Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 13

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Er drückte auf den Knopf: rechts im Bild der Meßberghof, in der Mitte die breite Ost-West-Straße, im Hintergrund die Verlagshäuser und auf der linken Seite die alten Schuppen des Hamburger Hafens. Konnte sie ahnen, dass er dort seine kaufmännische Lehre begonnen hatte? Oder was soll sie mit dem Berufsschulgebäude am Holstenwall anfangen, wenn sie nicht gleichzeitig die fünfhundert Meter weiter beginnende Reeperbahn sah, den Hamburger Michel um die Ecke, weiter unten die Landungsbrücken, den Hamburger Dom. Konnte sie ahnen, dass er aus der kleinen Siedlung am Stadtrand mit fünfzehn Jahren in die Welt geworfen wurde. Dass die Fahrt in ein anziehendes Labyrinth begann, mit grellerleuchteten Gängen und dunklen Nischen, die er ängstlich begann auszuleuchten, magnetisch angezogen von langsam erwachenden inneren Polen, von denen er Monate zuvor nur eine diffuse Ahnung gehabt hatte. In diese kragenlose, glitzernde Welt lief er in der neuen Kleiderordnung des Büros mit Krawatte, Sakko und engen Schuhen. Er fiel in zwei neue Welten, die ihn zwangen zu wachsen, damit sie ihn nicht zerquetschten. Eine Collage aus diesen Eindrücken würde er ihr in der nächsten Woche präsentieren und sie gleich noch mit Fotos aus ihrem Friseursalon überraschen.

Wenn er das Backsteingebäude mit dem kleinen Turm sah, roch er sogleich auch den frischen Bohnerwachs in den Fluren, hörte das leichte Quietschen des Bodenbelags, wenn man mit Gummisohlen von der Drehtür am Eingang bis zum Paternoster ging, der mit einem leichten Poltern aus dem Keller kam. In den ersten Tagen stieg er vorsichtig und ängstlich hinein, wartete, bis der Boden des Paternosters und der Flur eine Ebene bildeten, später sprang er auch dann noch zu, wenn die Kabine bereits weit oben war. In den ersten Wochen machte er viele Botengänge. Eilige Schiffspapiere mussten zur Reederei oder zum Makler gebracht werden. Viele hatten ihre Büros in der Nähe der Alster. Dort konnte er tief durchatmen, setzte sich in ein Café auf den Alsterarkaden und beobachtete die Schwäne. Mit ihnen ließ er sich erhobenen Kopfes in die noch breitere Außenalster treiben, vorbei an weißgestrichenen Fassaden großer Bürgerhäuser. Und entlang der angetäuten Alsterdampfer, deren Masten abends bunt beleuchtet waren, wenn er mit dem Zug zurückfuhr in die kleine Siedlung.

Ein- und Ausfuhrgenehmigungen von Waren mussten vom Zollamt am Hafen abgestempelt werden. Auf dem Weg dorthin, vorbei an den alten Lagerschuppen, roch es nach fremden Ländern, nach Gewürzen, Kaffee und faulem Wasser. Die kleinen, noch unbeladenen Schuten schaukelten im Fleet unter den Ladekrähnen, die an den Giebeln der Backsteinbauten hingen. Jeder neue Auftrag war eine Mutprobe für Trautmar, das Gelingen von fremden Mächten abhängig, die ihm freundlich gesinnt waren oder ihn abweisend empfingen. Sein Gesicht glich in den ersten Wochen einem weißroten Farbenspiel und die Angstfaust öffnete und schloss sich mit großer Schnelligkeit. Und fast immer trieb es ihn kurze Zeit später auf die Toilette, wo ihn einer der Lehrlinge aus dem dritten Lehrjahr rauchend empfing und ihn mit seinen Anfangserfahrungen tröstete. Er war nicht allein. Und wenn sein Vorgesetzter, gerade selbst vom Chef gelobt, ihm liebevoll über die Haare strich und sagte:

Na, Schieter, holst du mir schnell ein paar Zigaretten, du weißt ja Bescheid, dann stieg in ihm eine große Woge des Glücks empor, die ihn bis zum nächsten Morgen trug. Oder war es doch nur ein unbestimmtes Kribbeln, das auch der Fahrstuhl in dem neuerbauten Hamburg-Süd-Haus mit seiner grünweißen Glasfassade hervorrief, wenn er bei leise rieselnder Musik in atemberaubendem Tempo in den dreizehnten Stock fuhr? Oben hatte er einen herrlichen Blick über den Hafen. Vom Hamburg-Süd-Haus ging er zurück zum Meßberghof, die Straße hinunter, vorbei an den Verlagshäusern von Spiegel, ZEIT und BILD. Kurze Zeit später wurde BILD das Ziel der Demonstranten, die versuchten, die Auslieferung des bluttriefenden Lügenblattes mit Sitzblockaden zu verhindern, und sich mit Polizisten schlugen, die die Pressefreiheit verteidigen sollten. Der Abteilungsleiter hatte die Bild-Zeitung jeden Morgen in seiner Frühstückspause über seinen ganzen Schreibtisch ausgebreitet, las den Kollegen butterbrotkauend vor, was er interessant fand und kommentierte es lustig oder giftig. Es war ein Bild der Ruhe, und bei Bemerkungen zu den Fotos mit den halbbekleideten Frauen bezog er oft unseren Lütten mit ein, der zur Freude aller die Farbe wechselte, aber trotz des Gelächters der Kollegen fühlte, dass er dazugehörte. Den Spiegel und Die Zeit hatte Trautmar noch nie gelesen. Aber er wusste Bescheid, kannte die Verlagschefs vom Golfplatz. Der eine fuhr unter den bewundernden Blicken der Caddys mit seinem dunkelgrünen Jaguar vor, war sportlich und elegant gekleidet und mit seinen streichholzlangen strenggescheitelten Haaren und dem akkurat geschnittenen Schnäuzer unnahbar. Der andere in seinem schon älteren, beigen Mercedes fuhr langsam die Anhöhe hinauf, stieg gemächlich aus, sah sich um, setzte seine Baskenmütze auf, schien die Ruhe vom ersten Augenblick an zu genießen. Und einmal, als Trautmar als einziger Caddy auf der Bank saß, kam er auf ihn zu und fragte:

Bub, möchtest du mit mir gehen?

Er spielte allein, ließ sich viel Zeit, sah in die Baumwipfel, hörte auf das Singen der Vögel. Und zusammen beobachteten sie einen Buntspecht, der mit einem dumpfen tok, tok, tok einen hohlen Baum bearbeitete. Trautmar hatte den Specht entdeckt und dem Verleger errötend gezeigt. Und als der freundliche Mann ihn fragte, ob er sich für die Vogelwelt interessiere, erzählte Trautmar ihm, dass er manchmal sonntags ganz früh morgens mit Fernglas und Bestimmungsbuch allein in den Wald ginge, um Vögel zu beobachten. Und die leuchtenden Augen unter der Baskenmütze schwemmten seine Hemmungen dem Bonzen gegenüber fort und mit vor Rührung feuchten Augen, die ihm peinlich waren, blickte Trautmar an ihm vorbei und erzählte von Buchfinken, Dompfaffen, Baumläufern, Kleibern, Zilpzalps, Singdrosseln, Nachtigallen und von den rotgelb leuchtenden Köpfchen der in den taufeuchten Tannen tanzenden Hänflingen, und den in der Morgensonne glitzernden Spinnengeweben zwischen den Kiefernzweigen. Der Verleger fragte ihn nach der Schule, der Arbeit seiner Eltern und nach seinen beruflichen Plänen. Stolz erzählte Trautmar, dass er vor ein paar Tagen zusammen mit seinen Eltern einen Lehrvertrag als Bankkaufmann bei der Kreissparkasse im Ort abgeschlossen habe. Früher wollte er immer Friseur werden. Als seine Mutter merkte, dass es nicht einer der vielen Kinderwünsche, die schnell vergessen sind, war, versuchte sie, es ihm auszureden. Jeden Tag den Leuten auf dem Kopf rumfummeln und dann noch für so wenig Geld.

Bevor die Mutter in die Fabrik ging, strickte sie in Heimarbeit mit der Strickmaschine Pullover, Westen und Pullunder. Die Freundin der Mutter kam abends, und zusammen strickten sie fast die ganze Nacht durch und tranken dabei Kaffee. Der Mann der Freundin fuhr am Wochenende nebenbei Kohlen aus. Einmal durfte Trautmar mitfahren. Jetzt spielte er es auf der Sofalehne und brummte mit dem kleinen dreirädrigen Lieferwagen durch die Siedlung, schleppte die schweren Kohlensäcke, kassierte das Geld und fuhr zur nächsten Kundin.

Der Vater ging mit ihm zum Friseur. Die eine Mark, die der Haarschnitt kosten würde, erbat der Friseur direkt als sie in den Laden kamen. Er steckte sie in den Automaten und der Fernsehapparat konnte wieder eingestellt werden. So war es in den letzten Monaten, in denen es den Friseurladen in der Siedlung noch gab. Um seine achtköpfige Familie zu ernähren, musste der Friseur kurze Zeit später auch mit den anderen in die Fabrik fahren.

Er könnte der Nachbarin erzählen, wie oft er als Kind Friseur gespielt hat. Oder als er sich eine Igelfrisur hat schneiden lassen, ohne dass die Mutter es wusste. Abends stand sie weinend vor seinem Bett und sagte:

Oh nein, oh nein. Wie ein Sträfling. Wie ein Sträflingskind siehst du aus.

Er könnte sie fragen, ob sie ihm die Haare schneiden wolle. Oder sollte er in den Laden gehen, in dem sie arbeitete, sagen, dass er von ihr bedient werden möchte. Er könnte ihr zusehen, wie sie ihm die Haare wäscht und spüren, ob sie grob oder sanft seine Kopfhaut massiert. Aber ohne vorher irgendein Wort mit ihr gewechselt zu haben, war es unmöglich, einfach in den Friseursalon hineinzuplatzen. Zu sagen, so, da bin. Als wäre nichts gewesen. Als wüssten sie nichts voneinander.

Ferne Berührung

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