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Kapitel 7
ОглавлениеMein Magen hing mir irgendwo zwischen den Kniekehlen und ich hatte das blöde Gefühl, nachher erst einmal der Toilette einen sehr, sehr langen Besuch abstatten zu müssen. Konnten die das Dramapensum nicht ein bisschen runterschrauben? Da ergriff meine Mutter überraschend das Wort, hoffentlich würde sie ihn anbrüllen, dass er verschwinden und nie wieder kommen solle und dass mit mir alles okay sei, aber dann tat sie etwas, das sowohl meine Kinnlade als auch die meines Vaters herunterklappen ließ: „Odin, Anouk, kommt ins Wohnzimmer, aber dein“, sie zeigte auf die Raben, „Federvieh, bleibt draußen!“
Eilig nickte mein Vater, wandte sich um und schaute die beiden großen Raben an, dann drehte er sich wieder um. „Hugin und Munin werden mit den andern hier warten.“
Hugin und Munin, ich meine, echt jetzt, die hatten auch noch Namen?! Mein Vater musste meinen Blick bemerkt haben, denn er schmunzelte und erklärte: „Die Raben sind neben den Wölfen meine treuste Gefolgschaft, deshalb werde ich auch Hrafnass genannt.“ Er seufzte, als ein unausgesprochenes „Hä?“ zwischen uns stand. „Das heißt Rabengott.“ Ich zog die Stirn kraus, der Mann litt eindeutig an Größenwahn! Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, das mit seiner Gegenwart plötzlich viel zu klein schien. Selbstsicher setzte er sich auf den Sessel, in dem ich immer fast versank, und es sah so aus, als hätte das Möbelstück sein ganzes Leben lang darauf gewartet, sein Thron zu sein. Ich schaute den braunen Ledersessel böse an. Verräter!
Ich setzte mich auf die Couch und schaute zwischen meinen Eltern hin und her. Meine Mutter hatte sich gegenüber von meinem Vater aufgebaut, kurz begegneten sich ihre Blicke, was beide schnell wegschauen ließ. Ich räusperte mich, um die beiden auf ihre verstörte Tochter aufmerksam zu machen.
Odin (Vater hört sich einfach nicht richtig an) beugte sich vor. „Du hast keine Ahnung von germanischer Kultur, oder?“ Er seufzte, als ich stumm den Kopf schüttelte. „Dann ist es also an mir, dir dein Erbe zu offenbaren.“
Das klang ja mal dramatisch! Ich versuchte so ernsthaft wie möglich auszusehen, aber mir entfuhr doch ein Kichern, als ich sagte: „Na dann, die Märchenstunde kann beginnen!“
Auf Odins finsteren Blick hin hob ich abwehrend die Hände. Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich das alles hier am besten einfach wie einen misslungenen Aprilscherz betrachten sollte. Er räusperte sich. „Da wir nicht viel Zeit haben, kann ich dir nur eine Kurzfassung geben, der Rest wird sich später klären. Ich bin ein Gott, genau genommen der Hauptgott der nordischen Götter. Deine Mutter ist eine Lichtalbi, oder wie du es wahrscheinlich nennen würdest, eine Elfe. So etwas wie dich hat es bisher noch nie gegeben, denn Verbindungen zwischen den zwei Gattungen sind selten und verboten, und keiner weiß, was du bist; wir wissen nur, dass du weg von hier musst in eine Schule für Kinder der nordischen Gesellschaft, die Halvarschule in den Flujamooren. Die Sachen, die du brauchst, hast du ja schon gepackt“, fuhr er trocken fort (wahrscheinlich gefiel es ihm nicht sonderlich, dass er der Grund für das alles hier war). „Wir werden jetzt sofort abreisen. Alles, was du dort für den Unterricht brauchst, wird bereits vorbereitet sein. Der Rest wird noch geholt. Ich werde deine Mutter und dich jetzt alleine lassen und draußen warten, wir haben nicht viel Zeit.“
Mit diesen Worten stand er auf und ging mit großen Schritten aus dem Raum. Ich schaute ihm wie ein begossener Pudel hinterher. Hilfe suchend wandte ich mich an meine Mutter.
„Mum, sag mir, dass das nicht wahr ist; sag mir, dass dieser Geistesgestörte nicht mein Vater ist!“
Betroffen dreinschauend ging sie um den kleinen Tisch herum und setzte sich zu mir. „Doch, das ist er, und …“, sie schaute mich streng an, „… je eher du das akzeptierst, desto besser für dich. Er will nur dein Bestes, er hat dich auch schon bei der Schule angemeldet und –“
Entgeistert schaute ich sie an. „Ist das dein Ernst?“
„Was?“
„Du nimmst den Typen in Schutz, der dich und mich vor sechzehn Jahren hat sitzen lassen und jetzt mit Pauken und Trompeten verkündet, er sei Odin und ich müsse jetzt ganz schnell in dieser ach so tollen Schule untertauchen? Hallo? Komm zurück auf den Boden der Realität, Mama!“, sagte ich wütend gestikulierend. „Wenn dieser Mann uns wirklich lieben würde, dann würde er nicht versuchen, uns voneinander zu trennen! Wie kannst du nur diesen … diesen Geistesgestörten immer noch lieben?!“
Kurz wurde meine Welt schwarz. Als ich wieder klar sehen konnte, stand ich ruckartig auf. Meine Hand auf meine brennende Wange gepresst, schaute ich meiner Mutter fest in die Augen, dann drehte ich mich um und stürmte aus dem Wohnzimmer und die Treppen in mein Zimmer hinauf. Weg von meiner Mutter, weg von meinem Vater.
Weg, ich musste weg. Aber ich würde definitiv nicht mit meinem – würg – Vater mitgehen. Entschlossen holte ich einen großen Rucksack aus meinem Schrank und stopfte in blinder Hast alles Mögliche hinein. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch blieb. Ich streifte mir eine Mütze und einen Parka über, ehe ich mich zu meinem Fenster umdrehte und es leise öffnete. Unten hörte ich meine Eltern reden. Sehr schön, dachte ich grimmig, während ihr eure Schlachtpläne macht, habe ich genügend Zeit, unbemerkt zu verduften.
Mir innerlich die Hände reibend, schwang ich meine Beine über das Balkongeländer und griff nach dem dicken Ast der Buche, die vor meinem Zimmer stand. Mit klopfendem Herzen, bemüht, nicht hysterisch loszukichern, schwang ich mich vorsichtig von Ast zu Ast, bis ich hinunterspringen konnte.
Ich rannte los. Zum ersten Mal war ich dankbar, dass wir im Wald lebten. Im dichten Schutz des Blätterdachs drehte ich mich noch mal um. Das konnten die vergessen, dass ich freiwillig in diese Schule gehen würde! Mir innerlich auf die Schulter klopfend, joggte ich los. Ich kramte in meiner Hosentasche nach dem MP3-Player und stellte grinsend „Auenland“ aus „Herr der Ringe“ ein. Ich lief durch den Wald, bis ich zu der Landstraße, der Ader des Lebens, gelangte. Im Schutz der Büsche lief ich immer weiter. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ich wollte.
Es begann dunkel zu werden, als ich ein kleines Bushäuschen erreichte und mich erschöpft auf die Bank fallen ließ. Ich studierte die Busfahrpläne und entschied mich, einfach den ersten zu nehmen, der kommen würde, solange dieser nicht wieder zurückfuhr, versteht sich. Ich starrte auf meine völlig verschlammten Schuhe und leise meldeten sich Zweifel und begannen an mir zu nagen. Ich verdrängte sie und versuchte nicht daran zu denken, wie viel Sorgen meine Mutter sich jetzt machen würde. Stattdessen versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, wie wütend ich auf sie war und dass ich auf gar keinen Fall nach Hause zurückgehen würde.
Ich schreckte aus meinen düsteren Gedanken auf, als ich Schritte hörte. Meine Hände wurden schweißnass. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, einfach abzuhauen? Was, wenn jetzt irgendein Psychopath um die Ecke kam, um mich um die Ecke zu bringen? Ich unterdrückte ein panisches Fiepen und beruhigte mich ein bisschen, als ich in einer meiner Taschen ein Miniklappmesser fand.
Eine kleine Gestalt setzte sich ohne ein Wort neben mich. Erleichtert sog ich die Luft ein und … ach du liebe Zeit. Von einem auf den anderen Augenblick wurde mir so übel, dass ich befürchtete, in einem Strahl kübeln zu müssen. Als ich mich wieder gefasst hatte, vergrub ich meine Nase in meinem Parkakragen und atmete durch den Mund ein und aus. Dieser Gestank … Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie er mich und die ganze Umgebung um mich herum umhüllte. Es roch süßlich-faulig und dazu dieser widerliche Geruch von Laubhaufen, die schon viel zu lange irgendwo lagen. Dieser Geruch, er erinnerte mich an irgendetwas, doch ich wusste nicht an was.
Unauffällig rückte ich Stück für Stück weg von der vermummten Gestalt. Zu meinem Entsetzen rückte sie, nennen wir sie Hugo, Stück für Stück weiter auf und fing jetzt auch noch zu summen an – das schrecklichste Summen, das ich je gehört hatte. Ich stand auf und mein Unwohlsein wuchs weiter und weiter, als auch Hugo sich erhob. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, und klappte, während sich in meinem Geist alle möglichen Horrorszenarien abspielten, das kleine Messer in meiner Tasche auf. Die dämmrige Dunkelheit hatte sich inzwischen in eine tiefe Schwärze verwandelt und das Gesumme von Hugo in eine Art Kriegsgesang, der immer lauter wurde – oder vielleicht auch immer näher kam. Wieder schlug mir eine Welle bestialischen Gestanks entgegen, und als ich mich umdrehte, stand er/sie/(es?) direkt vor mir. Meine Muskeln, selbst meine Kiefermuskeln, versuchten mich zum Weglaufen zu überreden. Doch alles, was vorher so gestunken hatte, duftete jetzt nach Blumen, nach Nachhausekommen, nach frisch gebackenen Plätzchen. Wo ich vorhin noch grüne Gestankswolken zu sehen glaubte, umgab uns nun ein Licht. Hugo streckte seine Hand aus und ich legte meine Hand, die nun auch leuchtete, in seine hinein.
Ich blickte mit einem unendlichen Glücksgefühl auf unsere verschränkten Hände; ich wusste nicht, wer ich war oder warum ich hier war; ich wusste nur, dass ich unendlich glücklich war, meine golden leuchtende Hand in seiner bläulichen, schwammigen und knochigen Hand zu sehen. Die bezaubernde Melodie wurde wieder zu diesem abscheulichen Gekreische. Mit einem Aufschrei, der mich selbst überraschte, entriss ich Hugo (unterschätzt wegen des Namens nicht den Ernst der Lage) meine immer noch leuchtende Hand und wankte ein paar Schritte zurück.
Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Ich fing an zu rennen, was in einem ungewollten Slalomlauf endete. Was hatte dieses Ding mit mir gemacht? Hugo setzte mir in großen Schritten nach und der beißende Gestank signalisierte mir, dass er mich gleich würde eingeholt haben, als sich etwas um meine Beine wickelte und mich im Straßengraben zu Fall brachte. Als Hugo sich über mich beugte und ich etwas Kaltes, Scharfes an meiner Kehle spürte, wusste ich, woran mich dieser Gestank erinnerte: an Tod, an Verwesung. Ich hätte in diesem Moment schreien und um mein Leben kämpfen sollen, doch das Einzige, was in meinem Kopf Platz hatte, war mein Parka. Ja, mein Parka, ich machte mir Sorgen, ob ich die Flecken jemals wieder rausbekommen würde, und fing an zu fluchen, als ich merkte, dass ich im Schlamm lag. Vergessen war Hugo, es zählte nur noch mein Parka.
Mit einem Ruck stand ich auf und rammte Hugo meinen Fuß zwischen die Beine. Er krümmte sich und ich vernahm, wie etwas mit einem dumpfen Aufprall in den Morast fiel. Schon wieder war da dieses goldene Leuchten, doch bevor ich vermochte, mich um mich selbst zu drehen, wurde das Gesicht von Hugo kurz von jenem Licht erhellt – oder das, was davon existierte. Ich drehte mich um und nahm meine Beine in die Hand. Die Angst hatte mich nun wieder fest im Griff. Mir war bewusst, dass ich jetzt um mein Leben lief. Keuchend hetzte ich in Richtung Waldrand.
Dort angekommen, kniff ich die Augen zusammen und riss meine Arme in die Höhe, um mich vor den tief hängenden Zweigen zu schützen. Schließlich wurde ich wieder einmal von meiner Tollpatschigkeit überwältigt und fiel. Schnell rappelte ich mich auf und kauerte mich an einen dicken Baumstamm. Zitternd saß ich da. Dieses Gesicht. Das, was da hinter mir her war, nach Verwesung riechend, wahrscheinlich meinen Tod wollend, war kein Mensch, war kein Tier. Diese bläuliche, schlaffe Haut, diese leeren Augenhöhlen. Ich unterdrückte meinen Würgereiz und ein Wimmern, als ein lautes Knacken im Unterholz meinen Herzschlag übertönte.
Wieder brach eine Welle des Gestanks über mich herein und das hohe und tiefe Gesumme, das wahrscheinlich sämtliche Geräusche einer Irrenanstalt vereinte, wurde lauter und lauter. Das Einatmen tat vor Angst richtiggehend weh und ich kniff die Augen zusammen, mit der absoluten Gewissheit, gleich zu sterben. Dann, urplötzlich, erstarb das Gesumme und wurde von einem schmatzenden Geräusch ersetzt, das kurz darauf in einem dumpfen Aufschlag endete.