Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 14

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Es folgte eine weiße Fläche. Sie war gespannt, ob er noch ein Magazin einlegte. Beim letzten Mal hatte er als Abschluss den mongoloiden Jungen gezeigt, der unten im Haus wohnt. Neben ihm stand der große, zottige Hund, dem er die Arme um den Körper schlang. Er lag halb auf ihm und grinste glücklich. Das Bild verfolgte sie. Es drang in ihre Träume, verwandelte sich in furchtbare Bilder und verdichtete sich in eine Handlung, die sie am nächsten Morgen etwas ausschmückte und der Kundin mit dem breiten Dialekt erzählte, als diese gerade wieder anhob, Marleen mit einer ihren Bettgeschichten zu belästigen. Sie wollte diese Frau ein für alle Mal fertig machen, mundtot, dass sie ihr nie wieder eine ihrer ekelhaften Bettgeschichten erzählen würde. Sie sollte schreien vor Abscheu. Ihretwegen konnte ihre Chefin sie für verrückt erklären, sie rausschmeißen. Ihr wäre es nur recht. Sie konnte sowieso nicht mehr. Ihre Rückenschmerzen nahmen täglich zu. Und jetzt spürte sie auch noch ihre Gelenke. Es musste endgültig Schluss sein. Je früher desto besser.

Nein, nein, heute muss ich Ihnen etwas erzählen, unterbrach Marleen die Kundin. Sie können sich nicht vorstellen, was ich in der letzten Zeit durchgemacht habe. Das Haus, in dem ich wohnte, habe ich fluchtartig verlassen und zwar wegen eines Kindes, das in diesem Haus gelebt hat.

Es hieß Konrad Süsifuß und war für sein Alter viel zu groß geraten. In diesem Punkt waren sich alle Bewohner einig. Außer Konrad wohnten keine Kinder im Haus. Nur Hunde, und über die freute sich Konrad.

Ich habe es von Anfang an strikt abgelehnt, mich um Konrad Süsifuß zu kümmern. Dieses Kind war hässlich und abstoßend. Die Vorfälle, die zu seinem Aussehen geführt haben, hat Konrad alle selbst verschuldet.

Wegen der Hänseleien der Nachbarn, die mich dazu bringen sollten, meinen Teil zur Entwicklung von Konrad Süsifuß beizutragen, zog ich nicht aus. Auch nicht wegen der Hunde. Ganz bestimmt nicht, auch wenn ich selbst nie einen Hund besaß, so mochte ich sie doch alle.

Der größte Hund hieß Hölderlin und hauste ohne Heizung oben unter dem Dach. Hölderlin hatte einen leicht verdrehten Blick und sah mit seinen hängenden rotunterlaufenen Augen sehr traurig aus. Die Augen waren fast blutrot, nachdem Konrad, auf dem Weg in die Wohnung, von Hölderlins Rücken gepurzelt war und die Treppen einer ganzen Etage hinunterfiel. Niemand dachte, dass Konrad diesen Sturz überleben würde. Aber er rappelte sich wieder auf. Nur laufen konnte er nicht mehr, denn er war bis zu den Hüften gelähmt. Zum Glück waren genug Hunde im Haus, die ihn tragen konnten, und Konrad Süsifuß lachte bald wieder sein blödes, bellendes Lachen, für das ich ihn hätte umbringen können.

In der dritten Etage, direkt unter dem Dachgeschoss, lebte ein Dackel. Er war als erster Hund in unser Haus eingezogen. Helmut, so hieß er, war schon sehr alt und grau und sehr dick. Hatte ein zotteliges Fell mit kleinen Löckchen und konnte kaum noch laufen. Früher war er ein wildes Tier, freute sich, wenn er einen Menschen sah und sprang jeden an, der ins Haus kam. Nach einigen Jahren wurde er sehr aggressiv, besonders Kindern gegenüber, aber diese Zeit hat Konrad Süsifuß glücklicherweise nicht mehr erlebt. Helmut war faul geworden. Lag jetzt am liebsten neben dem Ofen und trottete nur noch einmal täglich hinunter auf die Straße. Mehr aus Gewohnheit als mit dem Ziel, seine Geschäfte zu erledigen. Helmut versagten schon seit längerem die Schließmuskeln. Wenn er sich die Treppe hoch zur Wohnung schleppte, entleerte er sich vor Anstrengung und hinterließ eine übelriechende braungelbe Spur im Treppenhaus. Konrad Süsifuß wischte sie, wenn er sich Helmut folgend am Treppengeländer hochzog, mit seinen schlaffen Beinen wieder auf. Seitdem wurde Konrad von allen Bewohnern als nützlicher Hausgenosse angesehen. Nur ich ekelte mich vor ihm. Wenn ich die Tür öffnete, sah Konrad mich mit seinem blöden, stolzen Blick stumpf an und grinste.

Aber Marleen, was für Töne schlagen Sie heute an, sagte die Kundin mit zusammengezogenen Augenbrauen. So kenne ich Sie wirklich nicht.

Vielleicht bin ich hart und unsensibel, erwiderte Marleen ernst, aber bevor Sie mich verurteilen, sollten Sie sich genau überlegen, ob Sie in diesem Haus hätten leben können. Mit diesem Kind. Ich empfand es jedenfalls als unwürdig. Vor allem auch wegen des Skandals vor dem Haus. Konrad zog sich die Hose aus, entblößte seine Scham und demonstrierte in aller Öffentlichkeit seine früherwachte Männlichkeit.

Jetzt hören Sie auf, Marleen, Sie wollen mich ärgern. Das gibt es doch nicht, unterbrach sie die Kundin und hielt sich die Hand vor den Mund.

Es passierte nicht nur einmal, versicherte Marleen. Er tat es immer wieder. Niemand konnte ihn daran hindern. Unser Haus wurde zum Gespött der ganzen Stadt und zog Rudel von perversen Gestalten an, die sich an dem lauten Gejuchze von Konrad Süsifuß ergötzten. Wenn die rotbeschleifte Pinscherhündin aus dem zweiten Stock seinen Auswurf gierig aufschleckte und sich danach wie wahnsinnig geworden im Kreis drehte und quiekend kläffte, dann kreischte Konrad schrill schmeckt gut – schmeckt gut.

Nun hören Sie auf, Marleen, wehrte sich die Kundin mit schriller Stimme, sonst sag ichs der Chefin. Sie wollen mich ärgern. Das ist ja widerlich, was Sie da erzählen.

Muss ich helfen, sang die Chefin mit einem Lächeln aus dem Hintergrund.

Es war abscheulich, sagte Marleen, ohne sich um den Einwand der Kundin und die Frage der Chefin zu kümmern. Was mich vor allem so schockierte, fuhr sie etwas flüsternd fort, dass sich die schöne Hündin so hatte gehen lassen. Das hatte ich ihr nicht zugetraut. Sie war gepflegt und trug hübsche Kleidung, besonders das rotgestreifte Pullöverchen gefiel mir so gut. Alle waren von ihr entzückt und streichelten ihren wohlgeformten Körper.

Der Hund aus dem Erdgeschoss, ein großer hagerer Windhund namens Heiner, brachte das Fass zum Überlaufen. Er war noch sehr jung und verspielt. Eines Morgens kratzte er Konrad Süsifuß das rechte Auge aus. Ausgerechnet ich musste in diesem Moment die Tür öffnen und miterleben, wie er mit dem Auge spielte. Er titschte es mir mit seiner großen Pfote vor die Füße, und es sah mich vorwurfsvoll an. Ich schrie. Heiner reagierte ganz verstört und stürzte sich auf Konrad. Dieses Mal aber nicht im Spaß. Es wurde blutiger Ernst. Er biss zu. Zuerst in den Bauch. Die Eingeweide quollen hervor, und dann in den Kopf. Ich sah das erste Mal in meinem Leben Gehirn. Heute kann ich sagen, dass es nicht uninteressant war, das Innenleben eines Menschen so vor mir liegen zu haben, auch wenn ich im ersten Moment entsetzt war.

Hören Sie endlich auf, stieß die Kundin hervor. Hören Sie auf, oder ich fange an zu schreien.

Unterbrechen Sie mich nicht ständig, fuhr Marleen sie an, ich muss mir von Ihnen auch immer alles anhören, was Sie erlebt haben, auch wenn es mich ekelt. Heute bin ich dran.

Heiner hatte zweimal zugebissen. Ganz schnell. Ebenso schnell beruhigte er sich wieder, so als wäre nichts geschehen. Als hätte er die Raserei nur vorgetäuscht, um zielgerichtet zweimal zuzupacken. Gleich nach seiner Tat sah er wieder ganz friedlich aus und leckte Konrad, dessen Auge wie abwesend zur Decke blickte, die offenen Wunden. Nach kurzer Zeit war Konrads Körper wieder geschlossen. Ich konnte es kaum glauben. Heiners Speichel hatte besser gewirkt als jede Salbe.

Für mich jedoch blieben die Wunden offen. Es war, als würde ich mit einem stinkenden Kadaver in einem Haus wohnen. Deshalb zog ich aus.

Das ist nicht mehr meine Marleen, sagte die Kundin entsetzt. Du kleines Luder willst mich fertigmachen. Du weißt genau, wie sensibel ich bin. Das war gemein. Bestimmt träum ich heute Nacht davon. Sag mir, dass das alles erstunken und erlogen ist.

Das habe ich doch von Ihnen auch noch nie verlangt, konterte Marleen.

Die Kundin beschwerte sich lautstark bei der Chefin und verließ empört den Salon. Und die Chefin drohte Marleen an, dass dies Folgen haben würde.

Diese Geschichte würde er ihr sicherlich auch nicht zutrauen. Sie erkannte sich ja selbst nicht mehr. Sie wurde süchtig danach, die Grenzen immer weiter zu überschreiten, bis endlich etwas passierte. Ihr geschäftsschädigendes Verhalten könne sie sich nicht länger bieten lassen, schrie die Chefin sie an. Noch so einen Vorfall und sie würde sie fristlos entlassen, auch wenn sie schon so lange bei ihr wäre.

Den mongoloiden Jungen, die Erinnerungen an ihren alten Hund und an den Bullen auf dem Hof der Freundin hatte sie zu einer Geschichte vermischt, die sich verselbständigte und sie beim Erzählen immer weiter trieb.

Sie hörte, wie die Kuh schrie, wenn sie auf den Hof gefahren wurde. Der Bulle stand neben dem Kuhstall. Die Mutter der Freundin kam und brachte alle Kinder in ein Zimmer, das sie nicht verlassen durften. Von Mal zu Mal wurde die Neugier der Kinder größer. Als wieder eine Kuh auf den Hof gefahren wurde, versteckten sie sich auf dem Heuboden. Dort hatte gerade eine Katze ihre Jungen bekommen. Sie wussten, dass sie es geheim halten mussten. Sonst wäre am nächsten Morgen nur noch ein junges Kätzchen übrig, die anderen wären aus unerklärlichen Gründen nachts gestorben. Draußen wurden Stimmen laut. Sie robbten zu ihrem Aussichtsplatz. Die Kuh wurde ins Gatter getrieben. Jetzt kam der Vater der Freundin mit dem Bullen, führte ihn an einer Stange, die durch den Nasenring des Tieres geführt war. Als der Bulle die Kuh schreien hörte, konnte der Mann das riesige Tier kaum noch halten. Es drohte ihn niederzutrampeln. Die letzten Meter führte nicht mehr der Vater den Bullen, sondern der Bulle schob den Vater vor sich her und schnaubte und röchelte laut. Der Vater schrie, man solle das Gatter schnell öffnen. Der Bulle wurde immer schneller, der Vater riss die Stange aus dem Nasenring, das Tier brüllte auf und rannte los. Jetzt war den Kindern die Sicht versperrt. Sie robbten an eine andere Stelle. Von dort aus sahen sie, wie der Bulle gerade von hinten auf die Kuh sprang, wieder herunterrutschte und noch einmal wieder aufsprang. Die Kuh brüllte so laut, dass Marleen der Schweiß ausbrach. Sie robbte ins Heu und sah den anderen staunenden Kindern am Guckloch zu.

Das Schlachten der Schweine wurde auf dem Bauernhof für die Kinder ebenso zum Geheimnis erklärt wie das Decken der Kühe. Aber auch dort fanden sie Möglichkeiten, das Geheimnis zu lüften. Sie hörten das Quieken des Schweines, sein Aufbäumen gegen den nahen Tod. Sahen, wie der Schlachter das lange Messer in den Hals des Tieres rammte, es drehte, damit das Blut besser in die große Schüssel fließen konnte. Als der Geruch des warmen Blutes herüberwehte, verkrampfte sich Marleens Magen, und sie sah weg. Aber die Neugier war größer. Die Männer rollten das Schwein auf eine Leiter und banden die Beine daran fest. Dann zogen sie die Leiter an einer Seite hoch, bis sie mit dem Schwein an der Wand stand. Der Schlachter trennte den Kopf ab. Ein anderes Mal, als er merkte, dass heimliche Beobachter hinter der Hauswand standen, warf er mit seinen blutverschmierten Händen den Kindern die Schweinsaugen hinterher und lachte schallend dabei. Schreiend liefen sie davon.

Ferne Berührung

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