Читать книгу Rabengelächter - Viona Kagerer - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеEr war größer als ich und selbst hier im Flur konnte man den Windstoß spüren, den seine Flügel beim Landen verursachten. Meine Mutter blieb entschlossen im Türrahmen stehen, während ich im Krebsgang rückwärtskroch und leise flüsterte, um das Monstervieh nicht zu verschrecken: „Mama, komm jetzt ganz langsam, ohne hektische Bewegungen, wieder rein und mach dann schnell die Tür zu. Aber gaaaaaanz langsam!“
Doch sie machte keine Anstalten, auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rücken. Ich wollte mich schon gaaaanz langsam aufrappeln und sie hereinzerren, als sie zu meinem Entsetzen einen Schritt auf das Getier zumachte, die Schultern durchdrückte und anfing zu reden oder eher zu zischen. Himmel, klang sie wütend!
„Was bildest du dir ein, ja, was maßt du dir eigentlich an, hier aufzukreuzen? Verschwinde sofort von meinem Grund und Boden!“
„Äh, Mom“, unterbrach ich sie, als sie gerade Luft holen musste, „kannst du die Territorialfrage nicht durch ein Fenster oder eine Wand diskutieren? Also am besten von drinnen?“
Sie nickte grimmig und ich wollte schon erleichtert aufseufzen und wieder gaaanz langsam in den Flur zurückgehen, doch leider folgte sie mir nicht, sondern ballte ihre zierlichen Hände zu Fäusten und schrie dem Federgiganten zu: „Ja, ich werde die Revierfrage klären, und zwar von meinem Auto aus, nachdem ich dich dem Erdboden gleichgemacht habe!“
Der Rabe und ich gaben unisono einen überraschten Laut von uns, als meine Mutter ihre Arme hochriss und die Luft von einem gleißenden Licht erfüllt wurde. Ich öffnete meine zusammengekniffenen Augen und sah irgendetwas aus goldenem Licht in die Luft gezeichnet; bevor ich die Form des Gekrakels jedoch entziffern konnte, ertönte von irgendwoher ein tiefes, volles Lachen. Ich lugte vorsichtig an meiner Mutter vorbei. Der Rabe war verschwunden, an seiner statt stand dort nun ein Mann, wahrscheinlich der bestaussehende, den ich je gesehen hatte.
Ja, selbst Orlando und Leonardo sahen gegen ihn alt, ach was, uralt aus. Er hatte schulterlanges, volles, kupferbraunes Haar mit etwas helleren, zimtfarbenen Strähnen, das zum Teil offen in kleinen Zöpfen, zum Teil in einem Knoten im Nacken zusammengebunden war. Auf seinen Schultern lag ein dickes grauweißes Fell und sein Oberkörper steckte in einem Lederteil, wo die einzelnen Muskeln eingearbeitet waren. Und, huch, er trug einen Rock; ich weiß allerdings nicht, ob das der richtige Begriff dafür war, denn die normale Vorstellung eines Rockes traf dies weniger.
Es waren eher breite, schwarze, aneinandergereihte Lederstreifen, die an den Enden mit Nieten besetzt waren und bis zu seinen Knien reichten. An seiner Hüfte hing eine ganze Sammlung von Dolchen und hinter seinen Schultern glaubte ich zwei Schwertgriffe zu erahnen. Zudem trug er Arm und Schienbeinschützer. Aber sein Gesicht war einfach … wow! Seine Haut hatte einen goldenen Schimmer, er hatte hohe Wangenknochen, volle Lippen, eine gerade Nase und nicht mal die Augenklappe, die er trug, konnte sein strahlendes Antlitz entstellen. Alles an ihm kam mir irgendwie bekannt vor und sein Auge, es strahlte in einem gefrorenen, intensiven Hellblau.
Sein ganzes Outfit und die beiden hundegroßen Raben, die nun zu seinen Füßen landeten und sich mit ausgebreiteten Flügeln vor ihm verbeugten, waren vergessen, als er sich schließlich als das offenbarte, was ich schon die ganze Zeit dachte.
„Hallo Anouk, meine Tochter!“