbarmte sie sich schließlich, zumindest die Soße und noch einen kleinen Salat zuzubereiten.

Das Essen war köstlich und bei Kerzenschein und gutem Wein saßen sie eine gute Stunde zusammen und genossen das mehr oder weniger gemeinsam zubereitete Festmahl. Zugegeben: eigentlich waren es nur vierzig Minuten. Ben schmunzelt bei dem Gedanken daran, wie sie zwischen dem Salat und der Lasagne spontan übereinander hergefallen sind. Marie kicherte ausgelassen, da er mindestens drei Minuten allein damit beschäftigt war, sie aus ihrer unbequemen Kochschürze zu befreien.

Die Lasagne war währenddessen zwar erkaltet, doch das anhaltende wohlige Gefühl sorgte dafür, dass er sie trotzdem mit einem breiten Dauergrinsen im Gesicht bis auf den letzten Bissen verschlang.

Nun steht Ben unter dem schmalen Vordach der kleinen Hütte und lässt sich von dem aufsteigenden Sturm einlullen. Nach wenigen Augenblicken muss er jedoch überrascht feststellen, dass seine innere Wärme dennoch nicht ausreicht, um es länger hier draußen auszuhalten und so beschließt er, noch einmal zurückzugehen und sich eine Jacke überzuziehen, um in Ruhe seine letzte Zigarette genießen zu können.

Seit der Geburt von Annely rauchte er nur noch sporadisch, meistens nur um einfach mal eine kurze Zeit für sich zu sein. Am letzten Sonntag jedoch, als sie im Kreise der Familie Annelys fünften Geburtstage feierten, durfte er sich einen nicht enden wollenden Vortrag seiner Tochter anhören, in dem sie ihn ausführlich über das bestehende Gesundheitsrisiko beim Rauchen aufklärte, wobei sie ihn mit Wörtern wie Thrombose und Lungenkrebs bombardierte. Als seine hilfesuchenden Blicke auch Marie nicht erweichen ließen ihn zu verteidigen, gab er sich schließlich geschlagen und versprach hoch und heilig, sein Laster zukünftig aufzugeben.

Den Ausblick über die Klippen genießend, zündet Ben sich seine letzte Zigarette an und entspannt sich angesichts der einsamen Weite. Seine Gedanken kreisen wieder um ihren kürzlich vollendeten Liebesakt und noch immer spürt er Maries warme Hände, die gierig nach seinem Körper greifen, als ein starker Windstoß ihn erfasst und taumeln lässt. Erschrocken sieht er sich um. Täuschte er sich oder war dort gerade eine Gestalt zu sehen? Unwillig wirft er die Zigarette ins Gras und geht vorsichtig Richtung Schuppen.

Da, wieder huscht ein Schatten über die Schuppenwand. Ben sprintet zum Schuppen und schiebt sich langsam um die Ecke, als etwas seinen Arm streift. Erschrocken springt er zurück, doch dann lacht er befreit auf. Die nassen Laken hatten ihm doch tatsächlich einen Streich gespielt. Er dreht sich um und geht zurück zum Haus. Er würde gleich seine Frau bitten, die nassen Dinger herein zu holen.

Ben ist noch nicht bei der Haustür angekommen, als ein lauter, nicht enden wollender Schrei die Stille durchbricht. So hell und furchteinflößend, dass ihm unweigerlich ein Schauer über den Rücken läuft und sich seine Nackenhaare aufstellen. Starr vor Schreck bleibt er beim Schuppen stehen, unfähig zu begreifen, dass der Schrei aus dem Haus ertönt und die Stimme seiner Frau gehört. Abrupt endet der Schrei und die plötzliche Stille reißt Ben aus seiner Starre. Eilig rennt er durch den Regen Richtung Haustür. Doch als er sie aufstoßen will, ist sie verschlossen. Er rüttelt und zerrt, doch sie gibt nicht nach. Drinnen ist alles ruhig und das schwache Licht, das noch immer so gemütlich durch die kleinen Fenster nach draußen dringt, scheint Ben verhöhnen zu wollen. Panisch sieht er sich um. Irgendwie muss er ins Haus kommen.

Er hastet zur Rückseite, doch auch hier sind wegen des Unwetters alle Fenster fest verschlossen. Fluchend schlägt Ben gegen eines der Fensterkreuze. Es muss doch irgendwie möglich sein, ins Haus zu kommen! Der Schuppen! Eilig wendet er sich ab und rennt zurück. Regen rinnt ihm von seinen wirr in die Stirn hängenden Haare in die Augen. Der Weg erscheint ihm endlos. Immer wieder schlingen sich Gras und wilde Brombeerranken um seine Füße als wollten sie ihn daran hindern, an sein Ziel zu gelangen. Endlich erreicht er die verwitterte Schuppentür. Er reißt sie auf und tastet hastig nach dem Lichtschalter neben der Tür. Als er ihn schließlich findet und den Kippschalter betätigt passiert jedoch nichts. Fieberhaft schaltet er ihn mehrmals ein und aus, doch das Ergebnis bleibt das gleiche: nur schwarze Finsternis liegt vor ihm. Kurz überkommt ihn Panik. Entschlossen ringt er sie jedoch nieder und versucht, einen klaren Kopf zu behalten. Er brauchte geeignetes Werkzeug, um ins Haus zu gelangen. Seine Axt! Ben rennt blind in den Schuppen hinein und stößt mit dem Knie an eine harte Kante. Er flucht, ignoriert jedoch den Schmerz. Seine Gedanken drehen sich nur noch um die Axt. Letztens hatte er sie doch noch in der Hand. Während Ben wild um sich greift, fällt es ihm wieder ein, er hatte sie seinem Bruder Felix geliehen, der damit das neue Gartenspielhaus für seine beiden Töchter zimmern wollte. Dann musste eben etwas anderes herhalten.

Draußen stürmt es immer stärker und die Schuppentür schwingt mit einem lauten Krachen in den Rahmen. Erschrocken fährt Ben herum. Er kann die Panik nicht länger unterdrücken, hastet zur Tür und stolpert. Gerade eben kann er sich noch an der Wand festhalten. Was war das? Nervös ertastet er einen Holzscheit. Er greift nach dem Klotz und rennt durch den Regen zurück zum Haus.

Die Stille darin macht ihn fast wahnsinnig. Was um Himmels Willen ging dort drinnen nur vor sich? Ben verharrt plötzlich mitten im Lauf. Irgendetwas war anders. Was war es nur, das ihn jetzt so irritierte?

Das Licht ist aus! Eben waren beide Stubenfenster doch noch hell erleuchtet! Jetzt herrscht Dunkelheit im ganzen Haus. Stolpernd hastet Ben weiter. Er erreicht die Tür und will sich gerade nach rechts wenden, um eins der Fenster einzuschlagen, da lässt ein leises Geräusch ihn innehalten.

War das ein leises Wimmern? Vorsichtig lehnt er sich an die Tür, um zu lauschen. Da geschieht es – die Tür gibt mit einem leisen Quietschen nach. Wie ist das möglich? Eben war sie doch noch fest verschlossen! Ben wischt alle Bedenken beiseite, jetzt zählt nur eins, nämlich schnellstmöglich herauszufinden, ob mit Marie alles in Ordnung ist. Nach kurzem Zögern wirft er den Klotz zurück in den Garten – er würde ihm im Haus nur hinderlich sein.

Vorsichtig öffnet er die Haustür. Nichts ist zu hören. Fahrig tastet er nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche und lässt die Flamme aufleuchten. Auf den ersten Blick sieht alles normal aus. Neben ihm auf der Fensterbank steht der alte Kerzenständer mit einer halb abgebrannten Wachskerze. Schnell geht er hinüber und zündet sie an, verbrennt sich an dem heißen Feuerzeug und schüttelt es kräftig aus. Mit der Kerze in der rechten Hand beleuchtet er die Küche, in der sie vor wenigen Minuten noch zusammen zu Abend gegessen hatten. Bens Blick huscht über das Wasser in der Spüle und einige bereits abgewaschene Teller, die ordentlich auf der Anrichte stehen. Von seiner Frau jedoch ist nichts zu sehen.

Er späht ins anliegende Wohnzimmer. Auch hier ist alles ruhig. Vorsichtig und mit der linken Hand die Flamme schützend, geht er vorwärts. Nur langsam durchbricht der schwache Schein der Kerze das Dunkel. Schemenhaft erkennt er die Couch und den davor stehenden Sessel. Sollte Marie sich hinter dem Sessel versteckt haben? Was für ein irrwitziger Gedanke. Trotzdem beschließt er, nachzusehen. Vielleicht sollte er einfach nach ihr rufen, aber die Angst schnürt ihm die Kehle zu und er hat das Gefühl, keinen Ton herauszubekommen.

Langsam geht Ben auf den Sessel zu, als er hinter sich einen Luftzug spürt. Gerade will er sich umdrehen, als ihn ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf trifft. Ben versucht noch, sich auf dem Sessel abzustützen und die Kerze nicht fallenzulassen, als alles um ihn herum schwarz wird. Er spürt noch, wie ihm die Kerze entgleitet, bevor er hart auf dem Holzfußboden aufschlägt.

Verdächtige Stille

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