Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 9

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Trautmar hatte immer wieder die bläulich gefärbten Haare seiner Lehrerin ansehen müssen. Sie kam aus Lötzen in Ostpreußen. Und so wie die Schüler versuchten, den Mathematiklehrer vom Unterricht abzubringen, indem sie ihn zu seiner Kriegszeit als Soldat befragten, von der er sehr gern und weitschweifig erzählte, so fragten sie die Lehrerin mit den blauen Haaren nach den Masurischen Seen.

War der Lötzener See im Winter zugefroren?

Konnten Sie als Kind dort mit Schlittschuhen laufen?

Schon die Frage rührte die kleine gedrungene Frau mit dem hochgewölbten Mund so sehr, dass sie keinen Ton mehr hervorbrachte, und alle sahen wie die winterliche Landschaft ihrer Heimat von ihr Besitz ergriff. Zuerst war es das Ziel der Schüler, den Unterricht zu unterbrechen. Aber bald war es mehr, auch wenn niemand darüber sprach. Die Kindheitserlebnisse der Lehrerin pflanzten sich ebenso in die Seelen der Schüler, wie die abendlichen von der Mutter erzählten Geschichten aus ihren ersten Lebensjahren, an die sie sich nicht erinnerten.

Eine Geschichte wollte er immer wieder hören. Aus ihr hörte er weit mehr, als die Mutter erzählte.

Eines Tages lief Trautmar ganz allein ans Ende der Straße bis zur hohen Mauer, hinter der leicht erhöht eine große Villa stand und auf die kleine Siedlung hinunterblickte. Angelockt hatte ihn das Geschrei der Kinder, die an der Mauer standen. Sie umringten einen Jungen, der gerade dabei war, seine vollgeschissene Unterhose in einem Loch, neben dem seine Sandschaufel steckte, zu entleeren. Er wollte den Schlägen seiner Mutter entgehen, die noch vier weitere kleine Kinder hatte.

Solang ich kann, muss sie ran, verkündete ihr Mann mit hochrotem Ballonkopf, wenn er wippenden Schrittes mit seinem massigen Körper, bei jeder Temperatur nur mit Hose und Unterhemd bekleidet, durch die Straße ging. Die Nachbarn sorgten sich um seine ausgemergelte, zarte Frau, amüsierten sich aber gleichzeitig über seine Antwort. Dabei hielten sie sich verschämt die Hand vor den Mund und stießen ein lautes oh nein, oh nein aus.

Ein kleines Mädchen war mit dem rostigen Schutzblech ihres Puppenwagens Trautmar so unglücklich gegen den Knöchel gefahren, dass er blutete. Täglich wurde der Knöchel dicker und farbiger, und es halfen auch keine kalten Umschläge mit essigsaurer Tonerde. Karfreitag musste er mit einem Bluterguss ins Krankenhaus eingeliefert werden. Was die Mutter nicht erwähnte, war ihr hysterisches Schreien, das durch die ganze Siedlung zu hören gewesen sein musste, als er ins Taxi gelegt wurde. An diesem Schrei hing er wie an einer Kette. Er weinte bis zur Narkose, die ihm eine kurze Erholung ermöglichte. Die erste Mahlzeit, Milchsuppe mit Zucker und Zimt, verweigerte er. Der Pfleger drohte ihm Schläge an, hielt ihm den dampfenden Löffel vor den zugepressten Mund, so dass er würgen musste. Am nächsten Morgen befreite ihn die Mutter, nahm ihn auf eigenes Risiko mit nach Hause, so dass das Osterfest gerettet war.

Er schnitzte für die Lehrerin einen Kuren-Kahn wie es sie in Ostpreußen gab, wo die Lehrerin diese Boote als Kind bei ihrer Tante am Kurischen Haff gesehen hatte. Mit einem bunten Wappen hoch oben am Mast. Sie erzählte den Schülern, wie sie mit ihrer alten Tante und deren Mann und vielen anderen Frauen und Kindern von Königsberg aus nach Pillau flüchteten, von dort versuchten, über die schmale Landzunge der frischen Nehrung nach Danzig zu kommen. Es war Winter und der eiskalte Wind peitschte ihnen in die Gesichter. Sie wurden mit einem Schiff zur Insel Rügen gebracht. Kurz nach ihrer Ankunft bekam die Tante eine Lungenentzündung. Ihr ausgezehrter Körper wehrte sich nicht mehr gegen die Krankheit. Nach der Beerdigung reiste die Lehrerin weiter zu einer Freundin, die nach Hamburg geheiratet hatte. Einige Wochen später erfuhr sie, dass der Onkel sich wenige Tage nach dem Tod seiner Frau in einer Scheune erhängt hatte.

Vielleicht könnte er die Nachbarin einfach fragen, ob sie mit ihm nach Rügen fahren wolle, zu dem netten Einsiedler in dessen kleine Bauernkate. Die Reise könnten sie in seinem Heimatort unterbrechen. Würde sie ihn ermuntern weiterzuerzählen, wenn er unsicher würde? Am nächsten Tag führen sie Richtung Lübeck, von dort nach Selmsdorf, dem Grenzübergang zur DDR. Sechzig Kilometer entfernt wuchs er auf. Stacheldraht, Minenfelder, Berliner Mauer, Todesschüsse, entsetzte Gesichter seiner Eltern, der ausgestreckte Zeigefinger Richtung Osten, lieber tot als rot, Schweigen über den anderen deutschen Staat in der Schule.

Die Grenze war so weit. Die Menschen fremd wie Eskimos oder Chinesen. Lebendig die Angst vor dem Bösen. In drei Tagen sind die Russen an der Nordsee.

Nur drei Autos waren vor ihnen. Ein junger Uniformierter ließ sich die Pässe geben. Es wird nicht lange dauern, sagte er freundlich. Trautmar war erstaunt über seinen norddeutschen Akzent. Zollbeamte der DDR müssen Sächsisch sprechen, befehlsartige, kurze Sätze ausstoßen und prüfend Pass und Gesicht des Bittstellers mit den Augen aufspießen. Der Grenzgänger ist sich seiner Schuld bewusst. Nach der Ausreise, den Grenzübergang schon Kilometer hinter sich wissend, überkommt ihn das Glücksgefühl, nicht erwischt worden zu sein.

Er setzte das Auto ein Stück vor. Sie bezahlten das Visum.

Hoffentlich müssen wir nicht alles auspacken. Ich seh schon die Apfelsinen und Bananen durch die Gegend rollen, flüsterte Greta.

Auf der Zollerklärung war auch der sperrige Elektroofen eingetragen.

Die kleine, zierliche Zollbeamtin fragt nicht nach Tonträgern und auch nicht, ob sie Waffen dabei haben, nicht nach Schrifterzeugnissen, die nicht für den eigenen Gebrauch bestimmt seien.

Führen Sie außer den angegebenen Gegenständen etwas mit sich, das für den Verbleib in der DDR bestimmt ist?

Nein, nichts!

Sie gab ihnen die Pässe zurück.

Auf Wiedersehen. Gute Fahrt!

Gretas Schmunzeln war noch ein wenig verkrampft. Die Grenze geht durch den Magen. Die Pässe behielt er für die Wechselstelle in der Hand. Eine schrille Klingel begrüßte sie beim Eintritt in die Baracke. In dem kleinen, überheizten Raum standen mehrere Besucher vor dem Schalter.

Wieviel Tage bleiben Sie in der DDR? fragt die Beamtin, während sie ihre Pässe aufschlägt.

Sieben Tage.

350 DM bitte!

Endlich hörte er den streng, sachlichen Ton, bei dem eine leichte Unfreundlichkeit mitschwang und der Vorwurf, jemanden bei einer sehr wichtigen Tätigkeit gestört zu haben. Wäre dieser Ton nicht ein einziges Mal in der DDR zu hören, nicht bei der Volkspolizei, bei der sie sich innerhalb von 24 Stunden nach Ankunft an ihrem Reiseziel zu melden hatten, oder bei der Post, beim Bäcker, in der Kaufhalle, oder beim Eiskaufen, er hätte nicht gewusst, ob er hüben oder drüben wäre.

Für das Geld könnten Sie das Zehnfache bekommen, flüsterte der Mann hinter ihm. Bloß kaufen können Sie nichts dafür.

Sie fuhren einige Kilometer an einer Mauer entlang, später an einem hohen elektrisch geladenem Stacheldrahtzaun und bald durch lange Alleen. Die Blätter der Bäume leuchteten in zartem Grün. Noch drang die Sonne durch die Zweige. Bald würden die Blätter den Juniregen abschirmen. Im Sog der Autos verwandeln sich die Baumkronen dann in lange grüne Tunnel.

Sie fuhren über den Rügendamm in eine andere Welt. Es war ein vorgezogener Sommer. Untypisch für die Insel.

Sie saßen auf dem Großen Zicker, eine Landschaft mit weitgeschwungenen grünen Hügeln, umgeben vom Meer. Über ihnen ein fast südlicher, tiefblauer Himmel, zu dem sich die Feldlerchen emporschwangen und ein Konzert gaben.

Greta kniete sich hinter ihn, umschlang ihn mit beiden Armen, küsste seinen Nacken, streichelte seine Schenkel und flüsterte ihm ins Ohr:

Ich liebe dich und möchte ein Kind von dir. Sag endlich ja. Es gibt keinen Grund mehr, es nicht zu tun. Heute könnte es klappen. Es bekommt auch einen nordischen Namen.

Es ist so schön hier. Hör jetzt auf damit. Wir reden später darüber.

Nein, ich möchte jetzt wissen, woran ich bin. Du interessierst dich nicht dafür, was ich mache. Und was du machst und denkst, erzählst du schon lange nicht mehr. Was soll das alles eigentlich noch? Sag doch schon, dass du nichts mehr von mir willst. Du hast alles erreicht, was du wolltest, jetzt hab ich ausgedient. Jetzt gibt es viel interessantere Frauen als mich. Vielleicht gibt es ja sogar schon eine. Sag endlich was. So halt ich das nicht mehr aus. Dein Schweigen macht mich wahnsinnig.

Mit jedem Satz von ihr kroch er tiefer in sich hinein. Wieder überfiel ihn diese unendliche Müdigkeit. Sollte er einfach zu allem Ja sagen? Dann wäre es endlich vorbei. Er konnte es ihr nicht sagen. Vor fünf Jahren hätte er es tun müssen. Jetzt war es zu spät. Und wenn er es sagte, wusste er selbst schon nicht mehr, ob es überhaupt stimmen würde. Konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen, mehr wollte er doch gar nicht.

Sag endlich, dass du mich nicht mehr liebst, schrie sie gegen den Wind. Wenn du mich überhaupt je geliebt hast. Du liebst doch nur dich selbst. Alles andere ist dir scheißegal.

Er entfernte sich, ging zum Wasser hinunter und hielt sein Gesicht in die Gischt, legte die Hände hin¬ter den Kopf und atmete tief durch. Als ihm kalt wurde, ging er zurück. Er wollte ihr sagen, dass es ihm leid täte, obwohl er dies noch nie getan hatte. Oft hatte er es sich vorgenommen, nach einem Streit, aber wenn er dann in ihre Nähe kam, brachte er kein Wort über die Lippen. Sobald er von ihr wegging, begann er mit ihr zu sprechen, ließ einen Schwall von Worten auf sie niederprasseln, bis er sich erschöpft fühlte. Dann ging er zurück, hatte sich beruhigt, hätte sie ohne ein Wort in den Arm nehmen können. Aber wenn er vor ihr stand, schwieg er. Manchmal tagelang. Bis sie es nicht mehr aushielt, ihn in die Arme nahm und ihn im Bett auftaute. Sie war nicht mehr da. Er setzte sich auf die Stelle, auf der sie sich eben geliebt hatten.

Es war jetzt noch windiger. Klare Sicht auf das Atomkraftwerk schräg gegenüber auf dem Festland. Mückenschwärme spielten in der Luft, und er versank in ihnen. Den ganzen Tag knatterten die Hubschrauber als ständige Bedrohung dicht über ihren Köpfen. Ein eiskalter Wind pfiff ihnen in der Februarkälte auf der Wiese vor dem Bauzaun des Atomkraftwerks um die Ohren. Als sie abfuhren, war die Demonstration kurzfristig verboten worden, dann per einstweiliger Verfügung wieder erlaubt, dann wieder verboten. Es konnte sie niemand mehr abhalten, trotz der immer größeren Ängste, die geschürt wurden und die viele junge Demonstranten in Gewissensnöte brachte. Das erste Ziel der Staatsmacht war erreicht. Die Busse wurden durch Straßensperren in abgelegene Dörfer gelenkt. Von dort aus zogen die Demonstranten oft orientierungslos in kleinen Gruppen los, nur um den Druck, der auf ihnen lag, zu verringern. Die Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes heizten die Stimmung an. Über Feldwegen und hartgefrorenen Wiesen erreichten sie nach Stunden endlich die Baustelle. Aus allen Himmelsrichtungen kamen kleine durchgefrorene Grüppchen und sammelten sich auf der Wiese. Vor dem hohen Bauzaun ein langer Graben. Polizisten waren nicht zu sehen. Erst als immer mehr Demonstranten, ohne genau zu wissen warum, auf die andere Seite des Grabens sprangen, zeigte die Staatsmacht, was sie lange geübt hatte. Hundertschaften von Polizisten mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschilden waren für den Ernstfall gerüstet. Wasserwerfer wurden in Position gebracht. Die Hubschrauber kreisten dicht über ihnen. Tränengas wurde in die Menge geschossen. Seine Augen begannen zu tränen. Hilflose Wut und die Bereitschaft, mit einem Knüppel auf die Polizei loszugehen oder ihnen die Hubschrauber zu zertrümmern. Sie wollten eine Schlacht schlagen, ob mit oder ohne Angriff der durchgefrorenen Demonstranten, die erst machtlos den Bauzaun anstarrten, dann ziellos durcheinander liefen, um dem Tränengas zu entkommen. Die Polizisten trieben die Menge auseinander. Die Hubschrauber landeten, spuckten weitere Uniformierte aus, die eine große Gruppe von Demonstranten gezielt einkesselten und wild auf sie einschlugen. Einige wurden herausgegriffen und verhaftet. Vielleicht waren die mit dem dicken Seil und den Eisenhaken dabei. Entschlossene Burschen, die mit einem Hang zum Abenteuer die Polizei maßlos unterschätzten, davon überzeugt waren, den Zaun einreißen zu können, um den Weiterbau des Atomkraftwerks zu verhindern. Aber auch zwei junge, ängstliche Demonstranten aus seinem Bus wurden festgehalten. Zuvor hatten sie ihnen den Glauben an einen gerechten, demokratischen Staat ausgeprügelt. Sie hatten den Befehl erhalten und schlugen zu. An der Mauer schossen sie auf Befehl auf gleichaltrige unbewaffnete Menschen, die sich nicht einsperren lassen wollten.

Als er sich leise ins dunkle Zimmer schlich, hörte er, wie sie im Bett hochfuhr.

Wo warst du so lange? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du bist wohl total verrückt geworden. Sie begann zu weinen.

Er antwortete nicht.

Wenn du bloß nicht so feige wärst! Sag doch endlich, dass Schluss ist, damit ich endlich meine Ruhe habe. So halt ich das nicht aus. Ich kann nicht mehr. Hörst Du. Sag es doch. Sprich es doch endlich aus.

Ja, murmelte er und verließ das Zimmer.

Vor dem Haus ließ er Wasser. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, stand er unter einer riesigen Sternenkuppel. Der Sprosser sang gegen die Dunkelheit an, und Trautmar spürte das Bier und die Sterne.

Wenn die Lehrerin mit ihrer Kindheit begann, so endete sie immer mit der Flucht, die sich wie eine unersättliche Zecke in ihrem Nacken festgebissen hatte und sie zeitweise völlig lähmte. Einmal schwieg sie lange und sah aus dem Fenster. Ihr Hals bekam dunkelrote Flecken. Sie schluckte und schluckte. Und er ahnte, dass sie das Wort dachte, das er als kleiner Junge bei den Frauen aufgeschnappt hatte. Mehrere Schiffe, überfüllt mit Menschen, die vor der vorrückenden russischen Armee flüchteten, erreichten nicht ihr Ziel und versanken in der Ostsee, getroffen von feindlichen Kriegsschiffen oder Bombern. Und je öfter sie ihn aufs Eis mitnahm zum Schlittschuhlaufen oder Aale stechen, mit Pferd und Wagen aufs Feld zum Kartoffelessen und ins überfüllte Flüchtlingsschiff in Richtung Westen, je mehr spürte er den Verlust ihrer Heimat. Und nur deshalb konnte ihm der Hafenbote, ebenfalls ein Ostpreuße, mit dem er fünfzehnjährig im ersten Monat seiner Lehre im Hafen unterwegs war, weitere Kriegsgewichte auf die Schultern legen. Sie saßen in der Kaffeeklappe im neuerrichteten Übersee-Zentrum, einem der ersten großen Containerschuppen im Hamburger Hafen für Stückgut. Und der Alte mit der braunkarierten Mütze, unter dessen Schirm seine Augen im Schatten lagen, sagte mit Blick auf ein Foto aus der Zeitung, auf dem ein amerikanischer Soldat mit dem Gewehr hinter einer Frau und zwei kleinen Kindern herlief, dass jeder Krieg schmutzig sei. Er kam aus der russischen Gefangenschaft. Auf der Suche nach seiner Familie erfuhr er, dass seine Frau sich und die beiden Töchter umgebracht hatte, um allen die befürchteten Scheußlichkeiten, die auf sie zukommen würden, zu ersparen.

Ferne Berührung

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