Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 16

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Marleen erschrak. Das war das Schaufenster ihres Salons. Und im dunklen Hintergrund ihre Chefin, rechts die Kollegin, mit der Dicken, die immer mittwochs kommt. Marleen hörte ihr Herz schlagen. Sie war bei der Maniküre. Er war ihr gefolgt, und sie hatte nichts gemerkt. Sie ging ins Bad und wusch sich die Hände. Wie gut kannte er sie schon? Erzählte er deshalb heute Abend so viel von sich? Sie mochte nicht auf das Bild sehen, wehrte sich gegen das aufkommende, ihr unerträgliche Gefühl.

Hatte er alles mitbekommen an dem Abend, den sie so schnell wie möglich aus ihrer Erinnerung löschen wollte? Vielleicht durch den Spion gesehen, wie er kam und dann schnell wieder ging? Nachts hatte sie wieder geträumt. Sie hatten an ihren Armen und Beinen gezerrt. Sie war nackt. Ein Mann streichelte sie, dessen Gesicht sie nicht erkannte. Sie wollte an diesem Morgen nicht in den Salon gehen. Sträubte sich innerlich, fürchtete sich vor dem Anruf der Chefin, die sich scheinbar besorgt nach ihr erkundigen würde. Sie dachte an die Frau, die immer am ersten Mittwoch des Monats kam. Sie war eine von den Kundinnen, bei denen es sie ekelt, sie anzufassen, ihre Kopfhaut zu spüren, ihre Haare zu riechen, ihre Finger zu berühren. Sie aber genießen ihre Nähe. Oft geht ihr genießendes Stöhnen über in ein leises Schluchzen. Sie beginnen zu weinen, während sie ihnen die Haare wäscht. Ein Schwall von Sorgen und Bitterkeit bricht aus ihnen heraus.

Manche Kundinnen berühren sie wie zufällig an den Beinen, stoßen ihr den Ellenbogen heimlich in die Hüfte, andere kneifen sie in die Waden oder stechen ihr den Finger in den Bauch. Sie ist ihnen hoffnungslos ausgeliefert. Sie meinen, an der Kasse auch dafür bezahlen zu können. Aber noch schlimmer ist es, wenn sie selber von einer Kundin oder einem Kunden erregt wird, ihre Hände immer sanfter und deutlicher ihre Zuneigung verraten. Sie selber mit ihrem Körper die Nähe der anderen oder des anderen sucht und ein Kribbeln ihren Körper erfasst. Kurze Zeit später hat sie damit zu kämpfen, versucht, dass es nicht zu einem dumpfen Loch wird, in das sie hineinfällt und aus dem sie auch abends allein zu Hause nicht wieder herauskommt.

Einige Frauen kommen nur, um sich berühren zu lassen. Sie lassen sich die Finger maniküren und das jede Woche. Jeden Freitag die dicken Wurstfinger von Frau Nothnagel anfassen und ihren vom Haarausfall gezeichneten Kopf mit der schuppigen Kopfhaut. Die wabbelige Haut an den Fingern gibt nach, die Nägel sind gebrochen wie die Spitzen ihrer Haare. Wenn Marleen die ersten fünf Finger geschafft hat, geht sie zur Toilette, wäscht sich die Hände, schrubbt die Fingernägel, schüttet sich Parfüm in die Handflächen und in das Gesicht, um den Geruch dieser Frau loszuwerden. Schon bei ihrem Anblick klammert sich ihr typischer Körpergeruch, den Marleen unter hundert anderen Gerüchen herausriechen würde, wieder an den Härchen in ihren Nasenlöchern fest.

An einem Morgen hatte sie es geschafft, dass nicht sie, sondern ihre Kollegin die Krankengeschichte dieser Kundin über sich ergehen lassen musste. Sie saß schon weinend neben der Kollegin. Marleen hatte einen Mann vor sich sitzen, fragte ihn, mit verschmitztem Lächeln zu ihrer Kollegin blickend, ob er sich auch die Nägel maniküren lassen wolle. Und dieser so einfach dahingesagte Satz, als kleines Geplänkel für die Kollegin gedacht, hatte seine Folgen. Sie sah im Spiegel, wie der Mann mit den Tränen kämpfte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder, sein Kopf schwoll rot an, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Sie hatte ihm bereits die Haare gewaschen und durchgekämmt.

Wir müssen noch einmal waschen. Marleen drückte ihm den Kopf nach vorn übers Waschbecken, stellte die Brause an, legte ihm die Hand in den feuchten Nacken, roch seine Angst und spürte ihren Schoß warm werden.

Über zwei gegenüberliegende Spiegel sah sie den Blick der Chefin, die der Kollegin etwas zuraunte und dabei den Kopf nach hinten warf. Die Kollegin grinste, jenes Grinsen, mit dem sie Marleen sonst von hinten an die Hüften fasste, sie an sich zog, um etwas ganz Belangloses zu fragen. Diese Frau war nur Fleisch und Verlangen. Dafür hasste Marleen sie, denn sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Der Mann schluckte heftiger, Marleen griff fester zu, fuhr ihm mit den Fingern vom Nacken durch die Haare, verteilte das Wasser mit der Handfläche und stellte sich vor, mit ihm zu duschen. Seifte ihn ein, verrieb den Schaum an seinem Körper, kreiste über seinen Bauch, fuhr tiefer. Sie stellte das Wasser etwas wärmer, kontrollierte es am Handrücken, beugte sich runter, sog seinen Geruch auf, flüsterte ihm ihre Adresse zu, und dass er abends komme solle. Dann wickelte sie ihm ein Handtuch um den Kopf, gab ihm ein kleines für das Gesicht und sah seine abgekauten Fingernägel. Er antwortete nur mit Ja und Nein und wich ihren Blicken aus.

Als er den Laden verließ, begriff sie nicht mehr, was sie getan hatte. Marleen beugte sich übers Waschbecken, spülte es aus. Ihre Kollegin griff ihr fest in die Hüften, presste den Schoß gegen ihren Po und sagte laut:

Machst du die Maniküre zu Hause? Und strich ihr mit der Hand schnell über Bauch und Brust.

Sie stieß sie zurück.

Alte Hexe! Gönnst mir nichts!

Abends stand er vor ihrer Tür. Sie zögerte, bat ihn dann doch hinein. Seine Blicke hetzten durch die Wohnung. Sie erzählte von einem Erlebnis beim Einkaufen. Er fragte nach der Toilette.

Alles, was er sagte war nur darauf ausgerichtet, sich ihrem Körper zu nähern. Sie versuchte, mit ihren Sätzen ein undurchdringliches Netz zwischen ihre Körper zu spinnen, achtete aber darauf, dass es nicht so groß wurde, dass er sich darin verfing. Er unterbrach sie und riss Löcher in das feine Gewebe, die sie sofort mit hastigen Kreuz- und Querverbindungen zugarnte. Er hörte ihr zu, musterte ihren Körper.

Sie sah den Kampf zwischen der Biene und der Wespe. Sie saß in der Sonne und zwischen ihren Beinen stürzten sie kurz hintereinander in den Sand. Die Biene krümmte sich zusammen, als die Wespe sich auf sie setzte, wand sich aus ihrer Umklammerung. Die Wespe biss erneut zu, versuchte, den Kopf vom Rumpf der Biene zu trennen. Fasziniert und erregt schaute sie minutenlang diesem Kampf zu, der schon an anderer Stelle begonnen haben musste, denn die Gegenwehr der Biene bestand nur noch in dem Versuch, ihren Körper so zu drehen, dass die Wespe nicht zum entscheidenden Biss ansetzen konnte. Plötzlich fiel der Kopf der Biene neben ihren in der Sonne leuchtenden gelben Körper und die Wespe flog, darin festgebissen, ein Stück weiter, begann den Kopf zu verspeisen, kehrte zum abgetrennten Körper zurück und entfernte sich mit ihm.

Er setzte sich ungeschickt neben sie, nahm ihr ein Haar vom Pullover, sagte ihr, er denke seit heute Morgen nur noch an sie. Sah auf ihren spitzen, abwehrenden Ellenbogen. Sie stand auf, zeigte ihm ein Bild an der Wand und sagte, dass sie ihm dazu unbedingt etwas erzählen müsse. Er lächelte verkrampft, näherte sich ihr, um über ihre Schulter das Bild zu betrachten. Er zitterte vor Aufregung, begann etwas aus seiner Kindheit zu erzählen. Seine Worte quälten sich über seine Zunge.

Wie lange wird er sich noch hinhalten lassen. Er verkrampft sich immer mehr. Sie sieht, wie er sich auf sie stürzt, sich durch ihren Abwehrkampf in höchste Erregung steigert, um dann vielleicht mit der Niederlage in der Hose fluchtartig die Wohnung zu verlassen.

Er redete und redete und versuchte, auch ihr zuzuhören.

Sie lachte, sagte, dass sie es schön fände, sich außerhalb des Ladens unterhalten zu können, ohne die spitzen Ohren der Kolleginnen oder der Chefin. Als sie die Flasche vom Tisch nahm, stützte sie sich mit der anderen Hand auf seinen Arm, zog sie schnell wieder zurück, stand auf, um eine Schallplatte aufzulegen, bat ihn, den Wein zu öffnen. Er trat hinter sie, legte seine Hand um ihre Hüfte und schaute ihr über die Schulter, kommentierte die Schallplatten und schien erleichtert, dass sie ihn nicht abwehrte. Er drückte sich näher an sie. Seine Hose begann sich zu spannen. Sie sah seine Hand auf ihrer Schulter.

Sei nicht so schnell, flüsterte sie, als die ersten Takte der Musik zu hören waren. Sie stellte sie lauter, löste sich von ihm, drehte sich ein paarmal. Tanzt du auch so gern?

Ja!

Sie schmunzelte, versuchte in Stimmung zu kommen, die Verkrampfung zu lösen. Ich habe ihn hergeholt, sagte sie sich. Jetzt kann ich ihn nicht einfach rausschmeißen. Und sie sah seine Fingernägel auf ihrer nackten Haut, drehte sich, hielt die Arme in die Luft, spreizte die Finger. Könnte sie nicht irgendwo in einer Diskothek mit ihm tanzen, ihn auf die Wange küssen und zum Abschied ihre Telefonnummer mit dem Lippenstift auf den Arm schreiben? Warum hatte sie sich in diese Situation gebracht? Ein langsames Lied begann, und er zog sie an sich, strich mit der Hand über ihren Rücken. Sie spürte seinen Penis hart werden und wich mit dem Unterkörper zurück. Er folgte ihr, drückte mit der flachen Hand gegen ihren Hintern.

Sollen wir nicht noch etwas spazieren gehen?

Jetzt nicht mehr, stöhnte er mit halbgeschlossenen Augen und seine Stimme klang drohend.

Sie hatte das Gefühl, dass es kein Zurück mehr gab.

Nicht hier, lass uns nach nebenan gehen. Sie drückte ihn von sich, ging ins Bad, wusch sich die Hände, putzte die Zähne und sah beim Gurgeln, dass er vor der Tür mit ungeduldigem Blick wartete.

Als er sie wieder umfassen wollte, drehte sie sich langsam aus der beginnenden Umarmung, nahm seinen Kopf von hinten zwischen ihre Hände und raunte ihm ins Ohr:

Unterm Waschbecken liegt eine Nagelbürste. Sie spürte, wie sich sein Körper verkrampfte und schob ihn mit der flachen Hand ins Bad.

Sie zog sich schnell aus und verkroch sich unter die Bettdecke, sah ihm beim Ausziehen zu. Es schien ihm unangenehm zu sein. Als er sich neben sie legte, knipste sie das Licht aus. Er rührte sich nicht. Langsam gewöhnte sie sich an die Dunkelheit, sah im Schein der Straßenbeleuchtung in sein fragendes Gesicht, strich ihm mit dem Handrücken über seine Brust bis zum Bauch. Er zuckte zusammen, rückte an sie heran, berührte sie mit seinem steifen Glied. Schnell zog sie ihre Hand zurück.

Weißt du noch, als du das erste Mal zum Haareschneiden gekommen bist? Sie rückte ein bisschen zurück und sah ihm in die Augen.

Ja, aber da können wir später drüber reden. Er zog sie mit beiden Händen zu sich, drückte sein Bein zwischen ihre Schenkel und legte sich auf sie.

Warte noch, warte noch!

Ich kann nicht mehr warten, stöhnte er und drang in sie ein.

Tu mir nicht weh, bat sie, ich helf dir.

Er stieß zwei- dreimal zu, entleerte sich in ihr, unterdrückte ein Stöhnen. Sie bewegte sich nicht, und er blieb aufgestützt auf den Unterarmen auf ihr liegen, blickte zum Fenster.

Du bist mir zu schwer. Sie drehte ihn von sich herunter.

Es tut mir leid, stammelte er und blickte an die Decke, an der das Laub der vor dem Fenster stehenden Bäume sich im Wind bewegte.

Nicht so schlimm. Ich möchte, dass du mir etwas über dich erzählst.

Später einmal, sagte er, stand ruckartig auf und zog sich an.

Als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, ging sie ins Bad, um zu duschen. Wie alt war sie, als sie die Dusche bekamen? Ein unbeobachteter Raum, endlich einmal in Ruhe, nackt und allein sein. Jahrelang hatte sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester in der Badewanne gesessen, nie völlig nackt, immer mit einem Schlüpfer bekleidet. Dieses Gebot der Mutter brachte sie heute noch in Wut.

Konnte sie die Nacktheit ihrer Kinder nicht ertragen? Gegrüßet seist du Jungfrau Maria, Mutter des Schmerzes, bitte für uns, stand unter dem Marienbildchen am Weg zum Frauenstift. Sie legte sich hinter dem Marienbildchen ins Gras, träumte halb im Schatten eines Kirschbaumes.

Mit dem Bauch lag sie in der Sonne, zog ihr Kleid hoch und fuhr mit einem Gänseblümchen an ihrem Schenkel auf und nieder, streichelte sich auf dem Bauch, lüpfte mit der anderen Hand den Schlüpfer. Ihre Wangen glühten. Sie deckte das Kleid über die Hände und blickte sich nach allen Seiten um. Die Jungfrau Maria stand mit dem Rücken zu ihr. Sie kitzelte sich tiefer, öffnete den Mund, sah in das grüne Dach, durch das die Sonne blinzelte, sah die kleinen noch grünen Früchte, die bald reif würden, in den offenen Mündern der Kinder zergingen und sie rot färbten oder als Ohrringe unter ihren Haaren hingen. Es wurde wärmer und wärmer, ein unbekanntes, aufregendes Gefühl strömte durch ihren Körper, floss wie kleine Wellen durch ihre Haut. Sie hörte Stimmen, sah zwei Fahrradfahrer näher kommen, die sich nach ihr umsahen. Sie roch an dem Gänseblümchen, schmeckte die Blüten, steckte es in die Tasche und presste es zu Hause im Gebetbuch. Allein unter der Dusche konnte sie ihren Körper entdecken. Die Brause war das Gänseblümchen, der warme Strahl ließ ihren Körper glühen und verhalf ihr zu Gefühlen, von denen sie nichts geahnt hatte, die sie plötzlich in ihre Gewalt nahmen und mit sich fortrissen, dass sie glaubte zu zerspringen, und nur mit großer Mühe unterdrückte sie einen noch lauteren Ausdruck ihrer Hemmungslosigkeit. Das Marienbildchen wird jetzt mit dickem Glas geschützt. Wer hatte das splitterfeste Glas beworfen? Kinder, Jugendliche? Oder kommen nachts diejenigen, die sich stellvertretend für alle Kindheitsentbehrungen an der Mutter Gottes rächen wollen?

Er muss aus der Nähe Hamburgs kommen. Das war in ihrer Kindheit die Diaspora. Für diese armen ungläubigen Menschen hatte sie gebetet, damit auch sie zum richtigen Gott finden würden. Ihr erster Freund war evangelisch. Wochenlang kam der Freund. Die Mutter war freundlich zu ihm, mochte ihn wegen seiner aufgeschlossenen Art. Er half abends mit im Laden. Man sah es ihm nicht an, dass er evangelisch war. Sehr lange konnte er es verbergen. Bis die Mutter nach dem Beruf seines Vaters fragte.

Ferne Berührung

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