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Kapitel 4

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Den Kopf gegen das kalte Busfensterglas gelehnt, versuchte ich mir einzureden, dass das Landei es nicht anders verdient hätte und selbst daran schuld wäre. Ich versuchte mein Gewissen zu beruhigen. Aber schon wieder kam eine Welle von Schuldgefühlen über mich. Ich hätte meinen Frust und meinen Ärger nicht an ihm auslassen sollen, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Klar, er hatte mich unheimlich genervt und früher oder später hätte ich es ihm sagen müssen. Irgendwie, aber nicht so. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es schlicht und einfach verkackt, und das haushoch.

Der fast leere Bus (ich war wie immer der letzte Fahrgast) hielt mit einem kleinen Seufzer an. Draußen konzentrierte ich mich auf das Rauschen der Bäume im Wind und das Gefühl des leichten Nieselregens auf meinem Gesicht. Wir wohnten abgeschieden, mitten im Wald. Ich lauschte dem Geräusch meiner Schritte und wollte schon weiter Trübsal blasen, als ein Vogel dicht über meinen Kopf hinweg flog und sich zum Landen bereit machte. Erschrocken zuckte ich zusammen. Wie eine Schildkröte streckte ich meinen automatisch eingezogenen Kopf wieder zwischen meinen Schultern hervor und schaute erstaunt den Raben an, der vor mir auf dem Waldweg saß. Er legte den Kopf schief und blinzelte mich an. Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Er blieb sitzen. Der war aber zutraulich. Ich ging in die Hocke und machte Kussgeräusche.

„Na hallo, wo kommst du denn her?“ Vielleicht war er ja ein zahmer Rabe? Ich betüterte ihn weiter: „Na, du bist ja ein Schöner, was machst du denn hier?“

Er blinzelte mich an und dann tat er etwas, das mich veranlasste, mich auf meine vier Buchstaben zu setzen. Er hüpfte auf mich zu und öffnete den Schnabel und krächzte: „Anouk!“ Dann schwang er sich in die Lüfte und verschwand zwischen den Baumkronen. Perplex schaute ich ihm nach. Hatte der Rabe gerade meinen NAMEN GEKRÄCHTZT?!

Als mein Hintern mir anfing wehzutun und mir bewusst wurde, dass ich in einer Pfütze saß, stand ich auf und klopfte meinen Mantel ab. Papperlapapp! Das Einzige, was gesprochen hatte, war mein Unterbewusstsein, und das war ganz klar eine Holt-mich-hier-raus-Reaktion gewesen.

Entschlossen marschierte ich den Rest des Weges, der zwar mehr mit platt gefahrenem Gras gemeinsam hatte, aber was sollte man auch von einem Waldweg erwarten? Zu Hause schleuderte ich mir die Schuhe von den Füßen und ging, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Ich rümpfte die Nase, als ich in meinem Hamstervorrat für schlechte Zeiten, wie zum Beispiel jetzt, eine Packung Joghurtgummibärchen entdeckte. Jesus, wie ich diese Dinger hasste! Ich zog zwei Packungen Milka-Schokolade aus der Kommodenschublade heraus. Oreo oder Smarties? Oreo gewann schließlich und ich hockte mich, nachdem ich die nassen Sachen gegen bequeme Hausklamotten eingetauscht hatte, auf mein weißes Vintage-Bett. Ach, wenn das Leben doch nur aus so Schokoladenmomenten bestehen könnte, dann wäre ich jetzt zwar kugelrund, aber immerhin glücklich.

Ich versuchte nicht daran zu denken, was in den nächsten Tagen auf mich zukommen würde. Nämlich eine ganze Portion Gruppenhass und verletzter männlicher Stolz. So ein Mist! Aber hätte ich gewusst, was tatsächlich noch auf mich zukommen würde, hätte ich diese Probleme wahrscheinlich mit einem Wink abgetan und gelacht. Tja, wäre, hätte, Fahrradkette …

Später hing ich über meinen Physikbüchern und brütete vor mich hin. Ich glaube, dieser Tag hatte den Jackpot im Mies-drauf-Sein echt geknackt. Ich lehnte mich in meinem Schaukelstuhl zurück (ach, wie ich ihn liebte!), legte meine Beine auf den Tisch und zog Mister Bumblebee, meinen heiß geliebten alten Teddybären, hinter meinem Rücken hervor. Ich schloss die Augen. Unten hörte ich, wie die Tür aufging und wieder geschlossen wurde. Hm, normalerweise sah ich meine Mutter, wenn sie an einem Bild arbeitete, erst wieder zum Abendbrot. Ich wollte sie gerade durch die Türen hindurch begrüßen, da ertönte von meinem Fenster her ein dumpfer Knall. Ich zog instinktiv meine Füße an und fegte somit den gesamten Schreibtisch leer. Erschrocken drückte ich Mister Bumblebee an meine Brust und sah wahrscheinlich wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht eines Autos aus.

Was zur Hölle war das denn gewesen? Ich hob mein Gesicht aus Mister Bumblebees Fell und schaute zum Fenster hinaus. Dort tanzten lauter kleine Federn im Wind. Bewegung kam in mich. Ich war drauf und dran, mein Fenster aufzureißen und auf den Balkon zu springen, als ich sah, was das für ein Vogel war. Ein Rabe. Während ich mit mir haderte, kam Bewegung in das Tier. Es hüpfte auf die Beine, schüttelte kurz seinen Kopf und blinzelte mich an. Völlig gebannt von seinen nachtschwarzen Augen bemerkte ich nicht, wie meine Mutter, alarmiert von dem Knall, die Treppe hochgehastet war und jetzt in mein Zimmer platzte. „Was ist hier –“, sie brach ab, als sie den Raben sah, der nun sie fixierte. Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie kalkweiß war. Besorgt fragte ich: „Mom, alles gut?“

Doch statt einer Antwort ließ sie krachend meinen Rollladen herunter und fuhr sich hektisch durch die Haare, dabei zitterten ihre Hände wie Espenlaub. Verwundert berührte ich sie am Ellenbogen. Da schien ihr wieder einzufallen, dass ich neben ihr stand, und ihr Blick wurde klarer, wenn auch nicht weniger fahrig. „Pack deine Koffer, wir müssen hier weg!“ Sie ließ mir keine Zeit für irgendwelche Fragen und stürmte aus meinem Zimmer. Im Weggehen rief sie noch über die Schulter: „In fünf Minuten fahren wir!“

„Mama, warte doch mal –“

„Nein Anouk, wir haben keine ZEIT!“

Ich weiß nicht, ob es ihr Tonfall war oder die Tatsache, dass sie mich Anouk nannte, jedenfalls tat ich wie befohlen und stopfte Unterwäsche, Klamotten und natürlich Mister Bumblebee in eine kleine Reisetasche, die ich aus den Tiefen meines Schrankes gezerrt hatte. Ich fragte mich, was plötzlich in sie gefahren war.

Schnell ging ich noch mal auf die Toilette und schleppte dann meine Tasche hinunter in den Flur. Dort stand sie schon, neben sich einen Koffer, ungeduldig mit dem Fuß wippend. Sie sah mich kurz prüfend an, schüttelte dann den Kopf und murmelte: „Nein, dafür ist später Zeit, jetzt müssen wir hier weg.“

Sie wirbelte herum, wickelte sich noch schnell einen Schal um den Hals und machte die Tür auf. Ich selbst band mir gerade die Schnürsenkel, als sie einen spitzen Schrei ausstieß. Ich blickte auf und verlor vor Schreck das Gleichgewicht. Die hatten hier eindeutig ein Rabenproblem.

Vor unserer Haustür hatten sich Dutzende Raben versammelt, unruhig auf und ab hüpfend, als auf einmal ein Flügelschlag ertönte und der größte Rabe – ja der größte Vogel – landete, den ich je gesehen hatte.

Rabengelächter

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