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Kapitel 10
ОглавлениеMein „Vater“ hüllte sich in demonstratives Schweigen und meine Mutter weinte, was mir alles hätte passieren können und dass ich jetzt tot sein könnte. Im Nachhinein tat es mir leid, einfach so mir nichts, dir nichts verschwunden zu sein, ohne Auf Wiedersehen gesagt zu haben, doch als mein Vater mich darauf ansprach, schaute ich ihm, dem Menschen/Gott, der nie für mich da gewesen war, in die Augen und meinte: „Das nächste Mal werde ich Tschüss sagen.“
Ich drehte mich um und ging die Treppen ins Bad hoch, knallte die Tür zu und setzte mich mit einem tauben Gefühl auf den Boden. Ich zog meine Beine an und legte mein Kinn auf meine Knie. Ich war so wütend! Da la, mein Vater, ein ach so toller Gott, der es sechzehn Jahre nicht für nötig gehalten hatte, ein Lebenszeichen von sich zu geben, einfach so zu uns, stellte mein Leben auf den Kopf und erwartete dann auch noch, dass ich ihm jubelnd um den Hals fiel! Ich stand auf und drehte mich zum Spiegel herum. Oh mein Gott! War das ich?! Meine Haare quollen unter meiner Mütze hervor und hatten den halben Wald mitgenommen. Der Dreck in meinem Gesicht kam einer Kriegsbemalung gleich und durch das vermaledeite Leuchten sah ich aus wie eine dreckige Glühbirne. Ich zog meine schmutzigen Klamotten aus und duschte. Als ich mich endlich von dem ganzen Schmutz befreit fühlte, wickelte ich mich in ein übergroßes Handtuch ein und widmete mich meinen Haaren.
Meine Haare nass und entknotet, das Handtuch immer noch um mich gewickelt, drückte ich die Klinke der Badezimmertür herunter und stieß direkt mit diesem Espen zusammen, der sich wie ein Türsteher vor mir aufgebaut hatte. „Was machst denn du hier?“, fragte er. Die bessere Frage wäre wohl gewesen, was er immer noch hier machte. Hinter ihm tauchte Odin auf. „Espen ist ein angesehener Schüler der Halvarschule, und er ist mein persönlicher Schüler“, Odin klopfte ihm mit väterlichem Stolz auf die Schulter. Ein kurzer Stich der Eifersucht durchzuckte mich. „Er wird dein Mentor sein, also habe ein bisschen mehr Respekt vor ihm. Er ist auf meinen Befehl hier, um sicherzugehen, dass du nicht noch mehr unüberlegte Dinge tust.“ Unüberlegte Dinge? Ich?
Espen lächelte mich nur herablassend an und zog eine Augenbraue hoch. „Aber ich denke, in diesem Aufzug würdest selbst du nicht einen erneuten Fluchtversuch wagen.“ Mit brennenden Wangen wurde mir bewusst, dass ich nur in einem Handtuch eingewickelt vor meinem fremden Vater und einem gut aussehenden Krieger stand. Ich warf meine Haare über die Schulter und rauschte mit einem „Seid euch da mal nicht so sicher!“ und einem gemurmelten „Spanner!“ in mein Zimmer.
Als die Tür mit einem befriedigenden Knall hinter mir zufiel, setzte ich mich auf mein Bett und stellte mir, um den Überblick zu behalten, eine Personen- und Sachverhaltsliste auf. Also: Mein Vater, er war gut aussehend. Das war’s dann aber auch schon bei „positive Eigenschaften“, wenn man „Hauptgott“ nicht dazuzählte. Er wollte mich auf diese Schule schicken, auf der seltsame Kinder wie ich das ABC lernten, nur war ich anscheinend noch seltsamer als die anderen, da meine Mutter und er ja „Romeo und Julia“ hatten spielen müssen. Kommen wir zu meiner Mutter: Soweit ich bis jetzt wusste, war sie eine Lichtalbi/Elfe und hatte mir freundlicherweise das Tausend-Watt-Leuchten weitervererbt (wie konnte man das nur ausstellen?). Sie stand natürlich ganz und gar hinter der Entscheidung meines göttlichen Vaters, wie das nach sechzehn Jahren Trennung eben so ist. So weit, so gut. Espen hatte mir das Leben gerettet und sich nach ein paar Stunden Bekanntschaft schon vor meiner Badezimmertür positioniert. Nicht zu vergessen: Er war so schön, machohaft, herablassend und verwirrend, dass es fast schon wehtat. Und dann war da noch ich. Alles hatte sich verändert, trotzdem hieß ich weiterhin Anouk Nelson, und war so blass, dass ich eher einem Vampir als einem gebräunten Gott ähnelte. (Wer weiß, vielleicht war Dracula ja mein Onkel?) Ich war eine Halbgöttin-Halbelfe (das konnte doch alles nicht wahr sein!!!) und hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles hier bedeuten sollte. Ich wurde vor ein paar Stunden von einer potthässlichen Kreatur angegriffen und verfolgt, und wenn ich ehrlich war, herrschte in meinem Kopf so ein Durcheinander, dass mir das komplett egal war.
Ich musste, ob ich wollte oder nicht, auf diese Schule und Espen sollte mein Mentor sein. Das konnte ja heiter werden, aber wer weiß, vielleicht war er ja gar nicht so übel, wie ich dachte. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich hatte Angst. Angst, wie ich mich in dieser Schule für Abnormale einfinden sollte. Ich war noch nie auf einem Internat gewesen und es war immer schwer für mich gewesen, Anschluss zu finden. Ich konnte mit Gleichaltrigen und ihrem komischen Verhalten einfach nichts anfangen. Die meisten sechzehnjährigen Mädchen waren albern und selbstverliebt und vertuschten hinter ihrem Beste-Freundinnen-Getue nur ihren Hass und ihren Neid und sprachen eine andere Sprache. In dieser hieß: „Hi, der neue Look steht dir, kauf dir mehr von diesen Sachen!“ so viel wie: „Oh mein Gott, das sieht so hässlich aus, aber lass das an, dann habe ich die besseren Chancen bei den Jungs!“ Und mit männlichen Wesen im Alter von sechzehn Jahren abzuhängen, war einfach nur lästig, da ich es bevorzugte, dass man mir bei einem Gespräch in die Augen schaute. Prinzipiell zählte ich mich eher zu den Menschen, die andere Menschen hassten und es auch bei jeder Gelegenheit betonten. Ich war jemand, der sich in der Regel allein wohler fühlte als mit anderen. Wie sollte ich das dort alles nur schaffen? Was lernte man denn an so einer Schule? Ich wollte später studieren, aber nicht Nordische Kultur, sondern Biochemie (urteilt nicht zu hart über mich).
Ich stand auf und suchte mir Anziehsachen heraus. Zugegeben, nicht ganz so schlicht wie sonst, ich musste schließlich klarstellen, dass dreckige und zerrissene Kleider nicht mein Markenzeichen waren. Also zog ich einen grünen Pullover mit Paillettenstickereien an, der gut mit meinem braunen Haar harmonierte. Die Hose blieb aber wie üblich schwarz und mein Schmuck beschränkte sich auf eine flache, bronzefarbene Armbanduhr, die größer als mein Handgelenk war, und zwei rotgoldene Ohrringe, die meine Mutter in kleine Schnörkel geschmiedet hatte. Ich tupfte mein nasses, schweres Haar ab und sah zufrieden in dem Schrankspiegel, wie dieses wie ein glatter, leicht welliger Vorhang über meine Hüfte fiel. Ich ließ das Handtuch auf meinem Bett liegen und öffnete meine Zimmertür. Davor stand kein Espen mehr. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Auf dem letzten Treppenabsatz angekommen, hörte ich die leisen Stimmen von meiner Mutter, Odin und Espen. Angestrengt lauschend, blieb ich stehen und hörte das tiefe Brummen meines Vaters: „Wir müssen sie so schnell wie möglich in die Halvarschule bringen, dort ist sie so sicher wie sonst nirgendwo. Selbst Walhalla ist zurzeit nicht so gut geschützt wie diese Schule.“ Schweigen. „Espen, kann ich mich darauf verlassen, dass du sie nicht aus den Augen lassen wirst?“
„Natürlich, Odin, das steht außer Frage.“
„Und pass auch im Hinblick auf ihre Mitschüler auf; viele werden ihr gegenüber feindlich gesinnt sein.“
„Ich werde sie nicht aus den Augen lassen!“
„Und denk dran, sie darf auf gar keinen Fall in eine romantische Beziehung verwickelt werden, das würde ihren Starrsinn nur noch weiter bestärken!“
„Mach dir keine Sorgen, das ist ja dann auch in meinem Interesse.“
Nun schaltete sich auch meine Mutter ein. „Unterstehe dich, Odin, dich in die Zukunft meiner Tochter einzumischen! Du wirst in meinem Haus nicht über dieses Thema reden!“ Verwirrt setzte ich mich leise, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, hin. Was meinte mein Vater damit, dass ich keine romantischen Beziehungen haben dürfe? Glaubte er ernsthaft, dass ich mich an seine Sittenverbote halten würde? Und was meinte Espen damit, dass dies auch in seinem Interesse sei? Doch ich konnte nicht länger darüber nachdenken, die Diskussion in der Küche wurde fortgesetzt.
„Hast du schon irgendeinen Hinweis, warum ein Ausgestoßener hinter Anouk her war, Espen?“
„Nein, aber ich vermute, dass Hel ihn geschickt hat.“
„Warum sollte die Totengöttin meine Tochter behelligen?“
„Vielleicht weiß sie etwas, was Anouk in ihren Augen für sie wertvoll macht und ihr dazu verhelfen würde, ihre Macht zurückzugewinnen, nachdem sie letztes Jahr in die Verbannung geschickt worden ist.“ Seine Vermutung klang jedoch eher wie eine Frage. „Odin, du weißt, dass Hel nicht die Einzige sein wird, die Anouk für ihre Interessen missbrauchen würde. Da draußen sind viele Kreaturen, die sie einfach nur töten möchten, weil sie in ihren Augen ein Fehler der Natur ist. Selbst wir, ihre Eltern, wissen nicht, wie mächtig sie tatsächlich ist. Wahrscheinlich ist sie sogar mächtiger als alle Götter zusammen, du eingeschlossen. Das macht mir Angst.“
Meiner Mutter machten diese Mutmaßungen Angst, mich bauten sie auf. Ich meine, wer hört nicht gerne, dass er sehr, sehr mächtig ist? Ich war also nicht nur irgendetwas Verbotenes, Schlechtes, sondern ich konnte auch etwas (außer zu leuchten, was mittlerweile schon wieder aufgehört hatte).
Schließlich, als es auf der Treppe zu ungemütlich geworden war, stand ich auf und ging mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck, den ich draufhatte, in die Küche. Diese wirkte mit meinem Vater, Espen und meiner Mutter darin viel kleiner als sonst; man bekam fast den Eindruck, den Kopf einziehen zu müssen. Espen stützte sich mit beiden Armen auf den Esstisch, mein Vater stand mit dem Rücken zu mir und meine Mutter thronte in einem Armstuhl. Die Raumbeleuchtung war hell und tauchte alles in ein gleißendes Licht, von den Haaren über das Gesicht und den ganzen Körper.
Das weiße Licht ummantelte sie und leuchtete bereits ein paar Zentimeter vor ihrer Haut. Beim Betreten des Raumes wäre ich um ein Haar über eine ganze Waffenansammlung gestolpert, allem Anschein nach „Anhängsel“ von Espen und meinem Vater. Den Kopf über diese ganzen Schwerter, Äxte und Messer/Dolche schüttelnd, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, schlug meine Beine übereinander und grinste Espen an, der mich einfach nur schweigend und mit großen Augen anstarrte. Tja, Pessimisten können nur positiv überrascht werden. Urteile nie nach dem Äußeren. Aus alt mach neu. Und so weiter und so fort. Jedenfalls hatte ich es geschafft, dass es dem Wunderknaben die Sprache verschlug.
„Seid ihr fertig mit eurer Kriegsberatung, oder soll ich noch mal für ein paar Minuten im Wald spazieren gehen?“ Immer schön noch einen draufsetzen, das war meine Spezialität. Während Espen sich sammelte, übernahm meine Mutter das Wort und kam somit Odin zuvor.
„Nein, das ist nicht nötig, aber schön, dass du es zur Sprache bringst“, sagte sie mit schneidender Stimme, „denn wir reden gerade noch darüber! Wir alle hier haben über deine derzeitige Lage beraten und – ich hoffe, du verstehst das – sind zu dem Entschluss gekommen, dass du auf die Halvarschule gehen wirst, weil es dort einfach sicherer als hier für dich ist.“ Bei den letzten Worten schaffte sie es sogar noch zu lächeln, das nenne ich jetzt mal niederträchtig!
Ich spürte, wie sich erneut der Zorn in mir hochkämpfte, sich meinen Hals hochfraß und sich auszudehnen begann, bis mir schließlich der Kragen platzte. Das immer heller werdende Leuchten im Raum, das die anderen dazu brachte, die Augen zusammenzukneifen, registrierte ich in meinem beginnenden Wutrausch gar nicht. Auch nicht, dass alle Gläser auf dem Tisch und in den Schränken gefährlich zu wackeln und zu klirren anfingen.
„WIR werden uns über überhaupt nichts unterhalten, wenn du mich auf diese Schule verfrachtest! Ich verstehe nichts, nada! Warum wollt ihr mich in diese Freakshow stecken? Aber keiner hält es ja für nötig, mir in knappen Worten zu sagen, warum ich von einer lebendigen Leiche gejagt werde und diese Hel mich für nützlich hält. Oder was das alles“, ich deutete auf uns, „zu bedeuten hat!“
Mein Vater war herangetreten. Mit einem strengen Gesichtsausdruck unterbrach er mich. „Ano –“
Ich tat es ihm gleich. Schließlich war er mein Vorbild, oder? Ich machte also einen Schritt auf ihn zu, sodass wir Nase an Nase (oder eher Brust an Nase) dastanden, und funkelte ihn an. „So nennen mich nur Menschen, die ich kenne! Von daher bin ich für dich Anouk! Und wer, glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du einfach mal so nach sechzehn Jahren aufkreuzen und in meinem Leben herumwirtschaften kannst?“
Er öffnete den Mund, doch ich hob die Hand und lachte freudlos.
„Sag jetzt nicht ‚Ich bin dein Vater‘, denn das bist du nur rein biologisch gesehen, und bilde dir bloß nichts auf dein Hauptgott-Getue ein, denn weißt du, wie sehr mich das beeindruckt? Nicht im Geringsten!“
Wer dachte, dass ich jetzt fertig war, der irrte. Ich hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Und das gespielte Gähnen von Espen war taktisch mehr als unklug. Ich wirbelte zu ihm herum und richtete meinen ganzen Zorn auf ihn. Was dachte dieser hirnlose Schönling eigentlich, wer er war, und wie kam er dazu, sich einzubilden, mit über meine Zukunft entscheiden zu können? Ich spürte, wie die Wut in mir immer stärker zu brodeln begann und mein eigentliches Ich von einem zerstörerischen Mantel der Brutalität überdeckt wurde. Die Wut kroch in meine Knochen, sie kroch in meine Zähne, sie kroch überallhin, sodass es regelrecht wehtat. Und bevor Espen wusste, wie ihm geschah, rutschte ein Stuhl, ohne dass ihn einer angefasst hatte, in ihn hinein und zwang ihn mit einem schmerzerfüllten Aufkeuchen zum Hinsetzen. Eine Sekunde später löste sich mit einem Scheppern ein Dolch aus dem Waffenhaufen, schwebte, wie von Geisterhand, in der Luft durch den Raum und blieb an seiner Kehle hängen.
Die Zeit schien stillzustehen. Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich schaute in Espens vor Überraschung aufgerissenen Augen. Meine schwindende Wut wich der Verblüffung. Ich taumelte einen Schritt zurück und augenblicklich fiel der Dolch wie ein toter Gegenstand auf seinen Schoß. Ohne mich aus den Augen zu lassen, fasste Espen sich an den Hals, nahm die Waffe und warf sie zu den anderen, wo sie scheppernd niederging. Ich starrte nach vorn, meinen Blick auf nichts und niemanden fixiert, und fragte, ohne meine Worte an irgendjemand Bestimmten im Raum zu richten: „Was war das denn gerade eben?!“ Doch ich fürchtete, die Antwort darauf schon zu kennen, und wieder war es mein Vater, der meine Ahnung bestätigte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, legte den Kopf leicht schief und kniff die Augen zusammen, so als hätte er mich noch nie gesehen. „Das“, er schüttelte ungläubig den Kopf, „warst du.“ Halt suchend griff ich hinter mich und zog einen Stuhl heran, um mich darauf fallen zu lassen. „Aber … wie?“ Ich stützte meine Ellenbogen auf dem Tisch ab und krallte meine Finger in meine gelockten Haare, die inzwischen wieder vollkommen trocken waren.
Espen, der sich inzwischen wieder gefasst hatte, lehnte sich vor. „Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber das hast du vorhin wahrscheinlich auch mitbekommen, nicht wahr?“
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Woher wusste …? – Oh verflucht, in meiner Tirade hatte ich wohl irgendwas von Hel gefaselt. Toll gemacht, Anouk, eins a, Spitzenklasse! Bevor ich nun knallrote Wangen bekommen würde (und diesen Triumph wollte ich Espen definitiv nicht gönnen!), machte ich eine wegwerfende Handbewegung. „Du solltest mal lernen, nicht in hundertzehn Dezibel Lautstärke zu flüstern!“ Da er nichts zu erwidern wusste, erntete ich nur einen finsteren Blick, den ich mit einem Lächeln quittierte. Mein Vater drehte sich zu mir um und hatte auf einmal so einen finsteren Gesichtsausdruck aufgesetzt, dass ich am liebsten meinen Kopf eingezogen hätte.
„Wir reisen ab!“
Bevor ich irgendwelche Einsprüche erheben konnte, dröhnte seine Stimme mit einer Autorität durch unser Haus, wie ich es noch nie zuvor vernommen hatte.
„JETZT!“
Fassungslos drehte ich mich zu meiner Mutter um und flehte sie mit Blicken an, dass sie sich für mich einsetzen möge. Sie half mir nicht. Ich fühlte mich völlig hilflos. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Sachen zu nehmen und durch die Haustür zu gehen, mein Vater rechts, Espen links neben mir. Ich verstand nicht, warum das alles hier veranstaltet wurde. Ich wusste nichts über mich. Ich wusste nur, dass mein neuer Vater mich in ein neues Leben bringen wollte, und ich versuchte mich mit aller Macht dagegen zu wehren. Ich wollte es nicht. Das neue Leben machte mir Angst, und dass meine Mitschüler eine Gefahr für mich sein könnten, beruhigte mich auch nicht gerade.
Wir kamen inmitten der Raben zum Stehen. Mein Vater zückte eine Art Schwert, das er in den Boden rammte und dabei „Halvar“ murmelte. In die Raben kam auf einmal Bewegung, als meine Mutter mich am Arm fasste und mir in die Augen schaute. „Ich liebe dich und auch dein Vater tut das! Gib ihm die Möglichkeit, es dir zu zeigen!“
Mittlerweile hatten die schwarzen Vögel einen großen Kreis um uns herum gebildet und schlugen wild mit den Flügeln. Auf einmal schnürte sich meine Kehle zu und ich zwang mich zu sagen: „Ich hab dich auch lieb, Mom!“
Ich hatte Angst, sie zu verlassen. Wann würde ich sie wiedersehen? Sie nahm mich in den Arm, als plötzlich eine heftige Windböe aufkam und an mir zerrte, wie eine große, starke, unbarmherzige Hand. Die Windböe zog mich immer weiter in den Kreis der Raben hinein und meine Mutter weg von mir. Als mir ihre Hände entglitten, hörte ich sie noch rufen: „Und kämpfe, Anouk, kämpfe, wenn nötig gegen dein Schicksal!“ Als ich wieder auf dem Boden auftraf, sah ich die pechschwarzen Tiere in einer großen Spirale, uns mitreißend, in den tiefen Himmel fliegen, vorbei am großen, weißen Mond. Das Letzte, was ich durch das Rauschen Dutzender Flügel hörte, war das Gelächter der Raben.