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Kapitel 3

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Ein Blick durch das Fenster neben der Haustür verriet mir, dass es immer noch regnete. Seufzend wickelte ich mir einen Schal um den Hals, knöpfte meinen Mantel zu, schulterte den mit verwaschenen Blumen verzierten Rucksack und nahm einen Regenschirm. Die Welt draußen offenbarte sich als grau, grau und noch mal grau. Und nass. Die Bäume des Waldes hinter unserem Haus wogen sich leicht im Wind. Und natürlich musste es passieren, dass ein Windstoß unter meinen Schirm fuhr und ihn nach oben stülpte. Seufz. Ein Regenschwall traf mich mitten im Gesicht. Na, wenigstens hatte ich keine Mascara drauf. Ich bog das nichtsnutzige Ding um und ging über unsere matschige Einfahrt zu dem kleinen Schuppen, an dem sich gemalte Sonnenblumen hochrankten. Ich steckte meinen Kopf durch die Tür. „Mama?“

Sie stand hinter einer Staffelei, die Augen konzentriert zusammengekniffen, die Zunge zwischen den Zähnen. Sie blickte auf. „Ano, Schatz, gibt’s was?“ „Ach, ich wollt’ nur Tschüss sagen. – Hast du einen neuen Auftrag?“ Die Aufmerksamkeit wieder völlig auf die Leinwand vor ihr gerichtet, nickte sie nur. Das würde jetzt Tage so weitergehen.

„Na dann, tschau!“

„Tschüss, Anouk-Schätzchen!“

Der Schulbus war wie gewöhnlich ernüchternd leer, na ja, ich glaube, außer mir wohnte wohl keiner im Wald. Auch das war so eine abgedrehte Idee meiner Mutter gewesen, als wir vor einem Jahr in diese niederbayrische Hinterprovinz gezogen waren. Von der Nordsee weg in ein kleines bayrisches Dorf, wo die Menschen praktisch ihre eigene Sprache sprechen. Nichts gegen Bayrisch, aber ich fand es erschreckend grausam, wenn ein gut aussehender Junge in dem extremsten Bayrisch, das man sich vorstellen kann, loslegte und dann auch noch versuchte, einen sexy Tonfall hinzubekommen. Ja, ich spreche da aus Erfahrung. Der Typ ging in meine Klasse und bei unserem ersten und einzigen Date – Gott sei Dank (!) – konnte ich nur anhand der Tonlagen und der Mimik erkennen, wann es mein Part war, empört zu nicken, zustimmende Laute und verblüffte „Ohs“ zu machen. Hans-Quirin – ja, er heißt wirklich so – fand, dass wir uns nach dieser, aus seiner Perspektive, auf beiden Seiten geglückten Kommunikation wiedertreffen sollten. Ich war da anderer Meinung. Da ich im Bereich Taktgefühl viel mit der Spezies Trampeltier gemein hatte, gab ich ihm einfach eine falsche Nummer und mied es, ihn in der Schule näher als zehn Meter ranzulassen. Ja, ich weiß, dass es fies war, ihm eine falsche Nummer zu geben und einfach so zu verduften, aber ganz ehrlich, ich war nun mal direkt, sehr direkt.

Meine Abfuhr hätte ungefähr so ausgesehen: „Nein, Hans-Quirin, ich möchte mich nicht noch mal mit dir treffen. Die Gründe sind folgende: a) Ich kann kein Wort von dem, was du sprichst, verstehen. b) Du hast Mundgeruch. c) Ich habe ich nicht vor, mein ganzes Leben auf einem Bauernhof mit lauter Landpomeranzen um mich herum zu verbringen, wie du es mir in naher Zukunft wahrscheinlich in unverständlicher Süßholzraspelei ankündigen wirst. Ich glaube, du kapierst, dass da kein zweites Treffen drin ist.“ Sein ach-so männlicher Stolz hätte danach wohl in Trümmern gelegen und er würde in die Ich-mache-Anouk-das-Leben-zur-Hölle-Phase kommen, die gleich auf die: Ich-bettel-so-lange-bis-sie-Ja-sagt-Phase folgt. Nicht, dass ich das brauchen könnte, wo ich ja hier als exotisches Wesen aus einer anderen Welt schon genug ungewollte Aufmerksamkeit bekam. Ehrlich, manchmal fragte ich mich, ob die hier keine eigenen Probleme hatten, wie zum Beispiel einen Pickel oder eine schiefgegangene Mathearbeit. Aber nein, es zählten ja die Pickel der anderen und die verhauenen Mathearbeiten der anderen. Ich seufzte. Warum mussten wir ausgerechnet hier hinziehen? Warum konnten wir nicht einfach auf Amrum bleiben, ein Ort, an den ich mich so gut gewöhnt hatte? Ich hatte mich da wirklich wohlgefühlt, abseits des Touristentrubels. Wieder seufzte ich. Meine Mutter und ich waren in meinem Leben schon so oft umgezogen, dass ich mich gar nicht mehr richtig an all die einzelnen Orte und Gesichter erinnern konnte.

Mittlerweile war der Bus zum Bersten voll. Glücklicherweise hatte sich Marie, ein stilles, ebenfalls neu hinzugezogenes Mädchen, neben mich gesetzt. So konnte Hans-Quirin mich nur vom anderen Ende des Busses mit Welpenaugen beobachten. Ich tat es Marie gleich, steckte mir meine Kopfhörer rein und verlor mich in einem Album von Milky Chance. Ich ließ meinen Blick über die schwatzende Menge gleiten. Schließlich blieb er irgendwo kleben und verharrte dort. Naiv wie ich war, achtete ich nicht darauf, wo mein Blick haften blieb, und träumte von meinem letzten Zuhause, von dem kleinen hellblauen Haus mit dem Stroh- und Binsendach, von dem Rauschen der Wellen, von dem Gekreische der Möwen … In dieses gottverdammte Kaff zu ziehen, konnte man praktisch mit dem Rausschmiss aus dem Garten Eden vergleichen. Ich seufzte. Als sich mein Blick wieder klärte, bemerkte ich, dass sich meine Augen etwas unterhalb von … oh bitte, Erde tu dich auf und verschling mich … der Mitte eines Jungen befanden. Und als ob das nicht genug wäre, musste es natürlich der Hosenstall von, na, wem sonst, Hans-Quirin sein. Zu meiner großen Beschämung hatte er mein Starren auch noch mitbekommen, und wenn ich mich nicht irrte, dann sollten die bis zum Gehtnichtmehr verzogenen Lippen wohl ein anzügliches Lächeln sein. Ich wandte den Blick rasch ab, ehe ich noch schreiend auf ihn losgehen oder aber aus dem fahrenden Bus springen würde.

Fünf Minuten bevor der Bus hielt, machte ich mich schon zur Flucht bereit und schoss dann mit gefühlten hundert Metern pro Sekunde aus dem Businneren. Ich scherte mich nicht um die verwirrten Blicke der anderen, das war mir komplett schnuppe; was mir allerdings nicht egal war, war, dass ein vertrottelter Junge, der mir täglich öfter Paarungssignale (igitt!) schickte, sich jetzt auch noch bestärkt in seiner Mission fühlte, mir mit der Keule eins überzubraten und mich in seine Höhle von Bauernhof zu ziehen. Mir schauderte bei diesem Gedanken und ich beschleunigte meine Schritte noch mehr.

Als ich das quadratische Backsteingebäude erreichte, drosselte ich mein Tempo auf das der anderen Kids. So unauffällig wie nur möglich mit meinen eins sechsundsiebzig in einer Herde von – aus meiner Perspektive – Liliputanern, erreichte ich mein Schließfach, wühlte darin herum, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte, nur um wenigstens mit der Hälfte aus dem Sichtfeld der anderen zu verschwinden. Halbherzig zog ich also meine Physikbücher aus dem Spind und schaute gerade in den Stundenplan an der Tür, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich hatte mich noch nicht umgedreht, da fing die Person an zu reden. Mir gelang es nur mühsam, den Reflex zu unterdrücken, in mein Schließfach zu springen und die Tür hinter mir mit einem Bunsenbrenner zu verschweißen. Also drehte ich mich zu der Quelle des platten Bayrischs um und versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.

Anscheinend gelang es mir, denn anstatt beleidigt oder verschreckt abzuziehen, lehnte, oder besser gesagt, hing er mit der Schulter an dem Nachbarspind, die Arme vor der Brust verknotet, zwanghaft lässig grinsend. Ich unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen und nahm mir vor, nächstes Wochenende Sprinten zu trainieren. Klar hätte ich ihm auch einfach die Wahrheit sagen können, aber sein Fanklub war einfach zu groß, um der Rache der anderen zu entgehen. Nicht dass ich davor Angst gehabt hätte, nur würde ich die Beleidigungen, die man mir dann definitiv an den Kopf werfen würde, auch gerne verstehen.

„Hi, ähm, wie heißt du noch mal?“ Ich versuchte ihn durch das Ich-kenn-dich-nicht-auch-wenn-wir-schon-ein-Date-hatten zu verschrecken. Doch anscheinend war er zu blöd, um das als Abschreckung zu verstehen. Stattdessen grinste er ein Tausend-Watt-Lächeln, sodass ich einen tieferen Einblick in seinen Mund bekam, als mir lieb war.

„I bins meine gloae Maus, da Hansi! Woasst scho! Mia hatdn doch a Date!“ Meinen entgeisterten Blick schien er als Zuspruch zu nehmen und blinzelte mir kokett zu. Mir klappte fast die Kinnlade herunter. Wie konnte man nur so empathielos sein?

Na gut, dann pass mal auf, HANSI, dachte ich grimmig, wenn du blöd sein kannst, dann kann ich das mit meinem Eins-Komma-null-Notendurschnitt auch! Also fragte ich in meinem naivsten Tonfall, den ich draufhatte: „Oh, hast du was im Auge?“, und stellte zufrieden fest, wie er verwirrt die Stirn runzelte. Als er jedoch – auf ungeschickte Art und Weise – seine Arme entknotete, doch leider nicht um einen Abgang zu machen, nein, sondern um sich in seine blond gelockten Haare zu fassen, hätte ich heulen können. Die waren wirklich umwerfend. Meine Güte, entweder hatte der Junge ein unerschütterliches Selbstvertrauen oder seine Dummheit übertraf einfach alles, was ich bisher gesehen hatte. Ich glaube eher Letzteres. „Na, Mausi, so bandelt ma hier a Madl o’.“

Ich überhörte beflissentlich das Mausi und den Rest, also eigentlich alles, und versuchte all meine Aggressionen auf die Bücher in meinem Arm zu lenken, leider nicht, indem ich sie ihm kurzerhand über sein unfassbar leeres Oberstübchen zog, sondern indem ich sie als eine Art eckigen, unnachgiebigen Antiaggressionsball benutzte.

„So, äh, ja, du, ich muss jetzt auch mal in den Unterricht. Man sieht sich.“ Das nicht fügte ich ganz still und leise in Gedanken hinzu. Ich knallte meine Spindtür laut zu, um wenigstens ein bisschen Dampf ablassen zu können. Mit einem Hauch Zufriedenheit sah ich noch, wie er den Kopf erschreckt zurückzog und mehrmals blinzelte. Doch leider hielt auch das ihn nicht auf, mir hinterherzudackeln und mir zu erklären zu versuchen, dass „mia“ zusammen Unterricht hatten. Ich machte große, überraschte Augen „Echt jetzt, wir haben zusammen Unterricht? Ich habe dich bisher gar nicht bemerkt!“ Das würde seinen Egoluftballon hoffentlich endlich platzen lassen. Und tatsächlich, meine Methode schien zu fruchten. Ich beobachtete, wie sich ein Schatten der Unsicherheit über sein Gesicht legte. Nicht, dass es mir Freude bereitete, ihn auf den Boden der Realität zu katapultieren und dabei wahrscheinlich sein ganzes Selbstbewusstsein und seine Arroganz zu zertrümmern; ich hatte einfach einen gesunden Selbsterhaltungstrieb und dieser Typ mit seinen elenden Tiervergleichen und seinem Landei-Bayrisch ging mir einfach wahnsinnig auf die Nerven.

Mein letzter Schachzug gegen das Landei war vielleicht doch nicht so gelungen, wie ich zunächst gedacht hatte, denn er hatte sich nun fest in den Kopf gesetzt, mir zu zeigen, dass wir zusammen in einem Kurs waren. Als hätte ich sein stilles Anschmachten nicht schon zwei Kilometer gegen den Wind gerochen, flogen die ganze Physikstunde Zettel zu mir herüber. Ich machte mir nicht mal die Mühe, sie aufzuheben. Himmel, Arsch und Zwirn, war der denn wirklich so dumm oder tat er nur so? Stur starrte ich an die Tafel, schrieb mit und starrte wieder an die Tafel. So verlief der ganze Schultag von acht Uhr bis um eins. Als er mir dann auch noch auf dem Parkplatz hinterherhechelte und mich seinen „siassa Hos“ nannte, platzte mir der Kragen. Ich wirbelte im Laufen herum und stoppte. Stolpernd kam auch er zum Stehen.

„Pass mal auf, Hans-Quirin! HÖR gefälligst auf, mir hinterherzurennen wie ein Küken der Henne. Ich kann dich verdammt noch mal nicht riechen und es wird sich auch nichts daran ändern, wenn du versuchst, mir wie mein Schatten überallhin zu folgen! Tu mir den Gefallen und lass mich einfach in Frieden, ja?“ Ich hatte es ja kommen sehen, aber zu beobachten, wie er immer verletzter schaute, fühlte sich dann doch sehr, sehr mies an. Ich hoffte, dass er jetzt einfach Leine zog, doch er brachte es fertig, mich mit seinen nächsten Worten in den reinsten Sprengsatz zu verwandeln. „Spatzl, i spür do, dass mia mitanand kean! Kämpfe doch ned so gegn dei Gfuie an!“

Meine Augen verengten sich und ich spürte, wie ich explodierte. Es war, als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, und all der Frust über das andauernde Umziehen, die Einsamkeit und ihn entlud sich nun wie eine Gewitterwolke.

„Ja, ich werde jetzt nicht mehr gegen meine Gefühle ankämpfen, also bitte bring mir einen Eimer, ich kotze nämlich gleich. Was ich für dich empfinde, ist nämlich Ekel, Unverständnis und Genervtsein! Kannst du dir vorstellen, wie lästig es ist, nein, wie lästig du bist? Verdammte Scheiße, lass mich einfach in Ruhe! Ich will mit dir nicht das Geringste zu schaffen haben, genauso wenig wie mit diesem verratzten Ort von Dorf! Warum kannst du dich nicht einfach vom Acker machen! Bist du zu blöd, zu engstirnig oder zu eingebildet, um ’ne Abfuhr zu kapieren? Wenn ja, dann hier noch mal extra für dich zum Mitschreiben: ICH WILL MEINE RUHE HABEN! Such dir ein Mädchen, das deine Sprache spricht!“

Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich ihm im Laufe meines Monologes mit dem Zeigefinger in die Brust gepikt hatte. Genauso wenig hatte ich das Grüppchen Schaulustiger gesehen, das sich um uns herum angesiedelt hatte und uns nun angaffte. Jetzt, wo die Wut herausgebrüllt war, brachte ich es nicht fertig, ihm in die Augen zu schauen. Ich warf mir meine hüftlangen Haare über die Schulter und stapfte durch den Nieselregen davon.

Rabengelächter

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