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[27]II Vorspiel

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Am 8. Juni 1932 sahen wir den (wie es in meinem Tagebuch heißt) »fast schon klassischen« Tonfilm: »Der blaue Engel«. Was episch konzipiert und ausgeführt ist, wird in der Form des Dramas, und nun gar als Film, immer ins Sensationelle vergröbert auftreten, und so ist Heinrich Manns »Professor Unrat« gewiß eine größere Dichtung als »Der blaue Engel«; aber als künstlerische Leistung der Schauspieler war dieser Film wirklich ein Meisterwerk. Da spielten in den Hauptrollen Jannings, Marlene Dietrich und Rosa Valetti, und auch die Nebenpersonen führten das eindringlichste Leben. Trotzdem war ich nur in wenigen Augenblicken wirklich von dem Geschehen auf der Leinwand festgehalten oder gar mitgerissen; immer wieder tauchte eine Szene der vorangegangenen Wochenschau in mir auf, tanzte – und es kommt mir buchstäblich auf das Tanzen an – der Tambour vor oder zwischen den Darstellern des »Blauen Engels«.

Die Szene spielte nach dem Antritt der Regierung Papen; sie hieß: »Tag der Skagerrakschlacht, Marinewache für das Präsidentenpalais zieht durch das Brandenburger Tor.«

Ich habe in meinem Leben viele Paraden gesehen, in der Wirklichkeit und im Film; ich weiß, was es mit dem preußischen Paradeschritt auf sich hat – wenn wir auf dem Oberwiesenfeld in München gedrillt wurden, hieß es: So gut wie in Berlin müßt ihr ihn hier mindestens machen! Aber nie zuvor, und was mehr sagt, auch niemals hinterher, trotz aller Paraden vor dem Führer und aller Nürnberger Vorbeimärsche, habe ich etwas Ähnliches gesehen wie an diesem Abend. Die Leute warfen die Beine, daß die Stiefelspitzen über die Nasenspitzen hinauszuschwingen schienen, und es war wie ein einziger Schwung, wie ein einziges Bein, und es war in der Haltung all dieser Körper, nein: dieses einen Körpers eine so krampfhafte Anspannung, daß die Bewegung zu erstarren schien, wie die Gesichter schon erstarrt waren, daß die ganze [28]Truppe ebensosehr den Eindruck der Leblosigkeit wie der äußersten Belebtheit machte. Doch ich hatte nicht Zeit, genauer: ich hatte keinen freien Seelenraum in mir, das Rätsel dieser Truppe zu lösen, denn sie bildete nur den Hintergrund für die eine Gestalt, von der sie, von der ich beherrscht wurde, für den Tambour.

Der Voranmarschierende hatte mit weit abgespreizten Fingern die Linke in die Hüfte gepreßt, vielmehr er hatte den Körper gleichgewichtsuchend in die stützende Linke gebogen, während der rechte Arm mit dem Tambourstab hoch in die Luft stieß und die Stiefelspitze des geschwungenen Beines dem Stab nachzulangen schien. So schwebte der Mann schräg im Leeren, ein Monument ohne Sockel, geheimnisvoll aufrecht gehalten durch einen vom Fuß bis zum Haupt, in Fingern und Füßen wirkenden Krampf. Was er da vorführte, war kein bloßes Exerzieren, es war ein archaischer Tanz so gut wie ein Parademarsch, der Mann war Fakir und Grenadier in einem. Annähernd ähnliche Angespanntheit und krampfverzerrte Verrenktheit gab es in expressionistischen Bildwerken jener Jahre zu sehen, in expressionistischen Dichtungen der Zeit zu hören, aber im Leben selber, im nüchternen Leben der nüchternsten Stadt, wirkte sie mit der Gewalt einer absoluten Neuheit. Und es ging eine Ansteckung von ihr aus. Brüllende Menschen drängten sich bis dicht an die Truppe, die wild ausgestreckten Arme schienen hineingreifen zu wollen, die aufgerissenen Augen eines jungen Menschen in der vordersten Reihe trugen den Ausdruck religiöser Ekstase. – – –

Der Tambour war meine erste erschütternde Begegnung mit dem Nationalsozialismus, der mir bis dahin trotz seines Umsichgreifens für eine nichtige und vorübergehende Verirrung unmündiger Unzufriedener gegolten hatte. Hier sah ich zum erstenmal Fanatismus in seiner spezifisch nationalsozialistischen Form; aus dieser stummen Gestalt schlug mir zum erstenmal die Sprache des Dritten Reichs entgegen.

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