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[105]XV Knif

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»Knif« habe ich schon zwei Jahre vor dem Kriege das erstemal gehört. Berthold M., der gekommen war, seine letzten hiesigen Geschäfte abzuwickeln, bevor er nach Amerika hinüberging – (»Wozu soll ich mich hier langsam abwürgen lassen? In ein paar Jahren sehen wir uns wieder!«) –, Berthold M. sagte es auf meine Frage, ob er an die ständige Dauer des Régimes glaube: »Knif!« Und indem der etwas gespielte spöttische Gleichmut nun doch in Erbitterung überging, die ihrerseits wiederum verborgen werden mußte, denn so erforderte es das Berliner Bushido, setzte er mit energischerer Betonung hinzu: »Kakfif!« Ich sah ihn fragend an, und er erklärte herablassend, ich sei eben ein Provinzler geworden und wüßte gar nichts mehr von Berlin: »Alle Welt sagt das bei uns täglich ein dutzendmal. ›Knif‹ heißt: ›Kommt nicht in Frage‹, und Kakfif: ›Kommt auf keinen Fall in Frage‹!«

Sinn für die fragwürdige Seite einer Angelegenheit und kritischer Witz sind immer berlinische Grundeigenschaften gewesen (weswegen ich es denn bis heute nie habe begreifen können, wie der Nazismus in Berlin aufzukommen vermochte); und so hatten die Berliner schon um die Mitte der dreißiger Jahre die Komik der Abbreviaturenmanie erfaßt. Wenn man die Komik ein klein bißchen unanständig gestalten kann, dann wirkt sie durch solche Würze doppelt; so entstand als Gegengift der Berliner Keller- und Bombennächte der Gutenachtwunsch: »Popo«, d. h. »Penne ohne Pause oben!«

Später, im März 1944, kam es einmal zu einer ernsthaften öffentlichen und offiziellen Warnung vor dem mißbräuchlichen Übermaß der »Stummelwörter«, wie die Abbreviaturen hierbei genannt wurden. Die repräsentative »DAZ« widmete den ständigen Abschnitt »Unsere Meinung« bisweilen sprachlichen Dingen. Diesmal berichtete sie von einer behördlichen Verfügung, die dem weiteren Umsichgreifen der sprachverhunzenden Kurzwörter entgegenwirken wollte. Als wenn man durch eine Einzelverfügung zurückschneiden [106]könnte, was man selbst immer wieder kultiviert hat und noch immer kultiviert, ja was unablässig von sich aus und ohne alles Zutun aus dem Wesen dessen hervorwächst, der nun dies Wachstum hemmen möchte. Ob eine Lautgruppe wie »Hersta der Wigru« noch deutsch sei, wurde gefragt; sie stand in einem Wirtschaftslexikon und bedeutete: »Herstellungsanweisung der Wirtschaftsgruppe«.

Zeitlich zwischen den Berliner Volkswitz und die ernste Betrachtung der »DAZ« schiebt sich etwas, das nach Übertäubung eines bösen Gewissens und nach Schuldabwälzung aussieht. Ein Artikel im »Reich« (vom 8. August 1943) mit dem poetischen Titel »Hang und Zwang zur Kürze« macht für abkürzende »Sprachungetüme« den Bolschewismus haftbar; solchen Ungetümen stemme sich der deutsche Humor entgegen; es gebe aber auch gelungene Kurzwörter, und diese seien (natürlich!) deutsche Volksschöpfungen, wie z. B. das schon im ersten Weltkrieg verbreitete »Ari« für Artillerie.

An diesem Aufsatz ist alles schief: Abbreviaturen sind durchaus Kunstschöpfungen und so wenig im Volk gewachsen wie das Esperanto; das Volk steuert von sich aus in den meisten Fällen nur spöttische Nachahmungen bei, Bildungen wie »Ari« sind Ausnahmen. Und auch der Vorwurf der russischen Urheberschaft, was die Sprachungetüme anlangt, kann vernünftigerweise nicht aufrechtgehalten werden. Er geht übrigens offenbar auf einen Artikel zurück, der ein Vierteljahr zuvor (am 7. Mai) im »Reich« erschienen war. Darin hieß es von dem russischen Sprachunterricht im entfaschisierten Süditalien: »Die Bolschewiken haben die russische Sprache unter einer Flut mißtönender Abkürzungs- und Kunstwörter begraben …, die süditalienischen Schüler lernen einen Slang.«

Der Nazismus mag auf dem Wege über den italienischen Faschismus dem Bolschewismus noch so vieles abgesehen haben (um es dann, ein Midas der Lüge, wie alles, was er anrührte, ins Lügnerische zu kehren): die Bildung von Kurzwörtern brauchte er ihm nicht zu stehlen, denn die war seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und nun gar seit dem ersten Weltkrieg, bereits überall im Schwang, in Deutschland, in allen europäischen Ländern, in aller Welt.

[107]Es gab längst in Berlin das KDW, das Kaufhaus des Westens, es gab noch viel länger die HAPAG. Es gab einen hübschen französischen Roman, der Mitsou hieß; Mitsou ist das Kurzwort für ein industrielles Unternehmen und zugleich der Name einer zugehörigen Geliebten, und diese Erotisierung bietet ein sicheres Anzeichen dafür, daß sich die Form der Abbreviatur in Frankreich eingebürgert hatte.

Italien besaß einige besonders kunstvolle Kurzbildungen. Man kann nämlich hierbei drei Stufen unterscheiden: die primitivste setzt einfach ein paar Buchstaben aneinander, BDM etwa; die zweite bildet eine Lautgruppe, die sich als Wort aussprechen läßt; die dritte aber formt ein Wort der vorhandenen Sprache nach, und das ursprüngliche Wort hat irgendeinen Bezug zu dem, was es als Abbreviatur ausdrückt. Das Wort der Schöpfung: »Fiat« (es werde!) bezeichnet ein stolzes Automobil der »Fabbriche Italiane Automobili Torino«, und die Filmwochenschau im faschistischen Italien heißt »Luce« (Licht), worin die Anfangsbuchstaben des Allgemeinbundes für pädagogische Filme, der Lega universale di cinematografia educativa, enthalten sind. Als Goebbels der Aktion »Hinein in die Betriebe!« das Kurzwort »Hib-Aktion« fand, war das eine nur im mündlichen Gebrauch schlagkräftige Ausdrucksform; zur Vollkommenheit im Druck fehlte ihr die orthographische Richtigkeit.

Von Japan erfuhr man, daß dort ein junger Mann und ein junges Mädchen, die sich auf europäisch-amerikanische Art kleideten und betrugen, »Mobo« und »Mogo«, modern boy und modern girl, genannt wurden.

Und wie mit der räumlichen Ausdehnung der Kurzwörter verhält es sich schließlich auch mit ihrer Ausdehnung in der Zeit. Denn ist nicht das Kennwort und Symbol der frühesten Christengemeinden, Ichthys, der Fisch, solch eine Abbreviatur, da es die Anfangsbuchstaben der griechischen Wörter für »Jesus Christus, der Sohn Gottes, der Erlöser« enthält?

Wenn sich aber das Kurzwort derart durch Zeit und Raum dehnt, inwiefern ist es dann ein besonderes Signum und ein besonderes Übel der LTI?

[108]Zur Beantwortung dieser Frage vergegenwärtige ich mir die Aufgaben, die man vor dem Nazismus den Abbreviaturen abverlangte.

Ichthys ist das Zeichen eines religiösen Geheimbundes, die doppelte Romantik geheimen Einverständnisses und mystischen Aufschwungs haftet ihm an. Hapag hat die geschäftlich notwendige, die zur Telegrammadresse geeignete Kürze. Ich weiß nicht, ob man aus dem so weitaus ehrwürdigeren Alter des romantisch-transzendenten, des ideellen Formelgebrauchs den Schluß ziehen darf – und ich stehe ähnlichen Schlüssen in Dingen der Sprache und der Poesie gleich skeptisch gegenüber –, daß das religiöse Ausdrucksbedürfnis vor dem praktischen seine Form gefunden habe; es ist vielleicht nur dem Ausdruck des Feierlichen eher die Ehre der fixierten Aufbewahrung zuteil geworden als dem des Alltäglichen.

Übrigens wird bei genauerem Hinsehen die Grenze zwischen dem Romantischen und dem Realen sehr unsicher. Wer sich der verkürzten Fachbezeichnung eines Industrieartikels, wer sich einer Telegrammadresse bedient, wird immer, stärker oder schwächer, bewußt oder unbewußt, das wärmende Gefühl haben, durch ein Sonderwissen, einen Sonderkonnex aus der allgemeinen Masse herauszuragen, als Eingeweihter einer besonderen Gemeinschaft anzugehören; und die Fachleute, die das entsprechende Kurzwort gefertigt haben, sind sich dieser Gefühlswirkung sehr deutlich bewußt und stellen sie stark in Rechnung. Dabei bleibt natürlich gewiß, daß der moderne Allgemeinbedarf an Kurzwörtern aus realem Geschäftsbedürfnis, kaufmännischem und industriellem, entstanden ist. Und wo die Grenze zwischen industriellen und wissenschaftlichen Abbreviaturen läuft, ist auch wieder nicht mit Bestimmtheit zu sagen.

Ausgangspunkt der modernen Kurzwortwelle sind sicherlich die Vormachtländer des Kaufmännischen und Industriellen, England und Amerika, und sicherlich – von daher der Angriff auf die russischen »Sprachungetüme« – hat sich Sowjetrußland dem Zustrom der Abbreviaturen besonders geneigt erwiesen, da ja Lenin die Technisierung des Landes als ein Hauptpostulat aufstellte und hierfür das Vorbild in den Vereinigten Staaten suchte … Notizbuch des Philologen! Wie viele Themen für Seminararbeiten und [109]Dissertationen stecken in diesen paar Zeilen, wieviel neue Einblicke in Sprach- und Kulturgeschichte sind von hier aus noch zu gewinnen …

Aber das moderne Kurzwort hat sich nicht nur auf dem fachlich-wirtschaftlichen Gebiet entwickelt, sondern auch auf dem politisch-wirtschaftlichen und dem im engeren Sinn politischen Felde. Wo immer es sich um eine Gewerkschaft, eine Organisation, eine Partei handelt, da ist auch die Abbreviatur zur Stelle, und da macht sich jener Gefühlswert der Sonderbezeichnung deutlich bemerkbar. Diese Sparte der Kurzwörter ebenfalls auf amerikanische Herkunft zurückführen zu wollen, scheint mir unangebracht; ich weiß nicht, ob die Bezeichnung SPD sich an ein fremdes Sprachvorbild anlehnen mußte. Für das ungemeine Umsichgreifen solcher Kurzformen in Deutschland dürfte freilich die Nachahmung des Auslandes verantwortlich sein.

Sogleich aber kommt wieder etwas Deutsch-Autochthones ins Spiel. Die stärkste Organisation des kaiserlichen Deutschlands war das Heer. Und in der Heeressprache fanden sich seit dem ersten Weltkrieg alle Abkürzungsarten und -motive zusammen, die knappe Bezeichnung für das technische Gerät und für die Gruppe, das Geheimwort als Schutz nach außen und als Zusammengehörigkeit nach innen.

Frage ich mich nun, ob und weshalb das Kurzwort unter die hervorstechenden Charakteristika der LTI gerechnet werden muß, so ist die Antwort klar. Kein vorhergehender Sprachstil macht einen so exorbitanten Gebrauch von dieser Form wie das Hitlerdeutsch. Das moderne Kurzwort stellt sich überall dort ein, wo technisiert und wo organisiert wird. Und seinem Anspruch auf Totalität gemäß technisiert und organisiert der Nazismus eben alles. Daher die unübersehbare Masse seiner Abbreviaturen. Weil er sich aber aus dem gleichen Totalitätsanspruch heraus auch des gesamten Innenlebens zu bemächtigen sucht, weil er Religion sein will und überall das Hakenkreuz aufpflanzt, so ist auch jedes seiner Kurzwörter dem alten christlichen »Fisch« verwandt: Kradschütze oder Mannschaft am MG, Glied der HJ oder der DAF – man ist immer »verschworene Gemeinschaft«.

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