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[76]X Autochthone Dichtung
ОглавлениеSo fern mir auch in den furchtbaren Jahren die Dinge meiner Fachwissenschaft lagen, ein paarmal habe ich doch das geistvoll spöttische Gesicht Joseph Bédiers vor mir gesehen. Es gehört zum Beruf des Literarhistorikers, den Quellen eines Motivs, einer Fabel, einer Legende nachzugehen, und manchmal wird aus diesem Berufszweig eine Berufskrankheit, eine Manie: alles muß räumlich und zeitlich weither kommen – je weiter her, um so gelehrter ist der Forscher, der den fernen Ursprung konstatiert –, nichts darf ebendort wurzeln, wo man ihm gerade begegnet. Ich höre noch die Ironie in Bédiers Stimme, wenn er vom Katheder des Collège de France herab über den vermeintlich orientalischen oder den vermeintlich »druidischen« Ursprung eines komischen oder frommen Märchens oder irgendeines literarischen Einzelzuges sprach. Bédier wies immer darauf hin, wie gewisse Situationen und Eindrücke in den verschiedensten Zeiten und Zonen die gleichen Äußerungen hervorrufen können, weil sich in manchen Dingen die Gleichheit der menschlichen Natur über Zeit und Raum hinweg erweist.
Das erstemal, aber noch etwas von fern, wurde ich im Dezember 1936 an ihn erinnert. Es war während des Prozesses gegen den Mörder des nazistischen Auslandsagenten Gustloff. Ein vor bald hundert Jahren entstandenes französisches Trauerspiel, das lange Zeit weltberühmt war und in Deutschland häufig als Schullektüre verwandt wurde, dann aber (sehr zu Unrecht) in Mißachtung und Vergessenheit geriet, Ponsards Charlotte Corday, hat die Ermordung Marats zum Stoff. Die Attentäterin klingelt an seiner Haustür, sie ist fest entschlossen, den Mann, den sie für einen gewissenlosen Bluthund hält, den sie nur als Unmenschen außerhalb jeder menschlichen Bindung vor sich sieht, zu töten. Eine Frau öffnet ihr, und sie schrickt zurück: Gott im Himmel, er hat eine Frau, jemand liebt ihn – grand Dieu, sa femme, on l’aime! Dann aber hört sie ihn einen geliebten Namen als Opfer »für die Guillotine« [77]nennen, und nun sticht sie zu. Als wenn er diese Szene unter genauester Beibehaltung des Wesentlichen und Entscheidenden ins Moderne transponierte, klang die Aussage des jüdischen Angeklagten Frankfurter vor dem Gericht in Chur. Er sei entschlossen gewesen, den Blutmenschen zu töten, Frau Gustloff habe ihm geöffnet, und er sei schwankend geworden – ein verheirateter Mann, grand Dieu, on l’aime. Da habe er Gustloff am Telefon sprechen hören: »diese Schweinejuden!«, und nun sei der Schuß gefallen … Muß ich annehmen, daß Frankfurter die Charlotte Corday gelesen hat? Ich will lieber im nächsten Kolleg über Ponsard die Szene aus dem Prozeß in Chur als nachträglichen Beweis für die menschliche Echtheit dieses französischen Dramas anführen. –
Bédiers Betrachtungen bewegten sich weniger auf dem Gebiet der reinen Literatur als in der primitiveren Sphäre des Volkskundlichen, und eben hierhin gehören die anderen Fakta, die mich auf ihn zurückwiesen.
Im Herbst 1941, als von einem raschen Kriegsende keine Rede mehr sein konnte, hörte ich viel von Hitlers Wutanfällen erzählen. Erst waren es Wut-, bald danach Tobsuchtsanfälle, der Führer sollte in ein Taschentuch, in ein Kissen gebissen haben, dann hatte er sich auf den Boden geworfen und in den Teppich gebissen. Und dann – die Erzählungen stammten immer von kleinen Leuten, von Arbeitern, von Hausierern, von unvorsichtig zutraulichen Briefträgern –, dann hatte er »die Fransen seines Teppichs gefressen«, pflegte sie zu fressen, trug den Namen »Teppichfresser«. Ist es hier nötig, auf biblische Quellen, auf den grasfressenden Nebukadnezar zurückzugehen?
Man könnte das Epitheton »Teppichfresser« als Legendenkeim bezeichnen. Das Dritte Reich hat aber auch echte und völlig ausgewachsene Legenden hervorgebracht. Eine wurde uns kurz vor dem Ausbruch des Krieges, als Hitler auf der Höhe seiner Macht stand, aus sehr nüchternem Munde berichtet.
Noch besaßen wir das kleine Haus hoch über der Stadt, aber wir waren doch schon sehr isoliert und überwacht, es gehörte bereits einiger Mut dazu, sich bei uns sehen zu lassen. Ein Kaufmann von [78]unten, der uns in besseren Zeiten beliefert hatte, hielt uns Treue, brachte allwöchentlich die nötigen Waren herauf und erzählte uns jedesmal, was er an Tröstlichem wußte, und was er für geeignet hielt, unseren Mut zu heben. Er war kein Politiker, aber am Nationalsozialismus erbitterte ihn die offenkundige Mißwirtschaft, Ungerechtigkeit und Tyrannei. Dabei sah er alles unter dem Gesichtspunkt des Alltäglichen und des praktischen Verstandes; er war nicht sehr gebildet, er hatte keine weitgespannten Interessen, Philosophie war nicht, Religion schien nicht seine Sache. Weder vor noch nach dem hier zu berichtenden Fall habe ich ihn je von kirchlichen oder jenseitigen Dingen sprechen hören. Alles in allem war er ein kleinbürgerlicher Krämer, der sich von hunderttausend Standesgenossen nur dadurch unterschied, daß er sich von den verlogenen Phrasen der Regierung nicht betrunken machen ließ. Gewöhnlich unterhielt er uns mit irgendeinem aufgedeckten und wieder zugescharrten Skandal in der Partei, von einem betrügerischen Bankrott oder einem Stellenkauf durch Bestechung oder von einer unverschleierten Erpressung. Nach dem Selbstmord unseres unrettbar kompromittierten Ortsbürgermeisters – der Mann war erst zum Selbstmord gezwungen und dann ehrenvoll, fast mit einem Staatsakt en miniature beerdigt worden – bekamen wir von V. regelmäßig zu hören: »Warten Sie nur ab, Sie haben den Kalix überlebt, Sie werden auch Mutschmann und Adolf überleben!« Dieser nüchterne Mann also, übrigens ein Protestant, und also nicht etwa in seiner Kindheit mit Heiligen- und Märtyrergeschichten durchtränkt, erzählte uns das Folgende mit genau der gleichen selbstverständlichen Gläubigkeit, mit der er sonst von Kalix’ kleinen und Mutschmanns großen Niederträchtigkeiten zu berichten pflegte.
Ein SS-Obersturmführer in Halle oder Jena – er machte genaue Angaben über Ort und Personen, ihm war alles »verbürgt« von »absolut glaubhafter Seite« mitgeteilt worden –, ein höherer SS-Offizier hatte seine Frau zur Entbindung in eine Privatklinik gebracht. Er sah sich ihr Zimmer an; über dem Bett hing ein Christusbild. »Nehmen Sie das Bild da herunter«, verlangte er von der Schwester, »ich will nicht, daß mein Sohn als erstes einen [79]Judenjungen sieht.« Sie werde es der Frau Oberin sagen, wich die ängstliche Schwester aus, und der SS-Mann ging, nachdem er seinen Befehl wiederholt hatte. Schon am nächsten Morgen telefonierte ihm die Oberin: »Sie haben einen Sohn, Herr Obersturmführer, Ihrer Gattin geht es gut, auch das Kind ist kräftig. Nur ist Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen: das Kind ist blind zur Welt gekommen …«
Wie oft in den Zeiten des Dritten Reiches ist auf die glaubensunfähige, skeptische Intelligenz des Juden gescholten worden! Aber auch der Jude hat seine Legende produziert und geglaubt. Ende 1943 nach dem ersten schweren Fliegerangriff auf Leipzig hörte ich wiederholt im Judenhaus erzählen: Im Jahre 1938 seien die Juden um 4 Uhr 15 nachts aus den Betten geholt worden, um ins KZ verschleppt zu werden. Und neulich beim Bombenangriff seien alle Stadtuhren genau um 4 Uhr 15 stehengeblieben.
Sieben Monate zuvor hatten sich Arier und Nichtarier gläubig im Legendarischen zusammengefunden. Die Babisnauer Pappel. Sie steht, merkwürdig isoliert, überragend und bedeutend, von merkwürdig vielen Punkten aus sichtbar, auf dem Höhenzug im Südosten der Stadt. Anfang Mai berichtete meine Frau das erstemal, in den Trambahnen habe sie schon wiederholt die Babisnauer Pappel nennen hören; sie wisse nicht, was es mit ihr auf sich habe. Ein paar Tage darauf hieß es auch bei mir in der Fabrik: Die Babisnauer Pappel! Ich fragte, weshalb man sie nenne. Ich bekam zur Antwort: weil sie blühe. Das komme selten vor; 1918 sei es der Fall gewesen, und 1918 sei dann der Friede geschlossen worden. Sofort verbesserte eine Arbeiterin: Nicht nur 1918, ebenso sei es 1871 eingetreten. »Und in den anderen Kriegen des Jahrhunderts auch«, setzte eine Vorarbeiterin hinzu, und der Hausdiener verallgemeinerte: »Immer wenn sie geblüht hat, ist Friede geschlossen worden.«
Am nächsten Montag sagte Feder: »Das war gestern eine wahre Völkerwanderung zur Babisnauer Pappel hinaus. Sie blüht wirklich aufs prächtigste. Vielleicht wird doch Friede – ganz von der Hand zu weisen ist Volksglaube nie.« Feder, der mit dem Judenstern und mit der Staubschutzkappe, die er aus seinem alten Richterbarett hergestellt hatte.