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1.

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Mit einer fahrigen Bewegung wischte Charlotte ihre feuchten Hände an der Jeans ab. Verwundert betrachtete sie sie. Seit wann bekam sie solches Muffensausen? Sie war doch sonst nicht so, ging es ihr durch den Kopf. Unnötig jetzt darüber nachzudenken. In wenigen Minuten würde alles anders sein. Es war zu spät, um wegzulaufen.

Um sich von ihren Gedanken abzulenken, griff sie nach der Handtasche und fischte die Puderdose hervor. Mit zusammengekniffenen Lippen beäugte sie sich in der kleinen Spiegelfläche. Ein blasses Gesicht, mit dunklen Schatten unter den Augen starrte ihr entgegen. Mit ein paar Handgriffen erneuerte sie das Make-up und schob die Puderdose zurück in die Handtasche. Als das Signal für das Erlöschen der Anschnallzeichen ertönte, seufzte sie auf.

„Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in London Heathrow. Das Wetter ist typisch britisch, einige Regenschauer, mit angenehmen zehn Grad.“ Die kühle Stimme der Flugbegleiterin schwebte durch den Flieger. „Wir möchten Sie bitten darauf zu achten, keine Gepäckstücke in den oberen Ablagen zu vergessen.“

Charlotte, ihre Handtasche im Klammergriff, hörte nicht weiter zu, und renkte sich lieber den Hals aus, bei dem Versuch über die siebzehn Sitzreihen vor ihr zu sehen.

„Na endlich!“, flüsterte sie, als die ersten Reihen sich erhoben und auf den Ausgang zudrängten. Mit gerunzelter Stirn verfolgte Charlotte, wie sie einer nach dem anderen an der lächelnden Crew vorbeimarschierten, während hinter ihnen schon die nächsten Passagiere warteten.

„Oh man, wie lange dauert das denn noch?“, fragte Regan, die den Ausgang von ihrem Gangplatz aus ebenfalls im Auge behielt.

„Keine Ahnung!“, gab Charlotte zurück und wühlte unter ihrem Schal nach ihrem Kettenanhänger in Form einer Schneeflocke. Sie rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Es dauert eben so lange, bis jeder von diesen Sonntagsfliegern draußen ist.“

„Ich will hier raus!“

„Und ich erst!“, murmelte Charlotte und betastete mit ihren Fingern das alte Lederband. „Wenn wir eine Lücke sehen, zwängen wir uns durch“, wies sie ihre Tochter an. Sie ließ die Kette los, bückte sich, zerrte Regans Rucksack unter dem Sitz der vorderen Reihe hervor und drückte ihn ihr in den Arm.

„Da!“

Unsanft schubste sie Regan in den Gang und zwängte sich gleich hinterher.

„Können Sie nicht warten, wie jeder andere auch!“, regte sich der Mann, dem sie mit ihrer Drängelei den Weg abgeschnitten hatten, auf.

„Entschuldigung. Aber wir haben es eilig!“, zischte Charlotte, hielt sich nicht mit weiteren Erklärungen auf und schob ihre Tochter in Richtung Ausgang.

„Kein Schokoherz. Einfach dran vorbei rauschen!“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

„Aber“, setzte Regan zum Widerspruch an.

„Kein Aber! Wenn wir erst sicher daheim sind, kannst du Schokoherzen haben so viel du willst“, zischte Charlotte. „Kein Widerspruch!“, setzte sie hinzu, als sie ihre Tochter schon beinahe aus dem Flieger stieß.

Mit raschen Schritten lief sie den Verbindungstunnel entlang, der sie in Richtung Ankunftshalle und Gepäckaufbewahrung brachte. Dort angekommen blickte sie sich um.

„Da! Hol uns einen der Wagen!“, befahl sie Regan.

Sie schritt die verschiedenen Gepäckbänder ab und studierte die Anzeigetafeln. Dann blieb sie vor einem der Gepäckbänder stehen. Ungeduldig wippte sie auf den Zehen auf und ab, starrte auf die quadratische Öffnung in der Wand, durch die das Gepäck kommen musste.

Nur noch das Gepäck holen, redete sich Charlotte gut zu, während sie an einer Haarsträhne zupfte. Gleich würden sie hier hinausspazieren, Tom würde da sein und sie würden heimfahren. In ihr neues Leben, das nicht nur seinem Terminplan abgetrotzte Momente auf der Durchreise und immer auf der Flucht vor den Fotografen, sondern ein gemeinsames Zuhause mit zusammen aufstehen und gemeinsamen zu Bett gehen versprach.

„Wie lange dauert das denn noch!“, murmelte sie. „Ihr hattet doch jetzt genug Zeit den Krempel zu holen!“

„Da vorne kommt was!“ Regan war inzwischen mit einem Gepäckwagen aufgetaucht. Sie deutete auf die quadratische Öffnung, aus der sich nun unter lautem Gequietsche des Bandes, ein Rucksack mit schob. Langsam drehte das einsame Gepäckstück eine Runde und alle umstehenden Passagiere sahen ihm gebannt zu, doch keiner sprintete nach vorn, um es für sich zu beanspruchen und so verschwand er wieder in den Tiefen hinter der Wand und das Band kam zum Erliegen.

„Na super. War das schon alles?“ Charlotte trat zwei Schritte zurück und kontrollierte die Anzeigetafel über dem Gepäckband. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt und das hier war nicht ihre Gepäckausgabe. Aber nein, dort stand es. Klar und deutlich. British Airways Flug 1098 von Berlin nach London Heathrow, gelandet vor zwanzig Minuten. Sie war richtig.

„Macht schneller!“ Charlotte starrte jetzt in Richtung Beginn des Gepäckbandes, als könnte sie mit ihren Blicken die Arbeit der Gepäckausgabe beschleunigen. Als ein Mann hinter ihr hustete, fuhr sie herum, ihr ganzer Körper angespannt, eine Hand um den Kettenanhänger geklammert, die andere auf Regans Schulter, bereit, sie zu packen und zu laufen. Doch als sie merkte, dass das nur ein harmloser Geschäftsreisender mit einer Erkältung, deutlich erkennbar an der rudolfroten Nase, war, atmete sie auf und entspannte sich.

Jetzt fängst du noch an Gespenster zu sehen, schalt sie sich selbst in Gedanken. Was wenn es jemand bemerken würde! Das wäre ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse!

„Mum? Alles in Ordnung?“

„Ja, Schatz. Alles in Ordnung.“ Charlotte versuchte sich an einem Lächeln und griff wieder nach ihrem Anhänger. „Sobald die das endlich mit dem Gepäck schaffen, sind wir hier raus und in Sicherheit.“

Regan nickte, als das helle Licht anfing, über dem Band zu flackern und sich das Gepäckband mit einem Rucken in Bewegung setzte. Durch die Menge der Mitreisenden ging ein kollektives Seufzen der Erleichterung. Und dann trat der ihnen bereits bekannte Rucksack seine zweite Reise an. Diesmal jedoch nicht allein, sondern ihm folgten noch andere Gepäckstücke.

Schon sah Charlotte die ersten Reisenden auf das Band zustürzen. Nach und nach lichteten sich die Reihen der Passagiere mit jedem weiteren Gepäckstück, nur ihre Koffer fehlten noch immer.

„Unsers ist mal wieder das Allerletzte.“ Regan begann am Griff des Gepäckwagens zu zerren.

„Lass das!“, fuhr Charlotte sie an. „Dass du mich immer wahnsinnig machen musst!“ Inzwischen waren außer ihnen nur noch zwei weitere Passagiere des Fluges in der Halle und einer der beiden hievte gerade seinen Koffer vom Band.

„Was ist, wenn unsere nicht kommen? So gar nicht?“

„Quatsch“, stritt Charlotte ab und zwirbelte das Band mit der Flocke zwischen ihren Fingern.

„Was? Das kann passieren. Isa sagt, Freunde von ihr haben mal zwei Wochen auf ihren Koffer warten müssen, als sie in die Türkei gereist sind. Der ganze Urlaub war im Eimer und die Mutter von Isas Freundin war die ganze Zeit über total schlecht gelaunt.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Charlotte schloss ihre Finger um die Schneeflocke und öffnete sie wieder, als sich ein Koffer aus der Öffnung schob.

Rasch wollte sie vorspringen und ihn vom Band zerren. Doch noch in der Bewegung erkannte sie, dass es nicht ihrer war. Der andere Passagier schoss an ihr vorbei und holte sich sein Gepäck. Mit einem letzten, fast mitleidigen Blick auf sie und Regan, drehte er sich um und verließ die Halle.

„Scheiße!“, entfuhr es Charlotte, als das Band stoppte und das Licht erlosch.

„Und nun?“, fragte Regan.

„Nichts und nun!“

Regans Blicke wanderten zwischen ihr und dem stillstehenden Band hin und her.

„Aber unsere Koffer sind gar nicht da“, stellte sie mit einem Jammern fest.

„Oh wirklich!“, meinte Charlotte. „Ist mir noch gar nicht aufgefallen!“ Sie griff nach Regans Hand und schubste den Gepäckwagen aus dem Weg und zerrte ihre Tochter hinter sich her auf den Ausgang zu.

„Aber die Koffer!“

„Um die kümmere ich mich später. Erst mal müssen wir hier raus.“

Charlotte schleifte Regan durch die Türen und blieb wie erstarrt stehen!

Grelles Licht schlug ihr entgegen. Dann Stimmengewirr, laute Rufe. Noch mehr Blitzlicht und dahinter Schatten. Schatten, die, wie eine dunkle Masse zu beiden Seiten der Türen und direkt vor ihr standen und den Weg versperrten. Innerhalb von Sekunden sah sie nur noch tanzende, schwarz-weiße Schemen. Geblendet kniff sie die Augen zusammen und hob einen Arm vor das Gesicht.

„Was zur Hölle...?“, entfuhr es ihr, als das Blitzen nachgelassen hatte und sie wieder sehen konnte. „Heilige Mutter Gottes! Das ist ne ganze Armada!“ Entsetzt starrte sie in die Masse aus Gesichtern und Kameraobjektiven.

„Mrs. Grottinger! Hierher!“

„Charlotte, willkommen in Großbritannien!“, schallte es ihr entgegen und Charlotte, den Arm schützend vor ihr Gesicht gehoben, knurrte nur: „Heißen Dank auch!“

„Lächeln Sie für uns!“, rief ein anderer Fotograf.

„Wie fühlen Sie sich jetzt, wo sie Ihren Traumprinzen sicher haben? Ein Interview? Erste Kommentare?“

Charlotte riss den Arm herunter und funkelte wütend in die Kameraobjektive.

Erste Kommentare, das könnte euch so passen! Und was soll das heißen, den Traumprinzen gesichert?, schäumte sie im Stillen.

„Ein Foto mit Ihrer Tochter?“, schallte es ihr von der anderen Seite entgegen und so sehr Charlotte auch versuchte den Rufer auszumachen, sie konnte ihn in der Masse und all dem Geflimmer nicht finden.

„Die sind überall!“, rief Regan.

„Woher wissen die, dass wir hier sind?“ Charlotte zog ihre Tochter eng an sich, klammerte sich an sie.

„Mum! Du tust mir weh!“ Regan versuchte ihre Hand abzuschütteln, doch Charlotte presste sie nur noch enger an sich.

„Kannst du Tom irgendwo sehen?“

Regan stellte sich auf die Zehenspitzen. „Da! Ganz da hinten!“, rief sie und zeigte auf einen Punkt irgendwo hinter der Masse aus Fotografen.

„Super!“, fluchte Charlotte und griff nach Regans Hand. „Nicht loslassen!“, sagte sie und schob sich auf die Wand der Fotografen zu.

Zu ihrer Linken blitzte es.

„Da hab ich jetzt so Bock drauf. Das hat mir gerade noch gefehlt“, flüsterte sie, kramte in ihrer Handtasche nach ihrer Sonnenbrille und schob sie auf die Nase. Durch die getönten Scheiben beäugte sie die Fotografen misstrauisch. Ob die wohl weggehen würden, wenn ich genau auf sie zuhalten würde?, fragte sie sich.

„Entschuldigung“, fuhr sie zwei der Leute an. „Wir möchten hier durch!“

Die Wand aus Objektiven und Menschen wich nach hinten zurück, aber es entstand auch nicht die kleinste Lücke.

„Idioten!“, flüsterte Charlotte, schloss die Hand um ihren Anhänger und bewegte sich weiter auf die Wand zu, Regans Hand fest umklammert.

„Tom?“, rief sie. „Tom!“

„Ich bin hier.“

Die Fotografen nicht beachtend, bahnte er sich einen Weg durch die Menge, als seien diese Leute kein solides Hindernis, sondern Wasser, das man einfach teilen konnte.

„Tom!“, Regan jubelte hell auf.

Er lächelte, als er auf sie und Charlotte zutrat, breitete seine Arme aus. Noch bevor Charlotte es verhindern konnte, hatte sich ihre Tochter losgerissen und warf sich in seine Arme.

„Regan!“, rief sie ihr empört hinterher.

„Ach Kleine! Es tut so gut, dich zu sehen!“ Thomas vergrub seinen Kopf in Regans kastanienbraunen Locken. „Ich habe dich so vermisst.“ Und Charlotte hörte das Kind kichernd antworten: „Ich dich auch, Blödmann!“ Die beiden strahlten sich an, als wenn sie einen Werbespot für Zahnpasta drehen würden.

„Und ich bin nicht wichtig oder wie?“, empörte sich Charlotte.

Thomas schälte sich aus der Umarmung, tätschelte Regan den Kopf, als sei sie ein Cockerspaniel und trat auf Charlotte zu. „Oh doch. Aber ich dachte, dass es nicht so dein Ding ist, mit wehenden Haaren in meine Arme zu fallen“, meinte er und pflückte ihr die Sonnenbrille von der Nase.

„Da kannst du Gift drauf nehmen“, antwortete Charlotte leise, als sie steif voreinander standen, ganz so, als hätten sie vergessen, wie man sich liebevoll begrüßte.

„Kein Kuss?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Nicht vor all diesen verdammten Geiern“, sagte sie. „Warum sind die überhaupt hier? Haben du und James etwa bekannt gegeben, dass wir heute ankommen? “

Thomas lächelte nach wie vor, aber Charlotte merkte, dass es das Presselächeln war, welches er in unangenehmen Situationen aufsetzte.

„Ich habe keine Ahnung. Irgendwie scheinen sie davon Wind bekommen zu haben.“

„Na ganz toll!“, stöhnte Charlotte. „Die sind der letzte Rest, der mir heute noch gefehlt hat! Lass uns verschwinden! Ich will nur noch weg!“

„Gern“, meinte Thomas und blickte an ihr vorbei und stutzte. „Wo sind deine Koffer? Habt ihr etwa kein Gepäck?“

„Doch, hatten wir schon.“

„Aber es ist nicht gekommen“, piepste Regan.

„Wie? Nicht gekommen?“

„Es ist nicht mitgekommen, unterwegs verloren gegangen. Es wird gerade hinter den Kulissen durchsucht, um pikante Details an die Presse weiterzureichen! Was weiß denn ich!“, brauste Charlotte auf. „Müssen wir das jetzt und hier besprechen? Wirklich?“

„Nun ja, wir müssen es zumindest als verloren melden“, sagte Thomas.

Charlotte rollte die Augen und gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Können wir das nicht später machen? Oder per Internet?“

„Und was willst du zwischenzeitlich anziehen?“

„Wir können doch shoppen gehen! London ist doch eine Modehauptstadt, oder nicht?“, fuhr Charlotte Thomas an. Sie wurde rot, als sie merkte, wie barsch sie gewesen war.

„Charlotte, bitte!“ Thomas machte eine rasche Kopfbewegung in Richtung der Fotografen.

„Sorry. Trotzdem: Aasgeier!“

„Ich würde vorschlagen, wir beruhigen uns jetzt alle wieder“, sagte Thomas, „gehen das Gepäck als vermisst melden und fahren im Anschluss nach Hause.“

Charlotte widersprach ihm nicht, aber ihre Miene vermittelte nur zu deutlich, was sie von der Idee hielt, als sie ihm dicht auf den Fersen folgte, den Pulk von Fotografen hinter sich herziehend.

Lotte in London

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