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[58]VII Aufziehen

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Ich ziehe eine Uhr auf, ich ziehe die Kette eines Gewebes am Webstuhl auf, ich ziehe ein automatisches Spielzeug auf: überall handelt es sich um mechanische Tätigkeit, die an einem widerstandslosen, leblosen Ding ausgeübt wird.

Vom automatischen Spielzeug, dem drehenden Brummkreisel, dem laufenden und nickenden Tier, führt der Weg zur metaphorischen Anwendung des Ausdrucks: ich ziehe einen Menschen auf. Das heißt: ich necke ihn, ich mache ihn zur komischen Person, zum Hampelmann; Bergsons Erklärung des Komischen, es bestehe in der Automatisierung des Lebendigen, findet sich hier durch den Sprachgebrauch bestätigt.

Gewiß ist »Aufziehen« in diesem Sinn ein zwar harmloses, aber doch ein Pejorativ. (So nennt der Philologe jede »verschlechterte« oder verringerte Wortbedeutung; der Kaisername Augustus, der Erhabene, ergibt als Pejorativ den dummen August, den Zirkusclown.)

In der Moderne bekam »aufziehen« eine zugleich lobende und doch entschieden pejorative Sonderbedeutung. Man sagte von einer Reklame, sie sei gut oder groß aufgezogen. Das bedeutete die Anerkennung geschäftlicher, werbungstechnischer Tüchtigkeit, war aber zugleich ein Hinweis auf das Übertreibende, das Marktschreierische, das nicht ganz dem tatsächlichen Wert der angepriesenen Sache Entsprechende eines Angebots. Vollkommen deutlich und eindeutig als Pejorativ trat das Verbum auf, wenn ein Theaterkritiker urteilte, der Autor habe die und jene Szene groß aufgezogen. Das hieß, der Mann sei mehr skrupelloser Techniker (und Publikumsverführer) als ehrlicher Dichter.

Ganz im Anfang des Dritten Reichs sah es einen Augenblick so aus, als übernähme die LTI diese metaphorische Tadelsbedeutung. Die nazistischen Zeitungen rühmten als patriotische Tat, daß brave Studenten »das wissenschaftlich aufgezogene Institut für [59]Sexualforschung des Professors Magnus Hirschfeld zerstört« hatten. Hirschfeld war Jude, und also war sein Institut »wissenschaftlich aufgezogen« und nicht wahrhaft wissenschaftlich.

Aber wenige Tage später zeigte es sich, daß dem Verbum an sich nichts Pejoratives mehr anhaftete. Am 30. Juni 1933 erklärte Goebbels in der Hochschule für Politik, die NSDAP habe eine »Riesenorganisation von mehreren Millionen aufgezogen, in der ist alles zusammengefaßt, Volkstheater, Volksspiele, Sporttouristik, Wandern, Singen, und wird vom Staat mit allen Mitteln unterstützt«. Jetzt ist »aufziehen« vollkommen ehrlich, und wenn die Regierung triumphierend Rechenschaft ablegt von der Propaganda, die der Saar-Abstimmung voraufgegangen ist, dann spricht sie von der »groß aufgezogenen Aktion«. Keiner Seele fällt es mehr ein, etwas Reklamehaftes in dem Wort zu finden. 1935 erscheint in deutscher Übersetzung aus dem Englischen bei Holle & Co. »Seiji Noma, Autobiographie des japanischen Zeitungskönigs«. Dort heißt es mit voller Anerkennung: »Jetzt entschloß ich mich …, eine vorbildliche Organisation zur Erziehung studentischer Redner aufzuziehen.«

Die gänzliche Unempfindlichkeit gegen den mechanistischen Sinn des Verbums geht daraus hervor, daß es wiederholt von einer Organisation ausgesagt wird. Hier liegt eine der stärksten Spannungen der LTI offen: während sie überall das Organische, das naturhaft Gewachsene betont, ist sie gleichzeitig von mechanischen Ausdrücken überschwemmt und ohne Gefühl für den Stilbruch und die Würdelosigkeit solcher Zusammenstellungen wie einer »aufgezogenen Organisation«.

»Fragt sich nur, ob man die Nazis für ›aufziehen‹ verantwortlich machen darf«, warf mir F. ein. Wir hatten im Sommer 1943 Nachtschicht an derselben Mischtrommel für deutsche Tees, es war eine sehr anstrengende Arbeit, besonders in der Hitze, da wir des furchtbaren Staubes halber Kopf und Gesicht vermummt halten mußten wie die Chirurgen; in den Pausen nahmen wir Brille, Mundtuch und Mütze ab – F. trug ein altes Richterbarett, er war Landgerichtsrat gewesen –, saßen auf einer Kiste und unterhielten uns über Völkerpsychologie, wenn wir nicht die Kriegslage [60]erörterten. Wie alle, die das Judenhaus in der engen Sporergasse bewohnten, ist er in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 zugrunde gegangen.

Von »aufziehen« also behauptete er, es schon um 1920 in ganz neutraler Bedeutung gehört und gelesen zu haben. »Gleichzeitig mit, und ähnlich wie plakatieren«, sagte er. Ich erwiderte ihm, daß mir »aufziehen« im neutralen Sinn von damals her nicht bekannt sei, und daß mich die gedächtnismäßige Zusammenstellung mit »plakatieren« doch auf pejorative Tönung schließen lasse. Vor allem aber, und dies ist nun eine Meinung, der ich prinzipiell in allen einschlägigen Reflexionen folge, vor allem komme es mir nie darauf an, die Erstmaligkeit eines Ausdrucks oder einer bestimmten Wortwertung festzustellen, denn das sei doch in den allermeisten Fällen unmöglich, und wenn man den ersten gefunden zu haben meine, der das betreffende Wort gebrauche, so finde sich immer noch ein Vorgänger hinzu. F. möge nur im Büchmann unter »Übermensch« nachsehen: bis auf die Antike werde das Wort zurückgeführt.

Und ich selbst habe neulich im alten Fontane, im »Stechlin«, einen »Untermenschen« entdeckt, wo doch die Nazis so stolz auf ihre jüdischen und kommunistischen Untermenschen und das dazugehörige Untermenschentum sind.

Mögen sie ruhig darauf stolz sein, genauso wie Nietzsche trotz berühmter Vorgänger auf seinen Übermenschen stolz sein darf. Denn ein Wort oder eine bestimmte Wortfärbung oder -wertung gewinnen erst da innerhalb einer Sprache Leben, sind erst da wirklich existent, wo sie in den Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeitlang darin behaupten. In diesem Sinn ist der »Übermensch« fraglos Nietzsches Schöpfung, und der »Untermensch« und das unspöttisch neutrale »aufziehen« kommen bestimmt auf das Konto des Dritten Reichs. – –

Wird ihre Zeit mit der des Nazismus abgelaufen sein?

Ich bemühe mich darum, bin aber skeptisch.

Diese Notiz arbeitete ich im Januar 1946 aus. Am Tage nach der Fertigstellung hatten wir eine Sitzung des Dresdner Kulturbundes. [61]Ein Dutzend derer, denen durch ihre Wahl besondere Kultiviertheit bezeugt worden ist, und die nun also vorbildlich wirken sollen. Es ging um die Veranstaltung einer der jetzt ringsum üblichen Kulturwochen, u. a. um eine Kunstausstellung. Einer der Herren sagte, etliche der für die »Volkssolidarität« gestifteten und nun in die Ausstellung einzubeziehenden Bilder seien Schinken. Sofort wurde ihm erwidert: »Unmöglich! Wenn wir hier in Dresden eine Kunstausstellung veranstalten, dann müssen wir sie auch groß und unantastbar aufziehen.«

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