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Kapitel 9

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Als ich nach einer Weile nicht mehr mit seinen langen Beinen mithalten konnte, blieb ich keuchend stehen. „Um Gottes willen, ich kann nicht mehr!“ Er drehte sich zu mir um. Sein Gesicht zeigte nichts als Verachtung. „Und du willst Odins Tochter sein?“ Seine Geringschätzung traf mich kein bisschen. „Sieht ganz so aus“, erwiderte ich lässig und ließ mich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt heruntergleiten. Espen stellte sich neben mich. Nach einer Weile setzte auch er sich zu mir. „Warum bist du hier draußen gewesen, Anouk?“ Es klang schön, wie er meinen Namen aussprach, das „k“ klang wie ein „g“. Ich zuckte mit den Schultern. „Wollte weg von meinen Eltern. Sie haben versucht, mir weiszumachen, dass ich eine Art Halbgöttin wäre. Tut mir leid, aber aus dem Alter bin ich raus.“

Wieder machte sich Schweigen zwischen uns breit, bis er schließlich meinte: „Das alles ist kein Scherz! Hast du nicht genug gesehen, um deinen Eltern Glauben zu schenken?“ Es stimmte, ich hatte viel gesehen, und ich fühlte mich immer unwohler. „Was war das da vorhin für ein Ding?“ Jetzt war er es, der mich einfach nur anschaute. „Du hast nicht den leisesten Schimmer vom nordischen Leben, oder?“ Ich musste grinsen. „Ach, so was Ähnliches habe ich heute schon mal gehört.“ Er schüttelte nur den Kopf. „Das war ein Ausgestoßener, er hätte gar nicht hier sein dürfen.“ Den letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst als zu mir, und ich beschloss, jetzt nicht auch noch zu fragen, wer oder was dieser Ausgestoßene war, um nicht wie der letzte Idiot dazustehen.

Er nahm sich einen kleinen Zweig und fing an, damit im Boden herumzustochern. Ich beobachtete ihn mit halb geschlossenen Augen. Ein paar weiße und hellblonde Haarsträhnen hatten sich aus dem mit einem Lederband zusammengebundenen Pferdeschwanz gelöst und umspielten sein Kinn; seine vollen, geschwungenen Lippen waren aufeinandergepresst. Alles in seinem Gesicht hatte einen leichten Schwung: seine mandelförmigen blauen Augen, seine hohen Wangenknochen; nur seine gerade Nase bildete eine Ausnahme. Ohne aufzublicken, meinte er: „Jemanden unauffällig zu beobachten, kommt dir wohl nicht in den Sinn, was?“ Hoppla! „Bild dir bloß nichts drauf ein! Man wird ja wohl noch seine Schlüsse ziehen dürfen!“ Er schmunzelte. „Und die wären?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist arrogant, humorlos und nicht mein Typ.“ Na, wenn diese Lüge nicht zum Himmel schrie! Doch zu meinem großen Ärger fing er an zu lachen. „Na dann!“ Er beugte sich leicht vor. „Vielleicht kann ich dich ja noch vom Gegenteil überzeugen.“ War das gerade eine Anmache gewesen? Meine Wangen wurden heiß. „Viel Spaß dabei!“, murmelte ich, stand auf und marschierte davon. Erst als ich sein Gelächter hörte, merkte ich, dass ich in die falsche Richtung gelaufen war.

Meine Fußsohlen brannten, meine Beine spürte ich nicht mehr und mein Magen hing mir zwischen den Kniekehlen. Doch das Letzte, was ich tun würde, war, mir das anmerken zu lassen. Ich dackelte also brav, ohne das geringste Murren, hinter ihm her und genoss die Aussicht.

Doch mit jedem Schritt, mit dem wir uns meinen Eltern näherten, wurde mir das Herz schwerer; was eben noch wie ein wirrer Traum kurz vor dem Erwachen schien, war jetzt Realität geworden; mein Gehirn wusste und akzeptierte, dass das alles echt war, und dafür hasste ich es. Ich wollte nicht irgend so ein Mischwesen sein. Halbgöttin-Halbalb, das hatte schon was, aber nur solange man es nicht selbst war. Ich blickte da irgendwie nicht ganz durch und kam mir wie im falschen Film vor.

Espen war stehen geblieben und hielt mir einen Ast zurück, sodass dieser mich nicht streifen und meine Haut zerkratzen würde. Ich ging schweigend an ihm vorbei. Seinetwegen hatte ich meine nicht sehr erfolgreiche Flucht abbrechen müssen und musste nun wieder zurück nach Hause, da sollte er sich bloß nicht einbilden, dass er das wiedergutmachen konnte, indem er mir einmal einen Ast zurückhielt! Ich war schon gut drei Schritte weitergegangen, als seine Stimme das eisige Schweigen durchbrach: „Bist du zu allen so, die dir das Leben retten?“

Oh bitte, nicht doch! Was sollte jetzt diese Ich-bin-beleidigt-weil-du-nicht-Danke-gesagt-hast-Nummer? Ohne zurückzuschauen, meinte ich lakonisch: „Nur zu denen, die mich nicht um Erlaubnis gefragt haben.“ War ich schon immer so unhöflich gewesen?

Und da war es, mein Heim. Wir waren angekommen. Ich blieb stehen, atmete tief durch und wollte mir gar nicht vorstellen, was für ein Donnerwetter mich jetzt erwarten würde. Mit einem Blick auf die nachtschwarzen Raben, die nur durch das Aufblitzen ihrer Augen im Licht erkennbar waren (ja, ich leuchtete immer noch), murmelte ich leise: „Trautes Heim, Glück allein.“

Ungeduldigen Schrittes ging sie auf und ab. Ihre langen Gewänder strichen bei jeder Bewegung mit einem sanften Rascheln um ihre Beine. Nur das hielt sie davon ab, zu glauben, dass dies ein Albtraum war. Nie musste sie lange auf eine Auskunft warten, nie! Sie ging die Stufen zu ihrem metallenen Thron hinauf und ließ sich auf die gepolsterte Oberfläche fallen. Ein Kratzen an der hohen, morschen, modrigen Tür ließ sie jedoch wieder aufspringen. Mit einem hastigen Wink ihrer Hand schwangen die beiden Türflügel auf. Durch den Luftzug drang der Geruch von Schwefel und säuerlich riechender Verwesung herein. In dem Schatten des Türrahmens erfassten ihre scharfen Augen eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt, auf die sie nun zueilte. Als befürchtete die Gestalt, geschlagen zu werden, hob sie ihre Arme schützend vor das Gesicht. Doch sie hatte andere Absichten. Sie packte die Gestalt, den von ihr ausgehenden Gestank nicht beachtend, an den Schultern und zerrte sie in einen helleren Teil des gewaltigen Saales. Sie blickte auf das unschöne Gesicht ihres Gegenübers. In dem gedämpften Licht konnte man das vermodernde Fleisch und die blanken Knochen aufblitzen sehen.

„Berichte!“, forderte sie ihn rüde auf. Doch er gestikulierte nur stöhnend mit den Händen, kein Wort kam über seine eingefallenen Lippen. Das brauchte es auch nicht. Sie verstand auch so. Die Ihren hatten versagt. Und wie immer war es der Botschafter, den der Zorn der Mächtigen traf. Mit einem beinahe gleichgültigen, wenn nicht kalten Blick sah sie dem Torso beim Ausbluten zu und trat den abgerissenen Kopf beiseite. Dann wischte sie sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Dabei kratzten die Fingernägel über ihre Wange und hinterließen einen kleinen, feinen Schnitt. Ein dünnes Blutrinnsal floss ihren Finger entlang, und während sie zusah, wie sich das Blut an ihrer Fingerspitze sammelte, wich der angespannte Gesichtsausdruck einem feinen Lächeln. Was tat der Frieden, wenn es Krieg gab? Er starb. Und Anouk würde es ihm gleichtun, sie würde sterben.

Der Blutstropfen fiel herab.

Rabengelächter

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