Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 12

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Schon wieder diese Frau. Es konnte nur seine Mutter sein. Wie sich die Frauen in dem Alter gleichen. An der Kleidung, der Frisur, der Brille, dem Kopftuch, der Art, wie sie in die Kamera blicken, konnte man ungefähr den Jahrgang ablesen. Hatte sie diese Frau schon einmal bedient? Bestimmt hat sie bei ihrem vollen, dichten Haar gesagt: nur schneiden, alles nach hinten, die Stirn frei. Und das mit etwas beleidigtem Unterton, weil sie davon ausging, dass die Friseurin sowieso wieder machen würde, was sie wolle, die Haare leicht über die Ohren oder in die Stirn legen, damit sie jugendlicher aussähe. Darüber konnte sie sich schwarz ärgern, und wehe, eine ihrer Töchter sagte auch noch, dass es ihr sehr gut stünde, dann fauchte sie los, lief ins Bad und hielt den Kopf unter den Wasserhahn, kämmte die nassen, widerstrebenden Haare streng zurück, wobei ihr die Tränen in den Augen standen. Deshalb ging sie höchstens zweimal im Jahr zum Friseur – und aus Angst vor zu großer Nähe. Eine Tasse Kaffee würde sie anfangs ablehnen, aber nach dem Schneiden, wenn sie mit der Friseurin ein paar Worte gewechselt hätte und bevor sie unter die Trockenhaube gesetzt würde, bäte sie dann doch, sehr bescheiden, um einen Schluck Kaffee, schwarz, ohne Milch und Zucker. Sie war eine von den Frauen, die sich nicht verwöhnen lassen konnten, die den Zuwendungen anderer Menschen misstrauten, aus Angst, sie könnten etwas schuldig bleiben. Am liebsten würde sie sich am Ende in Luft auflösen, plötzlich verschwinden, damit ihr niemand eine falsche Träne nachweint, keiner widerwillig am Totensonntag ein teures Gesteck auf ihr Grab legt. Auch ihr Name soll nicht in Stein gemeißelt, nicht der Eindruck erweckt werden, sie habe gelebt.

Aber diese Frau mit der zu großen Hornbrille, den Gesichtszügen der Armseligkeit erinnerte sie nicht nur an ihre Mutter, sondern auch an die Kundin, die ihrer Mutter ähnelte, die sich nach einer Geschichte von ihr bei der Chefin beschwert hatte und nie wieder von ihr bedient werden wollte. Jede Woche, wenn sie kam, jammerte sie ihr die Ohren voll, welche Last ihre Schwiegermutter, die bei ihnen wohne, für sie bedeute. Sie sei gebrechlich und würde sie und ihren Mann ans Haus binden, ihre Ehe zerstören und auch noch die kleinste Reise, von der sie seit Jahren träumten, unmöglich machen. Jetzt beschloss Marleen, ihr mit einer Geschichte alles heimzuzahlen. Sie wollte sie so vor den Kopf stoßen, dass sie sich nie wieder von ihr bedienen lassen würde. Sie begann, ihr eine Geschichte von einer alten Dame zu erzählen, die in ihrem Nachbarhaus gewohnt habe.

Sie entschlossen sich, der alten Dame ihren Wunsch zu erfüllen. Schon seit mehreren Wochen hatten sie beobachtet, dass sie sehr müde war. Oft lag sie da und blickte in den Himmel, so als wolle sie dem Herrn sagen, er möge sie nach so langer Zeit nun endlich zu sich holen. Sie bewegte sich kaum noch. Nur zu den Mahlzeiten, die ihr immer noch gut schmeckten, schlurfte sie langsam durch die Wohnung. Treppen steigen oder in den Garten gehen traute sie sich nicht mehr zu. Deshalb musste sie getragen werden.

In den letzten drei Tagen hatte sie die Augen kaum noch geöffnet. Sie trugen sie ins Auto und fuhren in die Praxis. Der Arzt erlaubte ihnen, sofort in den Behandlungsraum zu gehen, obwohl im Wartezimmer noch viele Patienten saßen. Sie wussten, dass diese Sonderbehandlung nicht nur auf das Mitgefühl des Arztes zurückzuführen war. Sie mussten dafür einen Zuschlag bezahlen. In dieser Situation wollten sie aber nicht jeden Pfennig herumdrehen, auch wenn sie wussten, dass noch erhebliche Kosten auf sie zukämen. Der Arzt sah die alte Dame an.

Für ihr Alter sieht sie aber noch sehr gut aus, sagte er, ohne seine Kunden anzublicken.

Einen Moment sahen sie betreten zu Boden.

Während der Arzt die Spritzen präparierte, sagten sie: Sie ist schon seit langem lebensmüde. Außerdem kann sie nichts mehr halten. Sie wissen schon, was wir meinen.

Der Arzt hielt die Spritze in der Hand und blickte sie fragend an.

Sie verliert alles und versucht immer selbst, den Schaden zu beheben. Seit einigen Wochen ist ein unerträglicher Geruch in der Wohnung.

Wollen Sie dabei bleiben? fragte der Arzt. Sie nickten.

Helfen Sie mir bitte, sie auf den Behandlungstisch zu legen, damit ich beginnen kann.

Die alte Dame bäumte sich vor ihnen auf. Sie erschraken.

Es ist gleich vorbei, beruhigte sie der Arzt, und noch während er es sagte, erschlaffte ihr Körper. Der Arzt blickte lange in das Gesicht der alten Dame. Sieht es nicht aus, als würde sie schlafen? fragte er. Sie nickten.

Vielen Dank, Herr Doktor, Sie haben ihr sehr geholfen. Sie gingen ins Büro und bezahlten die Rechnung.

Würde der Nachbar sie für geschmacklos halten, wenn sie es ihm erzählte? Oder schallend lachen, ihr zustimmen und ihr sagen, dass es genau richtig gewesen sei. Ihre Phantasie bewundern und sie auffordern, ihm auch Geschichten zu erzählen. Dann würde sie ihm erzählen, wie ihr Hund eingeschläfert wurde, der ihr alles bedeutet hatte, und sie bei ihm geblieben war, als der Arzt ihm die Spritze gesetzt hatte. Sie würde ihm vorlesen. Geschichten, die sie Kundinnen erzählt hatte, versuchte sie aufzuschreiben, obwohl es ihr sehr schwerfiel. Was ihr im Geschäft leicht über die Lippen kam, dauerte Stunden, manchmal Tage, um es so zu formulieren, dass es nur annähernd so war, wie sie es vorher erzählt hatte. Sie könnten im Schummerlicht auf dem Bett liegen, nur mit der kleinen Lampe, und sie könnte ihm aus dem Buch vorlesen, dass sie so liebte und immer wieder aufschlug.

Ferne Berührung

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