Читать книгу Verdächtige Stille - Veronika Wetzig - Страница 9
Samstag, 29. Oktober, 22:22 Uhr
ОглавлениеDie Haustür fällt hinter ihm ins Schloss und er sprintet zum Wagen. Der Sturm hat etwas nachgelassen. Zwar regnet es noch immer stark, aber zumindest würde ihm der Weg durch den Wald inmitten eines Sturms erspart bleiben. Er setzt sich in den Wagen, steckt den Schlüssel ins Schloss und spricht in Gedanken ein Stoßgebet.
Er dreht den Zündschlüssel, gibt ein wenig Gas und der Motor des Volvo V50 Kombi springt ausnahmsweise einmal ohne Probleme an. Das ist nicht immer der Fall, immerhin hat das gute Stück schon über hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Buckel. Weil sie sich keinen Neuwagen leisten konnten, hatten sie sich den Wagen kurz nach Annelys Geburt bei einem angeblich seriösen Gebrauchtwagenhändler an einer Straßenecke gekauft. Es dauerte allerdings nicht lange, bis der Wagen zum ersten Mal bei Felix in der Werkstatt stand und von diesem fast völlig runderneuert werden musste. Seitdem ist der Volvo mehr oder weniger Stammgast bei Felix, der immer wieder sein Bestes gibt, um den Wagen wieder zum Laufen zu bringen. Ein neuer Wagen wäre finanziell immer noch nicht drin, nicht mal ein Gebrauchter.
Kurz erleuchten alle Überwachungslämpchen im Cockpit bis sie nach Durchchecken sämtlicher elektrischer Elemente wieder erlöschen. Bis auf die Anzeige der Benzinreserve. Diese leuchtet nach wie vor. Merkwürdig, denkt Ben. Bevor Marie letzte Woche in die Stadt fahren wollte, um für Annelys Geburtstag einzukaufen, hatte er den Wagen extra noch einmal vollgetankt. In der Beziehung war er übervorsichtig, schon allein deshalb, weil es in der näheren Umgebung keine Tankstelle gibt. Deshalb hatte er sich angewöhnt, immer einen vollen Ersatzkanister im Auto zu haben. Jetzt neigt sich die Benzintankanzeige gefährlich weit nach links. Er schätzt, dass er noch Benzin für circa vierzig Kilometer hat, das sollte wohl bis ins Dorf reichen. Er drückt noch den Knopf am Bordcomputer und ist überrascht, als die Anzeige anzeigt, dass der Wagen seit dem letzten Volltanken über sechshundert Kilometer bewegt wurde.
Sechshundert Kilometer? Nie im Leben sind sie in der letzten Woche sechshundert Kilometer gefahren! Meistens benutzen sie den Wagen nur kurz zum Einkaufen und eine Tankfüllung hält fast einen Monat. Doch auch beim zweiten Blick auf die Anzeige ändert sich die Zahl nicht. Er gibt das Grübeln auf – es gibt zu vieles, über das er in den nächsten Tagen in Ruhe nachdenken muss. Hier kommt er jetzt jedenfalls nicht weiter. Nun gilt es erst einmal Marie zu finden. Er legt den ersten Gang ein und fährt los. Die Lichtkegel tanzen vor ihm über den Weg. Die Zufahrt zum Haus ist schon bei gutem Wetter nicht die beste, jetzt ist der Weg völlig aufgeweicht und einige Male kommt er schon auf dem kurzen Weg bis zum Gartentor ins Schlingern. Endlich ist es geschafft. Ben fährt auf die schmale geteerte Landstraße, die ihn direkt ins nächste Dorf führen wird. Froh, endlich wieder festen Boden unter den Rädern zu haben, will er gerade Gas geben als er merkt, dass auch diese Strecke durchaus ihre Tücken hat. Durch den Sturm sind Blätter und Zweige auf die Straße gefallen. Immer wieder muss er scharf bremsen und großen Ästen ausweichen. Der prasselnde Regen und das Dunkel des Waldes lassen ihm kaum eine Möglichkeit, die Hindernisse rechtzeitig zu erkennen, und das, obwohl die Scheibenwischer bereits auf höchster Stufe laufen. Jetzt verflucht Ben den weiten Weg in den nächsten Ort.
Damals hatten sie sich bewusst für das kleine Häuschen am Hang entschieden, um abseits der großen Städte ihr Leben in Ruhe genießen zu können. Die schmale Landstraße führt in Schlangenlinien hinunter zum nächsten Dorf, ein zehn prozentiges Gefälle inklusive. Marie hatte anfangs jegliche Fahrt nach Einbruch der Dunkelheit vermieden, da die Serpentinen direkt entlang der Klippen verlaufen, die auf der einen Seite bis zu fünfzehn Metern in die Tiefe reichen und nur teilweise mit rot-weißen Leitplanken gesichert sind. Auf der anderen Seite der Fahrbahn verdunkelt der dichte Wald die Straße. Da es sich bei dieser Strecke um keine vielbefahrene Straße handelt, hatte die Gemeinde es bisher nicht für notwendig erachtet, Gelder in eine Straßenbeleuchtung oder eine mittlere Fahrbahnmarkierung zu investieren. Stattdessen hielt man es für ausreichend, ein Tempolimit von dreißig Stundenkilometer zu verhängen, wobei es aufgrund fehlender Verkehrskontrollen jedem Fahrer selbst überlassen wurde, sich an die Höchstgeschwindigkeit zu halten oder nicht.
Mit zusammengekniffenen Augen und weit nach vorn über das Lenkrad gebeugt starrt Ben auf die Straße vor sich. Er weiß, er fährt zu schnell, aber es gelingt ihm einfach nicht, seine Nerven unter Kontrolle zu bekommen. Gleich kommt die scharfe Linkskurve. Ben will gerade abbremsen, als ein umgestürzter Baum in sein Blickfeld gerät, der quer über der Straße liegt. Sofort geht er auf die Bremse und weicht nach rechts aus. Der Wagen gerät gefährlich ins Schleudern, während der Baum auf ihn zurast. Haarscharf rutscht der Wagen daran vorbei. Gerade will Ben aufatmen, als er mit Entsetzen realisiert, dass er durch das Ausweichmanöver gewaltig nach rechts von der Fahrbahn abgekommen ist. Es gelingt ihm kaum, den Wagen ruhig zu halten. Er muss ihn wieder zurück auf die Spur bringen. Doch noch bevor ihm dies gelingt, hat er die scharfe Linkskurve auch schon erreicht.
Erschrocken reißt Ben die Augen auf und in letzter Sekunde schafft er es, das Lenkrad nach links zu reißen und scharf auf die Bremse zu treten. Das Prasseln des Regens wird übertönt von quietschenden Reifen als das Heck des Volvos weitere zehn Meter an der Außenleitplanke entlang schlittert, bevor er endlich zum Stehen kommt. Mit einem Mal ist alles still. Mit beiden Händen umklammert Ben das Lenkrad so fest, dass seine Sehnen zum Bersten hervorstechen. Starr vor Schreck sitzt er einfach nur da und ist zu keiner Reaktion fähig bis er endlich aus seiner Trance erwacht und ihn die Realität wie ein schwarzer Schatten übermannt.
Er hat das Gefühl als würde sich sein Körper gerade wieder einen Weg in seine Hülle suchen. Sein Herz pocht wild und er spürt das Blut durch seine Adern fließen, die an den Schläfen dick hervorgetreten sind. Langsam senkt sich sein Adrenalinspiegel, angestrengt atmet er durch die Nase aus.
Durchatmen, erst einmal tief durchatmen, denkt er sich.
Er reißt den Kopf zurück, atmet dabei tief ein und lässt die Luft geräuschvoll mit einem tiefen Seufzer wieder durch seinen Mund entgleiten, so dass die Windschutzscheibe sofort beschlägt. Kalter Schweiß läuft ihm von der Stirn und plötzlich fangen seine Hände und Beine unkontrolliert an zu zittern.
„Ich muss hier raus, ich brauche frische Luft“, sagt er laut und reißt die Fahrertür auf.
Mit zitternden Beinen steigt Ben aus dem Wagen und wankt zu den Bäumen am Straßenrand. Nicht, dass sie ihm bei dem anhaltenden Regen noch Schutz bieten würden, aber er braucht jetzt einfach etwas zum Anlehnen und das Dach der Bäume würde ihm zumindest das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Weiter tief atmend, beide Hände auf den Oberschenkeln abstützend steht er da. So langsam bekommt er seinen Körper wieder unter Kontrolle. Ben lässt seinen Blick schweifen – vom schräg stehenden Auto über die verbeulte Leitplanke bis hin zum Baum auf der Straße. Gerade will sein Blick weiterhuschen, da stockt er. Was ist das? Liegt da nicht etwas unter dem Baum?
Langsam bewegt er sich auf die Stelle zu, geht in die Knie und beugt sich vornüber. Eingeklemmt unter dem Baum, durchnässt von dem Regen und bedeckt mit nassem Laub lugt ein Rucksack hervor. Mit der rechten Hand zieht er vorsichtig an einem der Riemen und stellt fest, dass der Rucksack nicht unter dem Baum eingeklemmt ist, so dass er ihn ohne Probleme hervorziehen kann.
Der Rucksack ist schwarz, mittelgroß und ziemlich verdreckt, so als würde er schon eine ganze Weile dort liegen. Er nimmt ihn, geht hinüber zu den Bäumen, um sich vor dem zunehmenden Regen zu schützen und betrachtet seinen Fund. Er hat keine Ahnung, wem der Rucksack gehören könnte. Ben wischt sich die nassen Hände an seiner Hose ab und öffnet vorsichtig den Reißverschluss.
Durch das schlechte Licht kann er kaum etwas erkennen. Kurz überlegt er, zurück zum Auto zu laufen und den Rucksack einfach in die Büsche zu werfen. Doch die Neugier siegt. Zaghaft schiebt Ben seine rechte Hand in den Rucksack und zuckt erschrocken zurück. Etwas Weiches, Flauschiges hat ihn gestreift. Sei nicht albern, denkt er sich und wappnet sich innerlich für einen weiteren Versuch. Diesmal greift er entschlossen zu und zieht einen gelben Plüschteddy hervor. Der Rucksack hat die Nässe gut abgehalten, das Fell des Bären ist trocken und scheint sauber zu sein. Wieder greift er in den Rucksack und fördert ein Paar Turnschuhe zutage. Diese dürften einem Erwachsenen gehören, für Kinderschuhe sind sie jedenfalls definitiv zu groß. Ben wühlt weiter. Vielleicht findet sich ja doch noch irgendwo ein Hinweis auf den Besitzer.
Plötzlich wird er geblendet von zuckenden nicht enden wollenden Blitzen. Schützend legt er eine Hand vor die Augen. Ein wahres Naturschauspiel zeigt sich am Himmel. Der Regen geht erneut in einen Sturm über und nach dem letzten grellen Blitz fängt Ben automatisch an zu zählen, wie man es ihm als Kind beigebracht hat: Einundzwanzig, zweiundzwanzig… Weiter kommt er nicht. Krachendes Donnergrollen lässt ihn zusammenfahren. Schutzsuchend drängt er sich dichter an den Stamm des Baumes. Gewitter und Baum? denkt er sich, das kommt nicht wirklich gut! Er schnappt sich den Rucksack und rennt so schnell es geht zurück zu seinem Wagen, reißt die Tür auf, schmeißt den Rucksack auf die Rückbank und startet den Motor.
Doch es scheint, als hätte der alte Volvo ihm die Sache mit der Leitplanke übel genommen. Der Motor stottert nur kurz und bricht dann zusammen.
Ben stöhnt auf. „Nicht jetzt, bitte nicht jetzt!“ Er legt den ersten Gang ein und versucht es erneut. Dabei geht er vorsichtig von der Kupplung und gibt immer wieder Gas. Angestrengt drückt er den Schlüssel nach hinten. Der Motor rumpelt und knattert ehe er wieder verstummt. Wütend schlägt Ben auf das Lenkrad ein. Los, noch ein Versuch, es muss einfach klappen! Murmelnd schickt er erneut Stoßgebete zum Himmel, ehe er den Gang herausnimmt und den Schlüssel noch einmal dreht.
Der Motor heult wieder kurz auf und Ben gibt noch einmal vorsichtig Gas. Langsam findet der Motor seinen Rhythmus und geht in ein gleichmäßiges Geräusch über. Ben legt den ersten Gang ein und gibt Gas. Der Volvo fängt an zu rollen, Ben schaltet hoch und lenkt den Wagen dabei vorsichtig wieder auf die asphaltierte Straße.
„So, jetzt nichts überstürzen. Du musst einen klaren Kopf behalten“, sagt er zu sich selbst. Immer wieder wird der Himmel von Blitzen erhellt, auf die immer wieder dröhnender Donner folgt. In angemessenem Tempo führt Ben den Wagen durch die Serpentinen und hofft, dass der Volvo mit Ausnahme der demolierten Karosserie unversehrt geblieben ist.
Endlich ist es geschafft. Die Klippen liegen hinter ihm und auch der Wald weicht langsam zurück. Gleich wird die Landstraße nur noch von wenigen Bäumen gesäumt sein und die Felder der nächsten Ortschaft beginnen. Als Ben das Ende des Waldes erreicht, trifft ihn die Wucht des Sturmes wie ein Schlag. Angestrengt umklammert er das Lenkrad. Über dem Feld tanzen die Blitze und der Donner kracht ohrenbetäubend über ihm. Immer wieder fliegen Blätter und kleinere Äste auf die Windschutzscheibe und das Wagendach.
Nur weiter, denkt Ben. In der Ferne kann er schon die ersten Lichter des kleinen Dorfes erkennen.